Bernard Kouchner

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Bernard Kouchner an der Universität Freiburg, Schweiz (2006)

Bernard Kouchner (* 1. November 1939 in Avignon) ist ein französischer Politiker und Arzt. Er war 1971 Mitgründer von Médecins sans Frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen) und 1980 von Médecins du Monde (MDM, Ärzte der Welt). Vom 18. Mai 2007 bis 14. November 2010 war er französischer Außenminister und Minister für Europäische Angelegenheiten in der Regierung von François Fillon, in der zweiten Jahreshälfte 2008 außerdem Präsident des Rats der Europäischen Union.

Zuvor war Kouchner 1992–1993, 1997–1999 und 2001–2002 französischer Minister bzw. Staatssekretär für Gesundheit und von 1994 bis 1997 Mitglied des Europäischen Parlaments. Von Juli 1999 bis Januar 2001 war er Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für die Interimsverwaltung im Kosovo (UNMIK). Bis zu seinem Parteiausschluss 2007 gehörte Kouchner der Parti socialiste an.

Arbeit als Arzt und humanitäre Hilfe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kouchner ist ein Gastroenterologe. Der Sohn eines jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter begann seine politische Karriere als Mitglied der Kommunistischen Partei, aus der er 1966 ausgeschlossen wurde. 1968 arbeitete er als Arzt für Secours médical français (SMF) in der nigerianischen Provinz Biafra. Der dortige Bürgerkrieg wurde zu einem Schlüsselerlebnis für Kouchner. Angesichts des Leidens und des Hungers der Bevölkerung und der Grausamkeit der Soldateska wollte sich der junge Arzt nicht an das vom SMF geforderte Schweigegebot halten. Dies war für ihn mit dem Eid des Hippokrates nicht zu vereinbaren. „Unparteilichkeit ja, Neutralität nein.“ So diente ihm die humanitäre Aktion auch dazu, die Unterdrückung und die Verbrechen sichtbar zu machen.

1971 gründete er zusammen mit anderen engagierten Medizinern die nichtstaatliche Organisation Médecins sans Frontières, die aus der französischen Secours médical français hervorging. Darüber hinaus geriet Kouchner mit dem Direktor von MSF Claude Malhuret in Meinungsverschiedenheiten und trat aus MSF aus, um 1980 die zweite Hilfsorganisation Médecins du Monde (MDM) zu gründen. Kouchners „french doctors“ wurden bald in den Konflikt- und Krisengebieten rund um den Erdball zu einem Begriff, ebenso wie sein Credo: Das Recht, ja, die Pflicht, sich einzumischen, um das Elend der Menschen in aller Welt zu bekämpfen. „Das Recht auf humanitäre Intervention (droit d’ingérence humanitaire) geht vor. Im Zweifelsfall sogar vor staatliche Souveränität.“

1977 unterschrieb er wie etwa sechzig andere Intellektuelle auch einen Appell zur Entkriminalisierung der Pädophilie, der in den Zeitungen Libération und Le Monde erschien. Initiator des Appells war der pädophile Schriftsteller Gabriel Matzneff.[1]

Er trat für ein Langzeitkonzept humanitärer Einmischung ein. 1993 gründete er deshalb die Stiftung Fondation pour l’action humanitaire. Er ist Autor einer Reihe von Büchern mit hauptsächlich medizinisch-humanitären und politischen Themen.

Politische Karriere[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Staatspräsident François Mitterrand ernannte nach seiner Wiederwahl im Mai 1988 Bernard Kouchner, der zu diesem Zeitpunkt nicht Mitglied einer politischen Partei war, zum Staatssekretär für soziale Integration (dem Arbeits- und Sozialminister Michel Delebarre zugeordnet) im Kabinett des Premierministers Michel Rocard. Diese Position behielt er auch unter Rocards Nachfolgerin Édith Cresson. Im Kabinett Pierre Bérégovoy wurde Kouchner zum Minister für Gesundheit und humanitäre Hilfe ernannt, dieses Amt behielt er bis zum Regierungswechsel im März 1993.

Bei der Europawahl 1994 kandidierte der weiterhin parteilose Kouchner erfolgreich auf der von Michel Rocard angeführten Liste der Parti socialiste (PS). Im Europäischen Parlament war er von 1994 bis 1997 Vorsitzender des Ausschusses für Entwicklung und Zusammenarbeit. Zudem gehörte er dem Unterausschuss Menschenrechte an, war Delegierter für die Beziehungen zu der Volksrepublik China und Mitglied bei der Paritätischen Versammlung des AKP-EU-Abkommens.

Anfang 1996 trat er der kleinen linksliberalen Parti radical-socialiste (PRS) bei, die unter Führung des Unternehmers Bernard Tapie einen kurzzeitigen Höhenflug hatte und Kouchner zum stellvertretenden Vorsitzenden für politische Innovation ernannte. Anschließend wechselte er auch im EU-Parlament von der sozialdemokratischen Fraktion (in der er als Gast saß) zur Fraktion der Radikalen Europäischen Allianz (ERA). Gleichzeitig trat er für die Reformen der Sozialen Sicherheit der Mitte-rechts-Regierung von Alain Juppé ein.

Nach dem Sieg der linken Parteien bei der französischen Parlamentswahl im Juni 1997 legte Kouchner sein Mandat im EU-Parlament nieder und trat als Staatssekretär für Gesundheit (unter Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry) wieder der Regierung bei (Kabinett Jospin). Nach dem Absturz Tapies und dem Bedeutungsverlust der PRS wechselte Kouchner 1998 zur größeren Parti socialiste. Er leitete den Club Réunir (Vereinigung) und stand sowohl Michel Rocard als auch Lionel Jospin nahe.

