Dieter Schnebel

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Dieter Wolfgang Schnebel (* 14. März 1930 in Lahr/Schwarzwald; † 20. Mai 2018 in Berlin[1]) war ein deutscher Komponist, Musikwissenschaftler und evangelischer Theologe.

Leben und Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dieter Schnebel verfolgte nach dem Studium an der Hochschule für Musik Freiburg (1949–1952) und dem engen Kontakt zu den Darmstädter Ferienkursen Studien der evangelischen Theologie, der Philosophie und der Musikwissenschaft an der Universität Tübingen. Daran schloss sich ab 1956 eine Pfarr- und Lehrertätigkeit in Kaiserslautern, von 1963 bis 1970 an der Wöhlerschule in Frankfurt am Main und von 1970 bis 1976 am Oskar-von-Miller-Gymnasium München[2] an. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Camilla heirateten 1970 Dieter Schnebel und die Übersetzerin Iris von Kaschnitz (1928–2014), Tochter der Dichterin Marie Luise Kaschnitz. Nach Angabe von Achim Freyer heiratete Schnebel 2017 ein drittes Mal.[3]

Schnebel war von 1976 bis 1995 Professor für Experimentelle Musik und Musikwissenschaft[4] an der Hochschule der Künste Berlin. Zu seinen Schülern zählten unter anderem Anna Clementi, Chaya Czernowin, Silke Egeler-Wittmann[5], Suguru Goto[6], Michael Hirsch, Henrik Kairies[7], Christian Kesten[8], Chico Mello[9], Iris ter Schiphorst, Steffi Weismann und Michael Wertmüller. Seit 1991 war er Mitglied der Berliner Akademie der Künste und erhielt im selben Jahr den Kunstpreis von Lahr. Seit 1996 war Schnebel Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Auf Einladung von Walter Fink war er 1996 der sechste Komponist im jährlichen Komponistenporträt des Rheingau Musik Festivals. 1999 wurde er mit dem Preis der Europäischen Kirchenmusik ausgezeichnet. Seine Tätigkeit als Theologe setzte Schnebel durch Predigen an der Johann-Sebastian-Bach-Kirche in Berlin-Lichterfelde fort.

Schnebel experimentierte in den 1950er Jahren in seinen ersten Kompositionen zunächst mit seriellen Techniken und entdeckte dann, nicht zuletzt unter dem Einfluss von John Cage (seit dessen Auftritten bei den Darmstädter Ferienkursen 1958), experimentelle Möglichkeiten für das Komponieren mit Stimme, Text und Szene. Es entstanden, in höchst eigene und unkonventionelle Werk-Gruppen geordnet, Stücke mit verschiedensten Besetzungen und für verschiedenste Kontexte. Schlüsselpositionen haben hier u. a. folgende Kompositionen: Glossolalie (1959/1961)[10][11], der vierteilige Zyklus Für Stimmen (…missa est), in dem Schnebel mit Raum und Improvisation experimentiert[12], Maulwerke (1968–1974)[13] und Sinfonie X (1987–1992). In einem Teil seiner Kompositionen bezieht Schnebel sich bearbeitungsartig (Titel dieser Werk-Gruppe Re-Visionen)[14] auf Musik älterer Komponisten. Außerdem verfasste er zahlreiche musikwissenschaftliche Publikationen u. a. zu Werken von Franz Schubert, Giuseppe Verdi, Richard Wagner und Anton Webern. Bei den Weltmusiktagen der International Society for Contemporary Music (ISCM World Music Days) wirkte er 1977 und 1982 als Juror.[15][16]

Einen weiteren wichtigen, immer wieder aufgenommenen thematischen Schwerpunkt in Schnebels Werk bildet die kompositorische Auseinandersetzung mit geistlichen Themen – angefangen von der experimentellen missa der späten 1950er Jahre bis zu seinen jüngeren Beiträgen für den Kirchenpavillon der EXPO 2000 und die documenta 8. Seine entsprechenden Werke wollte Schnebel aber ausdrücklich nicht als Kirchenmusik im liturgischen Sinn verstanden wissen, sondern als autonome Werke der Neuen Musik mit einem explizit „avantgardistischen“ Anspruch.[17]

Als einer der ersten Vertreter der sogenannten Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre schrieb Schnebel Stücke, die ausdrücklich für eine Aufführung durch musikalische Laien und insbesondere durch Schüler konzipiert waren. Darüber hinaus präsentierte er auch seine anderen Werke regelmäßig in diversen Schulen, um den Musikunterricht zu ergänzen und interessierten Schülern einen Einblick in die Kunstmusik der Gegenwart zu ermöglichen.[18]

Grab von Dieter Schnebel

Das Grab von Schnebel und seiner 2014 verstorbenen Frau befindet sich auf dem Friedhof Dahlem.

