Deprivation

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Der Begriff Deprivation (lat. privare ‚berauben‘) bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem sowie das Gefühl einer Benachteiligung.

Psychologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Innerhalb der Psychologie wird auf dem Gebiet der Wahrnehmung bzw. der sensorischen Stimulierung sowie der emotionalen Beziehungen von „Deprivation“ gesprochen. In der Psychoanalyse wird der „Vaterverlust“ als Deprivation begriffen.

Perzeptive Deprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sie ist abzugrenzen von der sensorischen Deprivation. Der Informationsgehalt von Außenreizen ist vermindert.

Sensorische Deprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sensorische Deprivation, also Mangel an Außenreizen (Farben, Geräuschen, Mitmenschen, Gesprächen usw.) führt zu Halluzinationen und zu Denkstörungen. Diese wird bei Verhören, Folterungen und zur Gehirnwäsche eingesetzt, aber auch zu Bewusstseinserweiterung und Entspannung.

Siehe auch: Weiße Folter, Isolationshaft, Camera silens, BDSM, Floating

Emotionale Deprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Deprivation (auch Deprivationssyndrom, anaklitische Depression) bezeichnet man in der Kinderheilkunde die mangelnde Umsorgung und fehlende Nestwärme bzw. Vernachlässigung von Babys und Kleinkindern.[1] Die Symptomatik, für die auch der Begriff Hospitalismus verwendet wird, ist aus Krankenhäusern, Säuglingsstationen und Heimen sowie Gefängnissen bekannt. Dauert die Deprivation länger an, kann es zu psychischem Hospitalismus, einer dem Autismus ähnelnden Unfähigkeit, soziale Kontakte aufzubauen, oder zu Sprachstörungen kommen.

Siehe auch: Kasper Hauser, Wolfskind, René A. Spitz, Harold M. Skeels, Mary Ainsworth, Fremde Situation

Mutterdeprivation/Mutterentbehrung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf der Basis von klinisch-psychologischen Forschungen zeigen sich bei Kindern mit Mutterentbehrung häufiger Depressionen, Defizite in der Sprachentwicklung, Persönlichkeitsstörungen und Jugendkriminalität.

Vaterdeprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Alexander Mitscherlich beschrieb diese Form der Deprivation als Entbehrung des Vaters oder Vaterverlust. Folgen hiervon seien seelische und psychosomatische Störungen, selbstverletzendes Verhalten, Beziehungsstörungen, soziale Auffälligkeiten bis hin zur Kriminalität, Leistungsversagen, kognitive Defizite und psychosexuelle Identitätsprobleme.[2]

Soziologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Soziale Deprivation bezeichnet jede Form von sozialer Ausgrenzung, welche stattfinden kann durch Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe und/oder Armut. Mögliche Folgen sozialer Deprivation können sein: Alkoholismus, Behinderung, Extremismus, Messie-Syndrom, Tabletten-/Drogensucht, Resignation, schwere/mittelschwere Depressionen bis hin zu Suizid­gefahr.

Objektive Deprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Objektive Deprivation ist die anhand von Standards (zum Beispiel Einkommensverteilung) messbare materielle Benachteiligung.[3]

Relative Deprivation bedeutet objektiv verstanden eine relative „Benachteiligung in der positionalen Ausstattung mit sozialstrukturell vermittelten Chancen und Mitteln, die qua gesellschaftlicher Definition erforderlich sind, um eine bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Position aufrechterhalten zu können und damit eine gesellschaftliche Existenz zu sichern.“[4]

Hierfür sind folgende Teilaspekte der gesellschaftlichen Existenz von Bedeutung: 1. die Sicherung des sozioökonomischen Status durch eine ausreichende Verfügung über Einkommen, Bildung (Wissen) sowie berufliche Chancen; 2. die Sicherung des sozialen Status durch ausreichende Verfügung über statussichernde Symbole sowie Zuschreibungen; 3. die Sicherung des Interaktions- und Kooperationsspielraums durch ausreichend verfügbare Kontakte zur organisierten Öffentlichkeit, zu informellen Gruppierungen, die über die eigene Primärgruppe hinausgehen sowie Kooperationsmöglichkeiten im öffentlichen Umfeld und der beruflichen Umgebung.

