Demokratiedefizit

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Der Begriff Demokratiedefizit beschreibt einen vermeintlichen oder tatsächlichen Mangel (ein Defizit) an Demokratie.

Allgemeines[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wenn Staaten oder andere Organisationen grundsätzlich oder in der Praxis nicht so demokratisch sind, wie sie es sein könnten, wird der Begriff Demokratiedefizit verwendet. Diesen Organisationen fehlt dann die demokratische Legitimation, zumindest teilweise. Vielfach wird dann von einem Legitimationsdefizit[1][2][3] oder von „Legitimationsdefiziten“[4][5] gesprochen.

Nicht betroffen von einem Demokratiedefizit ist unter den verschiedenen Formen der Legitimation[6] die Output-Legitimation – hoheitliches Handeln bzw. eine Rechtsordnung kann auch ohne Demokratie von den ihnen Unterworfenen als legitim empfunden werden, wenn es/sie ihnen nützt. Insofern ist Demokratiedefizit und Legitimationsdefizit nicht dasselbe.[7] Zudem kann ein Legitimationsdefizit gerade hinsichtlich des Outputs gesehen werden statt in einem „Demokratiedefizit“.[6]

Jedoch besteht auch die von dem Staatsrechtler Hermann Heller (1891–1933) vertretene Auffassung „Es gibt keine andere Herrschaftslegitimation als die demokratische.“[8] So stellt man zum Teil fest, dass zwischen „Demokratiedefizit“ und „Legitimationsdefizit“ kein Unterschied gemacht wird.[9][10][11] Der Rechtswissenschaftler Utz Schliesky kritisierte, dass oft „undifferenziert von Demokratie-, Legitimations- oder Legitimitätsdefizit gesprochen wird, obwohl dasselbe gemeint ist.“[12]

Als Wegbegleiter des Demokratiedefizits findet sich oft fehlende Transparenz.

Konkretes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Deutschland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der politischen Diskussion in der Bundesrepublik wird der Begriff hauptsächlich von Menschen verwendet, die sich mehr direkte Demokratie in Deutschland wünschen. Gemeint sind damit vor allem Volksentscheide (→Throughput-Legitimation), insbesondere auf Bundesebene. Das Defizit komme dadurch zustande, dass die politischen Parteien einen immer größeren Einfluss auf Politik und Entscheidungsfindungen ausübten und die wahlberechtigte Bevölkerung somit Einfluss auf die Gestaltung des politischen Lebens verliere. Als Lösung wird die Einführung direktdemokratischer Elemente vorgeschlagen[13].

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland regelt in Art. 20 II, dass „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“ und diese durch Wahlen oder Abstimmungen ausgeübt wird; tatsächlich hat die deutsche Bevölkerung auf gesamtstaatlicher Ebene mangels direktdemokratischer Elemente jedoch relativ wenig direkte Einflussmöglichkeiten. Auf Landes- und Kommunalebene hingegen sind direktdemokratische Elemente vertreten.

Dabei bleibt umstritten, ob Volksentscheide tatsächlich „demokratischer“ sind als die Entscheidungen von Parlamenten (in einer repräsentativen Demokratie). Je nach Beantwortung dieser Frage muss also das Fehlen von Volksentscheiden kein Defizit sein. Die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene wurde 2002 vom Bundestag zwar mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS befürwortet. CDU/CSU sowie FDP sehen jedoch kein Demokratiedefizit. Der Antrag der linken Parteien fand daher nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit.

Ein weiterer Punkt, in dem in Deutschland ein mutmaßliches Demokratiedefizit diskutiert wird, ist die Wahl des Bundespräsidenten. Die Überlegung, den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, wird immer wieder thematisiert, wurde aber (auch im Hinblick auf die Erfahrungen mit der Direktwahl des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik) nie ernsthaft betrieben.

Manche Gewerkschaften sehen ein „Demokratiedefizit“ in den Unternehmen und fordern eine Ausweitung der Mitbestimmung. Auch innerhalb von Parteien und Gewerkschaften wird bisweilen über Demokratiedefizite gestritten, sowohl historisch als auch aktuell.[14]

Internationale Politik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als politisches Schlagwort wird der Begriff in Europa beispielsweise auf die Europäische Union und ihre Organe bezogen[15][16][17] (siehe: Demokratiedefizit der Europäischen Union), er kann aber auch auf andere supranationale Institutionen und transnationale Organisationen mit großem Einfluss und wenig Zugang für Bürger wie auf die WTO zutreffen.[1][18][6][19] Laut Encyclopædia Britannica wird der entsprechende englische Terminus democratic deficit,[20][21] obwohl beliebige demokratische Systeme betroffen sein können, am häufigsten im Zusammenhang supranationaler Institutionen und insbesondere der Europäischen Union gebraucht.[22]