Preise und Auszeichnungen (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werke (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Orchester
    • Compositio (1955/1956; 1964/1965)
    • Orchestra, Symphonische Musik für mobile Musiker (1974–1977)
    • Canones (1975–1977; 1993/1994)
    • Schubert-Phantasie für geteiltes großes Orchester und Stimmen (1978, rev. 1989)
    • Thanatos Eros (Traditione III,1), Sinfonische Variationen für großes Orchester (1978/79/81/82/84/85)
    • Missa, Dahlemer Messe für vier Solostimmen, zwei gemischte Chöre, Orchester und Orgel (1984–1987)
    • Mahler-Moment für Streicher (1985)
    • Sinfonie X (1987–1992; 2004/2005)
    • Mozart-Moment (1988/1989)
    • Schumann-Moment (1989)
    • Verdi-Moment (1989)
    • St. Jago, Musik und Bilder zu Kleist (1989–1991, rev. 1995)
    • Janáček-Moment (1991/1992)
    • Totentanz, Ballettoratorium für zwei Sprecher, Sopran, Bass, Chor, Orchester und Live-Elektronik (1992–1994)
    • inter (1994)
    • O Liebe! – süßer Tod..., Fünf geistliche Lieder nach Johann Sebastian Bach für Mezzosopran, Kammerchor und kleines Orchester (1995)
    • Ekstasis für Sopran-Solo, Sprecher, zwei Kinderstimmen, Schlagzeug-Solo, Chor und großes Orchester (1996/1997; 2001/2002)
  • Kammermusik, experimentelle Stücke
    • Analysis für Saiteninstrumente und Schlagzeug (1953)
    • Stücke für Streichquartett und Streichinstrumente (1954/1955)
    • Fragment für Kammerensemble und Stimme ad libitum (1955)
    • Das Urteil nach Franz Kafka, Raummusik für Instrumente, Stimmen und sonstige Schallquellen (1959, rev. 1990)
    • Glossolalie 61 (1960–1965)
    • Zyklus Für Stimmen (… missa est): I dt 31,6 für 12 Vokalgruppen (1956–1958), II AMN für 7 Vokalgruppen (1958/1966–1967), III :! (madrasha II) für 3 Chorgruppen und Tonband ad lib. (1958/1967–1968), IV Choralvorspiele I/II für Orgel, Nebeninstrumente, Tonband und Verstärker (1966/1968–1969)
    • Maulwerke (1970); Inszenierung 1977 durch Achim Freyer, Musiktheaterwerkstatt Wiesbaden Version 2010
    • Körpersprache, Organkomposition für 3–9 Ausführende (1979/1980)
    • Beethoven-Symphonie für Kammerensemble (1985)
    • Metamorphosenmusik für Stimme und Kammerensemble (1986/1987)
    • Metamorphosen des Ovid oder Die Bewegung von den Rändern zur Mitte hin und umgekehrt, Bühnenmusik für 11 Streicher und Stimmen (1987)
    • Mit diesen Händen für Stimme und Cello mit Rundbogen (1992)[20]
    • Baumzucht (J. P. Hebel), Musikalische Lesung für Sprecher und Kammerensemble (1992/1995)
    • Magnificat (1996/97)[21]
    • Flipper, Kammermusik für Spielautomaten, Darsteller, Instrumente und Tonband (2002/2003)
    • Drei Kafka-Dramolette, 2009: Der plötzliche Spaziergang, Entschlüsse und Gib's auf![22]
    • Haydn-Destillate (2009), Klaviertrio für das Klaviertrio Eisenstadt zum Haydn-Gedenkjahr, d2H - Dedicated to Haydn[23]