Die relative Deprivation führt zu einer jeweils unterscheidbaren sozialen Lage:

  • die nicht hinreichende Sicherung des sozioökonomischen Status bezeichnet soziale Schwäche;
  • die nicht hinreichende Sicherung des sozialen Status bezeichnet Stigmatisierung;
  • die Störung oder der Verlust von Kontakten und Kommunikationschancen bezeichnet soziale Isolation.

Als normative Deprivation wird eine Form der Benachteiligung verstanden, die als eine solche gesellschaftlich anerkannt ist, zum Beispiel bezogen auf die rechtlich normierte Höhe einer staatlichen Unterstützungsleistung.

Subjektive Deprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von relativer Deprivation im Sinne einer subjektiven Deprivation wird gesprochen, wenn eine Person durch Vergleich mit anderen Mitgliedern ihrer Bezugsgruppe feststellt, dass sie hinsichtlich ihrer Erwartungen und Wünsche benachteiligt ist. Sie wird dann unzufrieden und enttäuscht sein.

„Zwischen Erwartungen und Möglichkeiten zur Wunschbefriedigung, oder zwischen dem, was man hat, und dem, worauf man glaubt einen berechtigten Anspruch zu haben, wird subjektiv eine Diskrepanz wahrgenommen, die zu dysfunktionalen Gefühlen der Unzufriedenheit oder des Ressentiments gegen andere führt. Nicht objektive oder strukturelle Diskrepanzen (zum Beispiel soziale Ungleichheit, soziale Spannung, Statusunterschiede oder ökonomische Unterschiede in der Ressourcenverteilung), sondern subjektiv wahrgenommene bzw. eingeschätzte Diskrepanzen erzeugen eine relative Deprivation respektive eine soziale, politische oder ökonomische Unzufriedenheit.“[5]

Die relative Deprivation wird als subjektive Deprivation bezeichnet, da man das subjektive Erleben von Benachteiligung und das eigene Gefühl von Diskriminierung und von Vernachlässigung, unabhängig von der tatsächlichen Situation, erleben kann. Subjektive Deprivation kann indes auch gruppenspezifisch erlebt werden (zum Beispiel schichtspezifische Gefühle der Benachteiligung gegenüber dem gesellschaftlich Üblichen auf multiplen Ebenen der Lebenslage).

Grundsätzlich können zwei Quellen für das Aufkommen von relativer Deprivation und das damit verbundene Gefühl von Unzufriedenheit ausgemacht werden: Entweder entsteht dies durch den Vergleich mit einer Bezugsgruppe oder aber durch den Vergleich mit der eigenen Vergangenheit.[6]

Multiple Deprivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als multiple (mehrfache) Deprivation bezeichnet man es, wenn jemand (in der Regel ein Kind) in mehrfacher Hinsicht benachteiligt ist und dadurch keine guten Entwicklungschancen hat.

Risikofaktoren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einfluss von Risikofaktoren auf die Intelligenzentwicklung
(Gabarino)
Zahl der Risikofaktoren Durchschnitts-IQ der Kinder
keine Risikofaktoren 119
ein Risikofaktor 116
zwei Risikofaktoren 113
vier Risikofaktoren 93
acht Risikofaktoren 85
[7]

Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sind unter anderem:

Fast jedes Kind trägt einen Risikofaktor, doch erst das Zusammenwirken vieler Risikofaktoren führt zu einem messbaren Unterschied.

Das Konzept der multiplen Deprivation in der Praxis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Praxis konnte gezeigt werden, dass ein Risikofaktor alleine in vielen Fällen noch keine Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat. Wenn jedoch mehrere Risikofaktoren zusammenkommen, ist die kindliche Entwicklung gefährdet.[8][9]

Es wurde untersucht, welchen Einfluss Risikofaktoren auf die intellektuelle Entwicklung des Kindes haben. Bei ein oder zwei Risikofaktoren scheint die Entwicklungsbehinderung nicht besonders gravierend zu sein. Ab vier Risikofaktoren war die kindliche Entwicklung jedoch stark beeinträchtigt.

