Diary Slam

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Ein Diary Slam ist eine Veranstaltung, auf der Menschen vor Publikum aus ihren Tagebüchern vorlesen. Bei einer Veranstaltung treten üblicherweise mehrere Vortragende im Stile eines Poetry Slam auf. Die ausgewählten Tagebuchpassagen datieren meist aus Jugend und Pubertät der Vortragenden und erlauben eine entsprechende zeitliche und biographische Distanz zu den oft ungewollt komischen Inhalten. Den ersten Diary Slam im engeren Sinne gab es 2005 unter dem Namen Cringe Night (dt.: „Schäm-Abend“) in Brooklyn; seitdem finden solche Veranstaltungen regelmäßig in nordamerikanischen und europäischen Städten statt.

Inhalt und Ablauf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Diary Slams finden meist als abendliche Veranstaltungsreihe in Cafés, Bars oder Klubs statt, die bereits als Veranstaltungsorte für andere Spoken-Word-Performances dienen. Kern des Diary Slam ist das Vortragen von Tagebuch-Auszügen durch die Verfasser selbst. Meist wird durch die Veranstalter moderiert und die Vortragenden liefern dazu etwas Kontext zu den jeweiligen Auszügen, die jedoch nicht verändert oder redigiert werden sollen. Eine Wertung durch Applaus oder Jury im Stile eines Slam-Poetry-Wettbewerbs ist optional.[1]

Die meisten Vortragenden sind weiblich.[2] Schwerpunkt der vorgetragenen Auszüge sind typische Teenager-Themen wie die erste Liebe, Pubertät und Sexualität, Eltern und Geschwister sowie der Freundeskreis. Der zeitliche Mindestabstand zwischen Niederschrift des Tagebuchs und Vortrag im Diary Slam ist meist größer als zehn Jahre, das Alter der Vortragenden reicht von Mitte Zwanzig bis Ende Dreißig. Manche Veranstalter von Diary Slams vermuten, dass sich der Umgang von Teenagern mit Privatheit durch das Aufkommen von Myspace, Blogs und Facebook ab der Jahrtausendwende derart verändert hat, dass für Diary Slams geeignete Teenager-Tagebücher heute eine historische Textgattung sind.[3]

Das unerlaubte Lesen fremder Tagebücher gilt als Tabu, entsprechend bietet ein öffentlicher Vortrag des vormals Geheimen den Reiz des Verbotenen,[4] erlauben auch Empathie.[5] Die vorgetragenen Texte amüsieren im besten Fall durch unfreiwillige Komik, die sich in abrupten thematischen Brüchen, unangemessenen Gefühlsschwankungen und Stilblüten manifestiert. Die Spannung zwischen Publikum und Vortragenden ist mit Exhibitionismus und Voyeurismus nur unzureichend beschrieben, bestenfalls erleben Vortragende ein „Katharsis[6]-Erlebnis durch Offenbarung ihres früheren, angstgeplagten pubertären Ich, während sich das Publikum solidarisieren kann.[3]

Geschichte und Verbreitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Vorläufer des Diary Slam gilt die Reihe Mortified (dt.: „beschämt“ bzw. „gedemütigt“) des amerikanischen Comedians David Nadelberg. In diesem Live-Format präsentieren Menschen seit 2001 auf der Bühne private Objekte wie Kalender, Fotos oder Tagebücher und erzählen dazu Geschichten. Die ersten Mortified-Sessions fanden in Los Angeles statt, später auch in anderen Städten an der Westküste. Daraus entstand die 2011 auf dem Sundance Channel ausgestrahlte Fernsehserie The Mortified Sessions, bei der Prominente aus ihrer Kindheit erzählen.[7] Nadelberg veröffentlichte auch zwei Bücher mit Auszügen aus Tagebüchern.

Die amerikanische Studentin Sarah Brown begann 2001 in Oklahoma damit, peinliche oder sonst lesenswerte Auszüge aus ihren eigenen Teenager-Tagebüchern an Freunde zu senden. Diese E-Mails fanden Anklang und wurden weit verbreitet, so dass Brown 2005 nach ihrem Umzug von Tulsa nach New York eine Live-Version konzipierte.[8] Der erste Diary Slam unter dem Titel Cringe Night (oder einfach nur Cringe, also „schämen“) fand am 6. April 2005 in Freddy’s Bar & Backroom in Brooklyn statt, und wurde danach monatlich wiederholt.[9] Üblicherweise treten an einem Abend zehn bis zwölf Tagebuch-Schreiber auf; die Veranstaltung dauert zwei bis drei Stunden.[6] Nachdem überregionale Medien über den Erfolg der monatlichen Reihe berichteten, produzierte Brown einen Pilotfilm für eine Fernsehserie für den Sender TLC. 2008 veröffentlichte sie ein Buch,[9] und organisierte während eines Urlaubs in London die erste Cringe Night in Europa. Dort findet diese Veranstaltung nun monatlich in einem Pub an The Strand statt.[10]

