Benutzer:Emilia Ragems/Über deutsche Rechtschreibung

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Über deutsche Rechtschreibung[1] lautet der Titel eines 1855 veröffentlichten Aufsatzes von Rudolf von Raumer, der später erheblichen Anteil an der Orthographiediskussion des 19. Jahrhunderts hat.

Der Aufsatz war in der Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien in Reaktion auf einen gleichnamigen Artikel Weinholds erschienen, der drei Jahre zuvor in eben dieser Zeitschrift erschienen war. In diesem Artikel hatte Weinhold Kritik an Adelung, Heyse und Becker geübt, woraufhin sich Raumer dazu genötigt sah, eine entsprechende Entgegnung zu verfassen. Trotzdem sind die Bestrebungen Raumers nicht als gezielte Gegenbewegung zur – von Weinhold vertretenen – historischen Richtung zu sehen. Seine Ziele waren eher ausgleichender und pragmatischer Natur: „Auch eine minder gute Orthographie, wofern nur ganz Deutschland darin übereinstimmt, ist einer vollkommeneren vorzuziehen.“[2] Hieraus kann man seine Prioritäten ersehen: Er will die Schreibung nicht zur Perfektion reformieren, sondern eine Einheitlichkeit schaffen, die nach Möglichkeit für jeden einzelnen leicht nachvollziehbar ist.

Phonetische Richtung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Rahmen der Orthographie-Diskussionen im 19. Jahrhundert treten unterschiedlichste Richtungen auf. Raumers Forderungen sind der gemäßigt phonetischen Richtung zuzuordnen, wobei diese von der radikal phonetischen Richtung abzugrenzen ist.

Radikal phonetische Richtung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Gegensatz zur gemäßigten phonetischen Richtung sei kurz die radikal phonetische Richtung dargestellt.

Wichtigste Anhänger der radikal phonetischen Richtung sind Friedrich Wilhelm Fricke und Georg Michaelis. Ihr Grundsatz lautete: „Schreibe, wie du richtig (dialektfrei) sprichst, und zwar für jeden Laut stets ein und dasselbe Zeichen.“[3] Daran kann man schon den Kontrast zur gemäßigt phonetischen Richtung deutlich sehen, nämlich einen stark ausgeprägten Reformwillen. Fricke gründet 1876 den „Algemeine[n] ferein für deutŝe rehtŝreibung“ und die Zeitschrift „Reform“. Sein spezielles Anliegen war es, Lautung und Schreibung im synchronischen Sinne unmittelbar an einander anzugleichen. Die zentralen Forderungen sind in erster Linie die folgenden:[4]

  • Beziehungen zwischen Phonemen und Graphemen
‹k›, ‹c›, ‹ck›, ‹q(u)› > ‹k›
‹f›, ‹v›, ‹ph› > ‹f›
‹ch› > ‹h› und ‹sch› > ‹ŝ›
  • Tilgung aller Dehnungszeichen zu Gunsten des Dehnungsstriches
Beere > bēre, Mohr > mōr
  • keine Kennzeichnung von Vokalkürze (konsonantische Doppelgrapheme)
satt > sat
  • Majuskelgebrauch nur für Satzanfang und Eigennamen

Es nahmen zwar Vertreter dieser Richtung an der I. Orthographischen Konferenz teil, haben hier aber kaum Einfluss.

Gemäßigt phonetische Richtung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Raumer selbst also vertritt in seinem Aufsatz die gemäßigt phonetische Richtung. Hierin versuchte er die beiden Grundsätze „Schreib wie du sprichst“ und „Sprich wie du schreibst“ zu vereinen. Diese Bemühungen münden in der Formulierung: „Bring deine Schrift und deine Aussprache in Uebereinstimmung“[5]. Raumer erstrebte eine Stabilisierung der Standardsprache, indem er synchrone (Schrifttradition) und diachrone Aspekte (Stammprinzip) in seine Überlegungen mit einbezog.[6] Kurz zusammengefasst waren seine Ziele die folgenden: Eine einheitliche Schreibung auf Basis der Schrifttradition, wobei möglichst behutsam gleiche Lautungen auch in ihrer Schreibung vereinheitlicht (z.B. Dehnungszeichen) und die von ihrer Lautung differierenden Schreibungen an die Aussprache angeglichen werden sollten (‹dt› > ‹t› und ‹c› > ‹k›, ‹z›).[7]