In Deutschland wurde das Konzept unter anderem bei der AWO-Studie genutzt. Es konnte gezeigt werden, dass arme Kinder oft auch multipel depriviert waren.[10] Das heißt, sie waren auch noch anderen Risikofaktoren ausgesetzt als nur der Armut. Diese Risikofaktoren lagen in der Grundversorgung, der Gesundheit, der sozialen Lage und der kulturellen Lage.[10]

Folgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Folgen schwerwiegender Deprivation können sein:

  • Reaktive Bindungsstörungen im Kindesalter; Symptome gemäß ICD-10: abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen (widersprüchliche soziale Reaktionen, Mischung aus Annähern und Vermeiden), Emotionale Störung (Mangel an Ansprechbarkeit, Apathie), psychosozialer Minderwuchs
  • Bindungsstörungen im Kindesalter mit Enthemmung; Symptome gemäß ICD-10: Diffusität im selektiven Bindungsverhalten während der ersten fünf Lebensjahre, Anklammerungsverhalten im Kleinkindalter, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten in der frühen Kindheit, Schwierigkeiten beim Aufbau enger Beziehungen zu Gleichaltrigen, Störungen des Sozialverhaltens
  • Hospitalismus
  • Pseudodebilität
  • Zweiphasensystem VII & OUF

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • René A. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1996, ISBN 3-608-91823-X (englische Erstausgabe: The First Year of Life, 1965). Die Originalstudie wurde als Hospitalism: An Inquiry into the Genesis of Psychiatric Conditions in Early Childhood in The Psychoanalytic Study of the Child, Bd. 1 (1945), und Hospitalism: A Follow-Up Report in The Psychoanalytic Study of the Child, Bd. 2 (1946) publiziert.
  • John Bowlby: Maternal Care and Mental Health. World Health Organization, Genf 1952
  • Mary Ainsworth et al.: Deprivation of Maternal Care. A Reassessment of its Effects. World Health Organization, Genf 1962
  • Josef Langmeier, Zdeněk Matějček: Psychische Deprivation im Kindesalter, Kinder ohne Liebe. Verlag Urban & Schwarzenberg, München 1977.
  • Walter G. Runciman: Relative Deprivation and Social Justice: a Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century Britain. 1966

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Anne Kratzer: Pädagogik: Erziehung für den Führer. – Um eine Generation aus Mitläufern und Soldaten heranzuziehen, forderte das NS-Regime von Müttern, die Bedürfnisse ihrer Kleinkinder gezielt zu ignorieren. (Memento vom 2. Februar 2019 im Internet Archive) Die Folgen dieser Erziehung wirken bis heute nach, sagen Bindungsforscher. Spektrum der Wissenschaft, 17. Januar 2019. „Bis Kriegsende erreichte es, durch NS-Propaganda beworben, eine Auflage von 690 000 Stück. Aber auch nach dem Krieg wurde es – vom gröbsten Nazijargon bereinigt – bis 1987 noch einmal von fast genauso vielen Deutschen gekauft: am Ende insgesamt 1,2 Millionen Mal.“ Damit zählte es zu den meistverkauften Erziehungragebern und zum offiziellen Lehrmaterial vährend der NS-Zeit und danach bis in die 70er Jahre.
  2. Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft.
  3. Berthold Dietz: Soziologie der Armut: Eine Einführung. Campus, 1997, S. 99.
  4. Detlef Baum: Relative Deprivation und politische Partizipation. Sozialstrukturelle Bedingungen politischer Beteiligung. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 1978, ISBN 3-261-02514-X, S. 21. Vgl. Gerd Iben: Kompensatorische Erziehung: Analysen amerikanischer Programme. Juventa-Verlag, München 1974, ISBN 3-7799-0604-X, S. 13.
  5. Peter O. Güttler: Sozialpsychologie: Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen. 4. Aufl. Oldenbourg, 2003, S. 171.
  6. Rabea Krätschmer-Hahn: Geht es den Arbeitslosen zu gut? Zur Soziologie von Deprivation und Protest. DUV, 2004, S. 37.
  7. „Social Toxicity“ Showing Effects in Children. (Memento vom 1. Februar 2008 im Internet Archive) Abgerufen 17. Januar 2008.
  8. Toni Mayr: Entwicklungsrisiken bei armen und sozial benachteiligten Kindern und die Wirksamkeit früher Hilfen. In: Hans Weiß (Hrsg.): Frühförderung mit Kindern und Familien in Armutslagen. Ernst Reinhardt Verlag, München/Basel 2000, ISBN 3-497-01539-3, S. 144.
  9. Gerhard Beisenherz: Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Kainsmal der Globalisierung. Leske und Budrich, Opladen 2002, S. 315.
  10. a b AWO-Armutsstudie: Von 100 armen Kita-Kindern schafften es nur vier aufs Gymnasium (Memento vom 1. Februar 2012 im Internet Archive) (PDF; 612 kB). Abgerufen am 17. Januar 2008.