Berdytschiw

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Berdytschiw
Бердичів
Wappen von Berdytschiw
Berdytschiw (Ukraine)
Berdytschiw (Ukraine)
Berdytschiw
Basisdaten
Oblast: Oblast Schytomyr
Rajon: Rajon Berdytschiw
Höhe: 250 m
Fläche: 35,00 km²
Einwohner: 73.046 (1. Januar 2022)
Bevölkerungsdichte: 2.087 Einwohner je km²
Postleitzahlen: 13300
Vorwahl: +380 4143
Geographische Lage: 49° 54′ N, 28° 37′ OKoordinaten: 49° 53′ 30″ N, 28° 36′ 45″ O
KATOTTH: UA18020030010047029
KOATUU: 1820800000
Verwaltungsgliederung: 1 Stadt, 2 Dörfer
Bürgermeister: Serhij Orljuk
Adresse: пл. Жовтнева 1
13300 м. Бердичів
Website: http://www.berdychiv.osp.com.ua/
Statistische Informationen
Berdytschiw (Oblast Schytomyr)
Berdytschiw (Oblast Schytomyr)
Berdytschiw
i1

Berdytschiw (ukrainisch Бердичів; russisch Бердичев Berditschew, polnisch Berdyczów, jiddisch באַרדיטשעװ Barditschew) ist eine Stadt im Süden der ukrainischen Oblast Schytomyr mit etwa 80.000 Einwohnern.

Die Stadt ist das administrative Zentrum des gleichnamigen Rajons Berdytschiw und befindet sich etwa 40 Kilometer südlich von Schytomyr. Sie ist ein wichtiges Industriezentrum (Maschinenbau, Schuhfabrik) und Verkehrsknotenpunkt im Verlauf der ukrainischen Südbahn von Kiew über Kosjatyn nach Sdolbuniw und weiter über Dubno und Brody nach Lwiw (Bahnstrecke Kowel–Kosjatyn und Bahnstrecke Lwiw–Sdolbuniw).

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Berdytschiw wurde erstmals 1320 als Siedlung erwähnt. Nach Aussterben der herrschenden Dynastie in Galizien-Wolhynien 1340 fiel Berdytschiw wie ganz Wolhynien im folgenden Krieg um die Länder ans Großfürstentum Litauen. 1430 gewährte Großfürst Vytautas der Große die Herrschaft über das Gebiet Kalinik von Putywl. 1483 verwüsteten einfallende Krimtataren die Siedlung.

Inzwischen im Besitz der litauischen Familie Tyszkiewicz wurde hier um 1546 eine Stadt gegründet, später kam ein Schloss dazu. Im Zuge der Union von Lublin wurde Berdyczów 1569 wie ganz Litauen Teil des geeinten Polen-Litauens, wo es zur Woiwodschaft Wolhynien gehörte. Seit 1675 fanden in Berdyczów Jahrmärkte statt. In der Folge wurde die Stadt zu einem wichtigen Handelszentrum.

Befestigstes Karmelitenkloster

Im Kampf der polnischen Szlachta in der Konföderation von Bar gegen den Verlust ihres Einflusses in der Adelsrepublik und gegen russischen Einfluss auf die Wahl der Könige und diese selbst war Berdyczóws Kloster der unbeschuhten Karmeliten im Jahr 1768 einer der Kampfplätze.[1] Casimir Pułaski war Mitbegründer der Konföderation und hatte in Wolhynien und Podolien Kämpfer um sich gesammelt. Die ohnehin in Polen-Litauen anwesenden russischen Truppen, die durch Einschüchterung und russischen Stimmenkauf König Stanislaus II. August 1762 zur Wahl verholfen hatten, gingen gegen die Konföderierten vor. Pułaski verschanzte sich im Karmelitenkloster, wo er mit 700 Verbündeten und 800 Zivilisten 17 Tage gegen russische Belagerung und Anstürme standhielt. Gegen das Versprechen sich von der Konföderation loszusagen, ließ ihn der russische Befehlshaber Alexander Suworow ziehen.