Die Jungen Europäischen Föderalisten nehmen für sich in Anspruch, 1977 mit dem Titel The Democratic Deficit des ersten Kapitels ihres Manifests den ersten Beleg geliefert zu haben.[23][24] Darin wurde mangelnder Einfluss der Bürger auf Entscheidungen – innerstaatlich – von und – auf der Ebene der damaligen Europäischen Gemeinschaften – durch Regierungen, verursacht durch den „hohen Industrialisierungsgrad der westeuropäischen Gesellschaften“ und die politische und wirtschaftliche Interdependenz, beklagt.[25] Die letzteren Bedingungen machten eine Übertragung von Hoheitsrechten (Souveränität) von Einzelstaaten auf gemeinsame Organisationen erforderlich, und gerade dadurch entsteht die Gefahr eines Demokratiedefizits internationaler Politik.[26] Die nationalen Parlamente können Beschlüsse im internationalen Mehrebenensystem[27][28] und übernationale Entscheidungsträger nicht im selben Maße beeinflussen/kontrollieren wie nationalstaatliche Entscheidungen bzw. Regierungen[29][6] (Entparlamentarisierung).[30] In der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments – als „Ersatz“ – ist etwa das demokratische Prinzip der Wahlgleichheit zugunsten des völkerrechtlichen Prinzips der Staatengleichheit eingeschränkt.

Im Falle der WTO wurde ein Demokratiedefizit auch in fehlenden Ressourcen einzelner Staaten gesehen, um an Entscheidungen mitzuwirken.[18][6]