Im deutschsprachigen Raum führten Ella Carina Werner und Nadine Wedel den ersten Diary Slam 2007 in Berlin ein, bei dem sie selbst aus ihren Jugend-Tagebüchern vorlasen.[11] Seit 2011 etablierten sie das Tagebuch-Wettlesen in Hamburg-Altona. 2013 veröffentlichten die beiden Frauen ein Buch mit Beiträgen aus ihrer monatlichen Veranstaltungsreihe.[12] Ende 2011 fand der erste Diary Slam in Münster statt, inspiriert von der Londoner Cringe Night.[13] In der Folge entstanden weitere Diary-Slam-Veranstaltungsreihen in München (seit 2012[14]) und in Frankfurt und Köln (beide seit 2013). Seit 2013 veranstaltet Diana Köhle Tagebuch-Slams in Österreich.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Sarah Brown (Hrsg.): Cringe : Toe-Curlingly Embarrassing Teenage Diaries, Letters and Bad Poetry. Crown Archetype, New York 2008, ISBN 978-0-307-39358-6. (Britische Ausgabe: Michael O’Mara, London 2009, ISBN 978-1-84317-345-8.)
  • David Nadelberg (Hrsg.): Mortified : Real Words, Real People, Real Pathetic. Simon & Schuster, New York 2006, ISBN 978-1-4169-2807-2.
  • Ella Carina Werner, Nadine Wedel: Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen : Das Beste aus wieder ausgegrabenen Jugend-Tagebüchern. Fischer Scherz, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-651-00061-2.
  • Diana Köhle (Hrsg.): „Wir haben nämlich beide eine Zahnspange, aber er nur oben“. Das Beste aus 4 Jahren Tagebuch-Slam. Anthologie. Holzbaum-Verlag, Wien 2016, ISBN 978-3-902980-61-8.
  • Diana Köhle (Hrsg.): „Verliebt (später nicht mehr)“. Das Beste aus 7 Jahren Tagebuch-Slam. Anthologie. Holzbaum-Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-902980-91-5.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Eva Eusterhus: Geheimnisse vorlesen, ohne rot zu werden. In: Die Welt vom 9. August 2011.
  2. Christoph Bungartz (Redaktion): Peinlichkeit trifft Poesie - Diary-Slams erobern Deutschland (Memento vom 11. April 2012 im Internet Archive). Beitrag im NDR-Kulturjournal, Erstsendung am 2. April 2012. (Video Online)
  3. a b Liz Miller: An Interview with David Nadelberg (Memento des Originals vom 30. April 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bookslut.com. In: Bookslut, März 2008
  4. Dirk Schneider: Liebes Tagebuch@1@2Vorlage:Toter Link/wissen.dradio.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. In: Spielraum, Reihe im Deutschlandradio, Erstsendung am 1. Dezember 2011.
  5. „Diary Slam“ : Vorlesen aus Tagebüchern (Memento des Originals vom 27. März 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.hamburg.1730sat1.de. In: SAT 1, Regionalfernsehen Hamburg und Schleswig-Holstein, Erstsendung am 9. Juli 2012.
  6. a b Erika Hayasaki: Teen diary readings offer a Cringe binge. In: Los Angeles Times vom 29. April 2007.
  7. Neil Genzliger: Stars Peruse a Shoebox’s Worth of Childhood Memories. In: New York Times vom 4. Dezember 2011.
  8. Robert Smith: Sharing Private Shame for Public Laughs. Erstausstrahlung auf NPR am 15. Juli 2007.
  9. a b Cringe-Blog von Sarah Brown. (Abgerufen im März 2013.)
  10. Veronica Lee: Cringe at your teenage diaries. In: The London Evening Standard vom 14. Dezember 2009.
  11. Janine Albrecht: Diary Slam: Von Küssen und Ehekrisen, dw.com vom 3. Mai 2013.
  12. Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen Buchsite beim Fischerverlag.
  13. Kathrin Breer: Pubertätsbeichten: „Liebes Tagebuch, ich bin verliebt. Endgültig!“. In: Unispiegel vom 19. Dezember 2011.
  14. Kathrin Hollmer: „Die kommende Woche wird ultimativ geil“. In: jetzt.de vom 30. Oktober 2012.