Seit dem 18. Jahrhundert gehörte Berdyczów zu den wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Polen. Die jüdische Bevölkerung machte lange Zeit die Mehrheit der Stadtbevölkerung aus, 1789 bei der Volkszählung etwa 75 %. 1793 fiel Berdyczów im Zuge der Zweiten Teilung Polens mit weiten Teilen Wolhyniens ans Russische Zarenreich, wo es zum neuen Gouvernement Kiew gehörte. Es entstand eine starke chassidische Bewegung in der Stadt.

Nikolauskirche in der Liebknecht-Straße

1861 zählte Berdytschiw knapp 47.000 Juden, womit die Stadt den zweitstärksten jüdischen Bevölkerungsanteil aller russischen Städte hatte. Die Auswanderung dämpfte das durch viele Geburten starke Bevölkerungswachstum. Die ab 1882 verstärkten gesetzlichen antisemitischen Diskriminierungen seitens der zaristischen Regierung (so genannte Maigesetze) befeuerten die jüdische Auswanderung. Von 1892 bis 1921 verkehrte im Ort die mit Pferden betriebene Straßenbahn Berdytschiw. 1897 waren von 53.728 Einwohnern 41.617 (etwa 80 %) Juden.

Zur Zeit der Oktoberrevolution 1917 lag das Bürgermeisteramt in Händen eines Bundisten. Zwei Jahre später, im Russischen Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten, verübten Antisemiten einen Pogrom in der Stadt. Im Polnisch-Sowjetischen Krieg versuchte die Zweite Republik Polen in den Teilungen verlorene Gebiete zurückzugewinnen und drang im Frühjahr 1920 über Berdytschiw hinaus bis Kiew vor. Bei Einnahme der Stadt durch die roten Sowjets später im gleichen Jahr wurden viele Bauten der Stadt durch sowjetische Artillerie zerschossen. Gemäß dem polnisch-sowjetischen Frieden von Riga (1921) blieb Berdytschiw mit dem östlichen Wolhynien unter sowjetischer Herrschaft und wurde Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Berdytschiw war ein kulturelles Zentrum für Juden, Polen und Ukrainer bis zum 20. Jahrhundert. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre wurde Jiddisch im Amtsgebrauch und als Gerichtssprache anerkannt. Die sowjetische Obrigkeit verbot in den 1930er Jahren Jiddisch im offiziellen Gebrauch, wie sie auch Jeschives, Batei Midrasch und die meisten Synagogen schloss. Die jüdische Auswanderung verstärkte sich. 1926 hatte Berdytschiw 51.440 Einwohner.[1]

Verfolgung und Ermordung der Juden [Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor dem Krieg lebten unter den damals 66.306 Einwohnern etwa 30.000 Juden. Anfang 1941 hielten sich noch etwa 20.000 Juden in der Stadt auf.[2] Beim deutschen Einmarsch am 7. Juli 1941 wurden alle Juden zur Registrierung aufgerufen; sie mussten bereits ab dem 17. Juli einen gelben Judenstern tragen.[3] Zudem forderte der Stadtkommandant am 10. Juli 1941 eine Kontribution in Höhe von 100.000 Rubeln von der jüdischen Bevölkerung der Stadt. Es kam zu pogromartigen Ausschreitungen, bei der ganze Gruppen ermordet und die Synagogen in Brand gesteckt wurden. Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen gehen davon aus, dass eine 1941 vollzogene Massenexekution, von der eine als Der letzte Jude in Winniza bezeichnete Fotografie weltweit bekannt wurde, entgegen der Ortsangabe im Titel nicht in Winnyzja, sondern in Berdytschiw stattfand.[4]

Am 25. August 1941 erging der Befehl zur Einrichtung eines Ghettos. Im Gegensatz zu vielen anderen Ghettos in Polen gab es hier keinen Judenrat, keine eigene Polizei und Verwaltung. Bewacht wurde das Lager durch ukrainische Hilfspolizisten.[5]