In Südkorea wird es als Demokratiedefizit gesehen, dass im Kriegsfall der amtierende US-Präsident Oberbefehlshaber des südkoreanischen Militärs ist. In Zeiten einer Waffenruhe hat Südkorea die operative Kontrolle, aber im Kriegsfall wird diese an die USA übergeben.[31] Südkoreaner können jedoch nicht an den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen teilnehmen und haben damit keinen Einfluss darauf, wer Oberbefehlshaber wird.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Dietmar Baetge: Globalisierung des Wettbewerbsrechts: eine internationale Wettbewerbsordnung zwischen Kartell- und Welthandelsrecht (= Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht. Band 90). Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2008, ISBN 978-3-16-149548-9, S. 491 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. Gesine Fuchs: Europäisierung der Zivilgesellschaft als bilaterale Herausforderung: die polnische Frauenbewegung und die Europäische Union. In: Micháele Knodt, Barbara Finke (Hrsg.): Europäische Zivilgesellschaft: Konzepte, Akteure, Strategien. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, ISBN 3-8100-4205-6, S. 343 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. Richard Münch: Der Prozess der europäischen Vergesellschaftung. (PDF; 151 kB) Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Oktober 2000, S. 17, abgerufen am 29. April 2019 (=Bamberger Beiträge zur Europaforschung und zur internationalen Politik, Nr. 1/2000).
  4. Marcus Höreth: Warum sich das Vereinte Europa mit der Demokratie schwer tut. Vorläufige Fassung. In: Internationale Politik und Gesellschaft Online. Band 1, Januar 1998 (Volltext).
  5. Thomas Holzner: Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie: Untersuchungen zur Phänomenologie gruppenpluraler Konsensverwaltung unter besonderer Berücksichtigung des Sozialrechts als Referenzgebiet (= Jus Publicum. Band 254). Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2016, ISBN 978-3-16-154330-2, S. 129, 467, 545 (Snippetansicht in der Google-Buchsuche).
  6. a b c d e Markus Krajewski: Konstitutionelle Ökonomie des GATT/WTO-Rechts. In: Anne van Aaken, Stefanie Schmid-Lübbert (Hrsg.): Beiträge zur ökonomischen Theorie im Öffentlichen Recht. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-322-81480-7, Legitimationsdefizit des GATT/WTO-Rechts, S. 20 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. Ragnar Müller: Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration unterrichten? Dissertation an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Tübingen 2006, DNB 990052079, Grundprobleme der EU-Vermittlung (Exkurs), urn:nbn:de:bsz:21-opus-35018 (online-dissertation.de).
  8. Zitiert nach Marcus Höreth: Warum sich das Vereinte Europa mit der Demokratie schwer tut. Vorläufige Fassung. In: Internationale Politik und Gesellschaft Online. Band 1, 1998 (Volltext).
  9. Eva Johanna Schweitzer: Der Einsatz des Internets im Europawahlkampf. Ergebnisse einer Inhalts- und Strukturanalyse nationaler Partei- und Kampagnen-Websites zur Europawahl 2004. In: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.): Europawahl 2004: Die Massenmedien im Europawahlkampf. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-14595-2, S. 123 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  10. Jeanette Hofmann: Der kurze Traum von der Demokratie im Netz – Aufstieg und Fall von ICANNs At-Large membership. (PDF; 91,1 kB) Entwurf für Dieter Goswinkel et al. (Hrsg.): Zivilgesellschaft – national und transnational, Berlin 2004, ISBN 978-3-89404-299-8. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 8. August 2003, S. 1, abgerufen am 23. April 2019.
  11. Schäuble fordert klarere Entscheidungsstrukturen für Europa. In: deutschlandfunk.de. 15. Juni 2001, abgerufen am 23. April 2019 (Peter Kapern interviewt Wolfgang Schäuble).
  12. Utz Schliesky: Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem (= Jus publicum: Beiträge zum öffentlichen Recht. Band 112). Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2004, ISBN 3-16-148121-6, S. 389 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – „Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.“).
  13. z. B. Christian Pestalozza: Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland. Vortrag gehalten vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 21. Januar 1981 (= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin. Ausgabe 69). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1981, ISBN 3-11-008630-1, S. 7 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  14. Vgl. Stefan Berger: Kommunisten, Sozialdemokraten und das Demokratiedefizit in der Arbeiterbewegung. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Heft II, 2006.
  15. Demokratiedefizit. In: EUR-Lex > Glossare von Zusammenfassungen. Europäische Union, abgerufen am 26. April 2019.
  16. Georg Kreis: Mehr Demokratie in Europa? In: aargauerzeitung.ch. 13. September 2016, abgerufen am 26. April 2019 (bezeichnet „Demokratiedefizit“ 3 Mal als „Schlagwort“, „mehr Demokratie“ bedeutet hier direkte Demokratie).
  17. Michael Latzer, Florian Saurwein: Europäisierung durch Medien: Ansätze und Erkenntnisse der Öffentlichkeitsforschung. In: Wolfgang R. Langenbucher, Michael Latzer (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel: Eine transdisziplinäre Perspektive. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14597-5, S. 10 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  18. a b Peter Wahl: Zwischen Hegemonialinteressen, Global Governance und Demokratie. Zur Krise der WTO. In: Internationale Politik und Gesellschaft. Nr. 3, 2000, ZDB-ID 1182797-X, Das interne Demokratiedefizit der WTO, S. 242 f. (Volltext [PDF; 178 kB; abgerufen am 4. Mai 2019]).
  19. Andrew Moravcsik: Is there a ‘Democratic Deficit’ in World Politics? A Framework for Analysis. In: Government and Opposition. Band 39, Nr. 2, 17. März 2004, S. 336–363, doi:10.1111/j.1477-7053.2004.00126.x (englisch, Volltext [PDF; 114 kB; abgerufen am 24. Mai 2019]).
  20. Demokratiedefizit. In: Linguee Wörterbuch Deutsch-Englisch. 2019, abgerufen am 31. Mai 2019.
  21. Demokratiedefizit. In: de.langenscheidt.com Deutsch-Englisch Wörterbuch. Abgerufen am 31. Mai 2019.
  22. Natalia Letki: Democratic deficit. In: Encyclopædia Britannica. Abgerufen am 27. Mai 2019 (englisch).
  23. Peter Matjašič: Democratic Deficit: A Federalist Perspective. In: thenewfederalist.eu. 17. Oktober 2010, abgerufen am 27. Mai 2019 (englisch).
  24. The first use of the term “democratic deficit”. Federal Union, abgerufen am 27. Mai 2019 (englisch).
  25. Manifest der Jungen Europäischen Föderalisten 1977 (Kapitel Eins) auf federalunion.org.uk, abgerufen am 27. Mai 2019 (englisch).
  26. Manfred G. Schmidt: Demokratie. II. Politikwissenschaftlich. In: Staatslexikon online, 8. Auflage. Görres-Gesellschaft, Verlag Herder, 9. Mai 2018, abgerufen am 24. Mai 2019 („strukturelle D.-Defizite“ durch „Verlagerung“/„Übertragung von Hoheitsrechten (Souveränität) vom Nationalstaat auf zwischenstaatliche Organisationen“ „wie die EU und die NATO“).
  27. Klaus Dingwerth, Michael Blauberger, Christian Schneider: Postnationale Demokratie. Eine Einführung am Beispiel von EU, WTO und UNO (= Grundwissen Politik. Band 47). VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-92099-3, S. 73 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – hier zur EU).
  28. Martin Ströder: Auf der Suche nach der verlorenen Legitimität: Die Legitimitätspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). In: Matthias Lemke, Oliver Schwarz, Toralf Stark, Kristina Weissenbach (Hrsg.): Legitimitätspraxis. Politikwissenschaftliche und soziologische Perspektiven. Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-05741-1, S. 77 ff., doi:10.1007/978-3-658-05742-8_5 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  29. Sebastian Wolf: Das politische System Deutschlands für Dummies. Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2018, ISBN 978-3-527-80895-3 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  30. Ariane Richter: Funktionswandel im Mehrebenensystem? Die Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Union am Beispiel des Deutschen Bundestags (= Europäisches und Internationales Recht. Band 91). Herbert Utz Verlag, München 2017, ISBN 978-3-8316-4580-0, Abschnitt A: Das Problem: Demokratiedefizit und Entparlamentarisierung (Dissertation Universität München 2016; Inhaltsverzeichnis in der Google-Buchsuche, S. 51 ff. in der Google-Buchsuche zur Entparlamentarisierung).
  31. Kathry Botto: Why Doesn’t South Korea Have Full Control Over Its Military? In: Carnegie Endowment for International Peace. 21. August 2019, abgerufen am 28. Januar 2024 (englisch).