Als weitere Vertreter der gemäßigt phonetischen Richtung sind Wilhelm Wilmanns und Konrad Duden zu nennen. Ihre Werke sorgten für die Verbreitung der Raumer’schen Linie, so zum Beispiel das Berliner Regelbuch von 1871, an dem Wilmanns mitgewirkt hatte, und Dudens Die deutsche Rechtschreibung von 1872. Beide Bücher beinhalteten sowohl theoretische Grundsätze als auch Regelwerke und Wörterverzeichnisse.[8] Außerdem vertritt noch Daniel Sanders diese Richtung. Unter anderem veröffentlicht er zwischen 1859 und 1885 ein Wörterbuch der deutschen Sprache, mit ebenfalls großer Breitenwirkung. Sein Grundsatz verdeutlicht seine – typisch gemäßigt phonetische und damit – alles andere als reformerische Gesinnung: „Im Ganzen und Großen steht der Schreibgebrauch für ganz Deutschland bereits fest.“[9]

Raumers zwölf zentrale Anliegen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am Ende seines Artikels Über die deutsche Rechtschreibung fasst Raumer seinen Standpunkt in zwölf zentralen Punkten zusammen[10]:

  1. Es bestehe eine in den meisten Punkten übereinstimmende Rechtschreibung und zunächst gälte es, sich an diese zu halten
  2. Die Rechtschreibung soll als Maßstab gelten für die Beurteilung dessen, was als richtige Aussprache gilt.
  3. Die deutsche Rechtschreibung sei allerdings noch zu keinem vollständigen Abschluss gelangt und habe außerdem ihre Prinzipien nicht konsequent durchgeführt. Ersteres mache weitere Feststellungen notwendig, zweiteres wecke den Wunsch nach entsprechenden Änderungen.
  4. Die bereits großteils vorhandene Übereinstimmung in der Rechtschreibung solle nicht wieder zerstört werden. Eine minder gute Orthographie, wenn sie eine für ganz Deutschland einheitliche ist, sei einer vollkommeneren vorzuziehen.
  5. Alle neuen Festsetzungen haben sich möglichst dem Vorhandenen anzuschließen. Man müsse jedenfalls maßvoll und behutsam vorgehen.
  6. Im Sinne der Fortsetzung der bisherigen Orthographie sei der phonetische Grundsatz anzuwenden: „Bring deine Schrift und Aussprache möglichst in Übereinstimmung.“
  7. Historische Unterscheidungen, die in gebildeter Rede nicht mehr gesprochen werden sind zurückzuweisen. Hier verweist Raumer besonders bezüglich der s-Schreibung auf Heyses Schulgrammatik.
  8. Die Änderungen der herkömmlichen Schreibweise teilen sich nach zwei Klassen: Solche, die die gleiche Lautung durch andere Zeichen ausdrücken und solche, die ausgesprochen den bisher geschriebenen Laut verändern.
  9. Substantiva sind groß zu schreiben. Adverbia und Pronomina klein. Für die übrigen Wörter solle die am leichtesten erlernbare Variante gewählt werden.
  10. Die Unterscheidung der langen und kurzen Vokale ist beizubehalten. Allerdings sieht Raumer die bisherige Art der Bezeichnung als unbeholfen an. Er strebt eine Vereinfachung in dem Sinne an, dass nach langem Vokal ein einfacher, nach kurzem ein doppelter Konsonant zu stehen habe.
  11. Im Bezug auf die bisherige Kennzeichnung der Vokallänge sei das ‹th› weitestgehend zu tilgen.
  12. Schwankende Fälle sind nach dem Übergewicht der Analogie zu entscheiden.

Fortwirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Vertreter des Unterrichtswesens der deutschen Länder auf einer Tagung 1872 den Zustand der Orthographieregelung an den Schulen als unhaltbar charakterisieren, beauftragt der preußische Unterrichtsminister Falk gemäß den Vorschlägen dieser Tagung Rudolf von Raumer mit dem Entwurf eines Regelwerkes für die deutsche Orthographie, die als Vorlage für eine Konferenz genutzt werden und zur Ausarbeitung einer einheitlichen Orthographie dienen sollte.[11] Sein vorgelegter Entwurf eines orthographischen Regelwerks samt Wörterverzeichnis und dazugehörigen Begründungen hält sich weitestgehend an die Grundsätze seines Artikels Über deutsche Rechtschreibung, nimmt aber auch Gedanken aus dem Berliner Regelbuch und den Arbeiten Dudens auf.[12]

An der hieraus entstehenden I. Orthographischen Konferenz nehmen Raumer, Wilmanns und Duden sowie Vertreter der historischen und der radikal phonetischen Richtung, der Schulbehörden und des Druckereigewerbes teil. Seinem Regelwerk nebst Wörterverzeichnis legte er eine zusätzliche Schrift bei, die für Probleme sorgte: Begründung der Schrift: Regeln und Wörterverzeichnis für die deutsche Orthographie. Thema war hier vor allem eine weitgehende Einschränkung der Dehnungszeichen, womit er sein eigenes Postulat durchbrach, die Schreibtraditionen zu wahren.[13] Damit blieb diese Konferenz erfolglos.

Trotz der gescheiterten Regelung einer einheitlichen Orthographie in der I. Orthographischen Konferenz lehnten sich die Schulorthographien, die zwischen 1879 und 1884 in den einzelnen deutschen Ländern herausgegeben wurden, oftmals an Raumers Vorlage an.[14] Rudolf von Raumer verstarb im Jahr 1876[15], erlebte also die II. Orthographische Konferenz 1901 nicht mehr, wenngleich Duden und Wilmanns an ihr teilnehmen und seine zentralen Ideen weiter vertreten konnten.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Primärliteratur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Rudolf von Raumer: Über deutsche Rechtschreibung. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. Band 6. Heft I. Hölder, Wien 1855, S. 1–37.
  • Karl Weinhold: Ueber deutsche Rechtschreibung. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. Band 3. Heft II. Hölder, Wien 1852, S. 93–128.

Sekundärliteratur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Horst Grimm und Leo Besser-Walzel: Die Corporationen. Frankfurt am Main 1986, S. 350
  • Christoph Lohff: Zur Herausbildung einer einheitlichen deutschen Orthographie zwischen 1876 und 1901. In: Dieter Nerius und Jürgen Scharnhorst: Theoretische Probleme der deutschen Orthographie. Akademie-Verlag, Berlin 1980, S. 306–329.
  • Dieter Nerius (Hrsg.): Duden. Deutsche Orthographie. 3. Auflage, Dudenverlag, Mannheim [u.a.] 2000.
  • Dieter Nerius: Untersuchungen zu einer Reform der deutschen Orthographie. Akademie-Verlag, Berlin 1975.
  • Hermann Scheuringer und Christian Stang: Die deutsche Rechtschreibung. Verlag für Literatur- und Sprachwissenschaft, Wien 2004.
  • Michael Schlaefer: Quellen zur Geschichte der deutschen Orthographie im 19. Jahrhundert. Winter, Heidelberg 1984.

Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Google-Digitalisat der Zeitschrift für die deutschösterreichischen Gymnasien
  2. Rudolf von Raumer: Über deutsche Rechtschreibung. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. Band 6. Heft I. Hölder, Wien 1855, S. 1–37, S. 33.
  3. Zitiert nach: Nerius 2000, S. 329
  4. Vgl. Nerius 2000, S. 329.
  5. Raumer 1855, S. 7.
  6. Vgl. Nerius 2000, S. 328.
  7. Vgl. Scheuringer 2004, S. 55f.
  8. Vgl. Nerius 2000, S. 331.
  9. Zitiert nach: Scheuringer 2004, S. 58.
  10. Vgl. Raumer 1855, S. 32–37.
  11. Vgl. Dieter Nerius: Untersuchungen zu einer Reform der deutschen Orthographie. Akademie-Verlag, Berlin 1975, S. 61.
  12. Vgl. Nerius 2000, S. 332.
  13. Vgl. Nerius 2000, S. 333.
  14. Vgl. Nerius 1975, S. 62.
  15. Lebensdaten der Familie Raumer


Kategorie:Deutsche Rechtschreibung Kategorie:Literarisches Werk Kategorie:Literatur (Deutsch) Kategorie:Literatur (19. Jahrhundert)