Am 4. September 1941 wurden auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers mindestens 1.300 junge Männer unter dem Vorwand eines Ernteeinsatzes selektiert und außerhalb der Stadt erschossen.[2][6] Ein deutscher Soldat, der diese Mordtaten beobachtete, hat diese später aufgezeichnet.[7]

Am frühen Morgen des 15. Septembers 1941 wurde das Ghetto von SS und Polizei abgeriegelt, die Bewohner auf dem Marktplatz zusammengetrieben und mehrere Hundert Handwerker mit ihren Familien ausgesondert. Etwa 12.000 Juden wurden am Rande eines aufgelassenen Flugplatzes in vorbereiteten Gruben erschossen.[8] Unter den Ermordeten der Großaktion des Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C und des Polizeibataillons 45 unter Martin Besser befand sich auch die Mutter von Wassili Grossman.[9]

Die überlebenden jüdischen Einwohner wurden in mehreren Aktionen bis Mitte Juni 1942 nach und nach ermordet. Am 3. November 1941 wurden die Familien der Handwerker, die bislang verschont worden waren, insgesamt etwa 2.000 Menschen, ermordet. Am 7. April 1942 folgte die Ermordung von 70 jüdischen Frauen, die mit Nichtjuden verheiratet waren. Am 16. Juni 1942 wurden die verbliebenen Handwerker umgebracht.[2]

Berdytschiw wurde am 5. Januar 1944 von der Roten Armee befreit. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch 15 Juden in der Stadt.[2]

Gedenken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung ließ lange Zeit die Benennung einzelner Opfergruppen des Großen vaterländischen Krieges nicht zu.[10] Am Flughafengelände wurde zwar 1953 mit Spendengeldern ein Gedenkstein für die ermordeten Juden aufgestellt, der aber bald verschwand. Erst 1983 konnten jüdische Einwohner dort erneut einen Gedenkstein setzen, der die Zahl der Opfer beziffert. Weitere Steine markierten Stellen von anderen Massengräber. Erst nach 1991 wurden Hinweise auf die jüdischer Herkunft der Opfer angefügt.[11]

2015 wurde ein kleines Museum zur Ortsgeschichte des Judentums in der Stadt errichtet. 2019 gestaltete ein ukrainisch-deutsches Projekt beim Gelände des ehemaligen Ghettos einen zentralen Gedenkort; mehrsprachige Tafeln stellen die Ereignisse dar und weisen auf acht Massengräber in der näheren Umgebung hin. Viele Gräber aber sind noch unmarkiert und ungeschützt vor Grabschändern, die nach Wertgegenständen graben.[11]

Im September 2019 wurde der Gedenkort in Chazhyn errichtet und feierlich eingeweiht.[12] Am zentralen Gedenkort in der Stadt Berdytschiw wurden in enger deutsch-ukrainischer Zusammenarbeit fünf Informationstafeln aufgestellt, die sowohl über die Geschichte der lokalen jüdischen Gemeinde als auch über die Dimensionen und Standorte der Vernichtung der lokalen Juden während der deutschen Besatzung informieren.[13]

Verwaltungsgliederung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 12. Juni 2020 wurde die Stadt zum Zentrum der neugegründeten Stadtgemeinde Berdytschiw (ukrainisch Бердичівська міська громада/Berdytschiwska miska hromada), zu dieser zählten auch noch die 2 in der untenstehenden Tabelle aufgelistetenen Dörfer[14], bis dahin bildete sie die gleichnamige Stadtratsgemeinde Berdytschiw (Бердичівська міська рада/Berdytschiwska miska rada) im Zentrum des Rajons Berdytschiw.