Von 1999 bis 2001 entsandte ihn der Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan als Sondergesandten und Leiter der UNMIK ins Kosovo. Kouchner war persönlich befreundet mit dem brasilianischen Diplomaten und UN-Hochkommissar für Menschenrechte Sérgio Vieira de Mello.

Im Februar 2001 kehrte Kouchner als beigeordneter Minister für Gesundheit in die französische Regierung zurück. Mit dem Gesetz über die Rechte der Kranken und die Qualität des Gesundheitssystems vom 4. März 2002, auch Loi Kouchner (Kouchner-Gesetz) genannt, wurde die Möglichkeit eines Antrags auf Haftaussetzung für Gefangene, deren Gesundheitszustand mit der Haft nicht vereinbar ist, eingeführt (Suspension de peine pour raison médicale, SPRM). Die Regelung führte insbesondere durch die Anwendung im Fall des Kriegsverbrechers Maurice Papon zu einer öffentlichen Kontroverse.

Kouchner beim Weltwirtschaftsforum 2008 in Davos

Der Konservative Nicolas Sarkozy (UMP) ernannte nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Mai 2007 Kouchner zum Außenminister in der Mitte-rechts-Regierung unter Premierminister François Fillon. Dies war Teil einer von Sarkozy versprochenen „Öffnung“ (ouverture) seiner Regierung über politische Lagergrenzen hinweg. Kouchner war jedoch das einzige PS-Mitglied, das ein Ministeramt unter Sarkozy annahm. Unmittelbar darauf erklärte die Parti socialiste seinen Parteiausschluss: „Wer in diese Regierung eintritt“, verkündete Parteichef François Hollande, „ist ein rechter Minister und kann nicht gleichzeitig den Sozialisten angehören. Kouchner ist nicht mehr Mitglied der Sozialistischen Partei.“ PS-Fraktionschef Jean-Marc Ayrault kritisierte, die von Sarkozy versprochene „Öffnung“ beschränke sich auf vereinzelte Abwerbungen und Kouchner, der eine „Persönlichkeit ohne Grenzen“ sei und nun „sorgfältig unter die direkte Oberaufsicht des Elysée gestellt wurde“. Bei der Kabinettsumbildung im November 2010 schied Kouchner aus der Regierung aus, seine Nachfolgerin war Michèle Alliot-Marie von der UMP.

Kouchner bei einer Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung, 2015

Seit Mai 2015 ist Kouchner als Workstream-Leader für die Agentur zur Modernisierung der Ukraine (AMU) tätig. Sein Ziel ist die Ausarbeitung eines Modernisierungsprogramms für medizinisch-humanitäre Themen.[2]

Politischer Lebenslauf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 1988–1992 Staatssekretär für humanitäre Angelegenheiten
  • 1992–1993 Minister für Gesundheit
  • 1994–1997 Abgeordneter im Europäischen Parlament
  • 1997–1999 Minister für Gesundheit und humanitäre Angelegenheiten
  • 1999–2001 repräsentierender Administrator der Vereinten Nationen im Kosovo
  • 2001–2002 delegierter Gesundheitsminister
  • 2007–2010 Außenminister der französischen Regierung von Premierminister François Fillon

Familie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In erster Ehe war Bernard Kouchner mit Évelyne Pisier, einer Ex-Geliebten Fidel Castros und einer der ersten Professorinnen für Öffentliches Recht in Frankreich, verheiratet. Mit ihr hat er Zwillingskinder: eine Tochter, Camille, und einen Sohn, Antoine, beide 1975 geboren. Nach ihrer Scheidung heiratete Évelyne Pisier einen Verfassungsrechtler und Abgeordneten der Sozialistischen Partei im Europäischen Parlament, Olivier Duhamel. Dieser soll nach dem 2021 von Camille Kouchner veröffentlichten Buch, La familia grande, ihren Bruder Antoine im Alter von 12 bis 14 Jahren sexuell missbraucht haben. Duhamel schweigt zu dem Vorwurf.[3] Dem Vater des Jungen, Bernard Kouchner, soll der Missbrauch lange verheimlicht worden sein. Erst 2011 soll er davon erfahren haben.[4]

Die derzeitige Lebensgefährtin Kouchners ist die Journalistin Christine Ockrent.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Bernard Kouchner – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Elaine Sciolino: Sarkozy’s Top Diplomat: Undiplomatic Opposite. In: The New York Times. 19. Mai 2007, archiviert vom Original am 30. Januar 2013;.
  • Christopher Caldwell: Communiste et Rastignac: Le Monde selon K. by Pierre Péan. In: London Review of Books. 9. Juli 2009, archiviert vom Original am 6. Juli 2009;.
  • Bernard Kouchner in der Abgeordneten-Datenbank des Europäischen Parlaments

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Pascale Hugues: Es war verboten, zu verbieten. In: Die Zeit. 25. Januar 2020, S. 53.
  2. The Agency for the Modernisation of Ukraine (Hrsg.): AMU-Team beginnt Programm-Arbeit. In: ots.at. 13. Mai 2015, abgerufen am 21. Mai 2021.
  3. Barbara Wesel: Dunkle Geheimnisse einer "großen Familie". In: www.dw.com. Deutsche Welle, 20. Januar 2021, abgerufen am 21. Dezember 2021 (deutsch).
  4. Martina Meister: Camille Kouchner enthüllt Missbrauch in Elite-Familie. In: welt.de. 15. Januar 2021, abgerufen am 15. Januar 2021.