Folgende Orte sind neben dem Hauptort Berdytschiw Teil der Gemeinde:

Name
ukrainisch transkribiert ukrainisch russisch
Pidhorodne Підгородне Подгородное (Podgorodnoje)
Skrahliwka Скраглівка Скраглевка (Skraglewka)

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Söhne und Töchter der Stadt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Varia[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Michaela Christ: Die Dynamik des Tötens: Die Ermordung der Juden von Berditschew, Ukraine 1941–1944. Fischer, Frankfurt am Main 2011. ISBN 978-3-596-19185-7
  • Wassili Grossman: Die Ermordung der Juden in Berditschew. In: Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Hg. Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg. Deutsche Übersetzung der vollständigen Fassung, herausgegeben von Arno Lustiger, Seiten 59–72: Rowohlt, Reinbek 1994. ISBN 3-498-01655-5
  • LG Berlin, 9. März 1960. In: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. XVI, bearbeitet von Irene Sagel-Grande, H. H. Fuchs, C. F. Rüter. Amsterdam : University Press, 1976, Nr. 490, S. 339–377, Verfahrensgegenstand: Exekution von mindestens 300 in der ehemaligen Panzerkaserne-Süd in Berditschew untergebrachten jüdischen Männern, Frauen und Kindern im August 1942 und von mindestens 22 ebenfalls dort inhaftierten, schwer kriegsbeschädigten russischen Kriegsgefangenen am 24. Dezember 1942
  • Mykhaylo Tyaglyy, Svetlana Burmistr, Holocaust and Remembrance in Berdychiv – Kyiv: УЦВІГ, 2019.
  • Die Judenstadt Berditschew. In: Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland, Band 6, Berlin, Verlag G. Reimer, 1848, Seite 45–48

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Berdytschiw – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Berdytschiw – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b „Berditschew“ (Eintrag), in: Der Große Brockhaus: Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden: 21 Bde., Leipzig: Brockhaus, 151928–1935; Bd. 2 „Asu–Bla“ (1929), S. 539.
  2. a b c d Enzyklopädie des Holocaust, s. v. Berditschew; S. 185.
  3. Michaela Christ: Die Dynamik des Tötens: Die Ermordung der Juden von Berditschew, Ukraine 1941–1944. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-19185-7, S. 88 bzw. 92.
  4. Jürgen Matthäus: The last Jew in Vinnitsa: Reframing an Iconic Holocaust Photograph, Holocaust and Genocide Studies, Jahrgang 37, Ausgabe 3, Winter 2023, Seiten 349–359.
  5. Michaela Christ: Die Dynamik des Tötens. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-19185-7, S. 148 und 153.
  6. Michaela Christ: Die Dynamik des Tötens. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-19185-7, S. 100; die Enzyklopädie nennt 1500 Opfer.
  7. Heinz Wilhelmy: Aus meinem Leben. Speyer 1996; s. a. Michaela Christ, S. 101–120.
  8. Michaela Christ: Die Dynamik des Tötens. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-19185-7, S. 159; die Enzyklopädie nennt 18.600 Opfer.
  9. Vasily Grossman: A Writer at War. New York, 2006, S. 247–261.
  10. Svetlana Burmistr, Uwe Neumärker: Deutsche Besatzung und Massenmord in der Ukraine. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), H. 9 S. 713.
  11. a b Svetlana Burmistr, Uwe Neumärker: Deutsche Besatzung und Massenmord in der Ukraine. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), H. 9, S. 715.
  12. Mykhaylo Tyaglyy, Svetlana Burmistr: Голокост у Бердичеві і пам’ять про нього. 2019, abgerufen am 12. Oktober 2023 (englisch, ukrainisch).
  13. Berdytschiw – Chashyn, auf netzwerk-erinnerung.de, abgerufen am 2. November 2023
  14. Кабінет Міністрів України Розпорядження від 12 червня 2020 р. № 711-р "Про визначення адміністративних центрів та затвердження територій територіальних громад Житомирської області"
  15. Berdytschiw in der Small-Body Database des Jet Propulsion Laboratory (englisch).Vorlage:JPL Small-Body Database/Wartung/Alt