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • MO-NO. Musik zum Lesen – Music to Read. DuMont, Köln 1969, erweiterte Neuausgabe: Edition MusikTexte, Köln 2018.
  • Denkbare Musik. Schriften 1952–1972. Herausgegeben von Hans Rudolf Zeller. DuMont Schauberg, Köln 1972.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hrsg.): Dieter Schnebel. Musik-Konzepte Heft 16. Edition Text u. Kritik, München 1980, ISBN 3-88377-056-6.
  • Nikša Gligo: Schrift ist Musik? Ein Beitrag zur Aktualisierung eines nur anscheinend veralteten Widerspruchs. in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music, 18, 1987, 1, S. 145–162 (1. Teil); 19,1988, 1, S. 75–115 (2. Teil) (eine Analyse von Schnebels MO-NO)
  • Werner Grünzweig, Gesine Schröder, Martin Supper (Hrsg.): Schnebel 60. Wolke, Hofheim 1990, ISBN 3-923997-36-1.
  • Janina Müller: Wider das zerstreute Hören. Dieter Schnebel und das Radio. In: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung, Nr. 34, April 2021, S. 22–27 (online).
  • Andreas Münzmay, Immer Neue Musik im kirchenmusikalischen Raum. Zum Verhältnis von Improvisation, Interpretation und Determination im Vokal- und Orgelwerk von Dieter Schnebel. In: Musikalische Interpretation im Dialog. Musikwissenschaftliche und künstlerische Praxis, hg. von Marion Saxer und Andreas Münzmay, München: text+kritik, 2017, S. 199–216.
  • MusikTexte 57/58, März 1995, 23–117 (Schnebel-Themenschwerpunkt mit Beiträgen von Dieter Schnebel, Ulrich Dibelius, Martin Wilkening, Hanns-Werner Heister, Reinhard Oehlschlägel, Gisela Gronemeyer, Hartmut Lück, Max Nyffeler, Peter Ruzicka, Theda Weber-Lucks, Alexander Kopp, Gisela Nauck, Hans Wüthrich, F. W. Bernstein, Clytus Gottwald, Bernd Leukert und Werkverzeichnis).
  • Gisela Nauck: Schnebel. Lesegänge durch Leben und Werk. Schott, Mainz u. a. 2001, ISBN 3-7957-0303-4.
  • Simone Heilgendorff: Experimentelle Inszenierung von Sprache und Musik. Vergleichende Analysen zu Dieter Schnebel und John Cage. Rombach Verlag, Freiburg i. Br. 2002, ISBN 3-7930-9267-4. (Reihe Cultura Bd. 16)
  • Asja Jarzina: Gestische Musik und musikalische Gesten. Dieter Schnebels „visible music“. Weidler Buchverlag, Berlin 2005, ISBN 3-89693-258-6. (= Körper Zeichen Kultur Bd. 14.)
  • Theo Rommerskirchen: Dieter Schnebel. In: viva signatur si! Remagen-Rolandseck 2005, ISBN 3-926943-85-8.
  • Andreas Weiland: KÖRPERSPRACHE. Eine ‚Organkomposition’ von Dieter Schnebel, uraufgeführt in der Neuen Galerie in Aachen am 24. März 1986. in: Art in Society, No. 11 (Spring/Summer, 2011) [1].
  • Andreas Weiland: Die Metamorphosen für Mezzosopran und kleines Orchester Dieter Schnebels, uraufgeführt in der Neuen Galerie in Aachen. ebenda [2].
  • Ariane Jeßulat: Handwerk als Text. Zu Dieter Schnebels Kontrapunkt. In: Mythos Handwerk. Zur Rolle der Musiktheorie in aktueller Komposition, hrsg. von Ariane Jeßulat, Königshausen & Neumann, Würzburg 2015, ISBN 978-3-8260-5488-4, S. 317–344.
  • Theda Weber-Lucks (Hrsg.): Dieter Schnebel. Querdenker der musikalischen Avantgarde. edition text + kritik, München 2015, ISBN 978-3-86916-395-6.
  • Eleonore Büning: Das Glück der Reprise. Zum Tod von Dieter Schnebel. In: nmz, 6/2018, Nachruf, Magazin S. 6.
  • Eva Lorenz: Die gewandelte Rollenverteilung von Komponist, Interpret und Rezipient in der Neuen Musik. Dargestellt am Beispiel von Dieter Schnebel, Mauricio Kagel und Vinko Globokar. (= Forum Musikwissenschaft, hrsg. von Peter Ackermann, Band 5). Fernwald 2016, ISBN 978-3-929379-42-6.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nachrufe

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Dieter Schnebel im Alter von 88 Jahren gestorben. In: Deutschlandfunk Kultur. 20. Mai 2018, abgerufen am 20. Mai 2018.
  2. Kurzbiografie der Akademie der Künste, adk
  3. Zum Tod von Dieter Schnebel – Ein radikaler Avantgardist. Deutschlandfunk Kultur vom 20. Mai 2018
  4. Gisela Nauck: Dieter Schnebel. Lesegänge durch Leben und Werk. Schott, Mainz u. a. 2001, ISBN 3-7957-0303-4, S. 241.
  5. http://www.neuemusik-rlp.de/biografie%20details.htm
  6. Suguru Goto: „Musik zum Sehen, Sichtbares zum Hören“. Meine Begegnung mit Dieter Schnebel. In: Theda Weber-Lucks (Hrsg.): Dieter Schnebel. Querdenker der musikalischen Avantgarde. edition text + kritik, München 2015, ISBN 978-3-86916-395-6, S. 244.
  7. Schlossparktheater Berlin: Schlosspark Theater Künstler. In: Schlosspark Theater Künstler. Halliwood Film GmbH Schlosspark Theater Berlin, 1. Januar 2019, abgerufen am 15. April 2019.
  8. Christian Kesten: Christian Kesten Biographie. In: Christian Kesten. Christan Kesten, 1. Mai 2004, abgerufen am 15. April 2019.
  9. Biographie auf: latinoamerica-musica.net
  10. Schott Music: Glossolalie Projekte III. In: schott-music.com. Schott Music, 2019, abgerufen am 15. April 2019.
  11. Schott Music: Glossolalie 61 Projekte IV. In: schott-music.com. Schott Music, 2019, abgerufen am 15. April 2019.
  12. Vgl. Münzmay 2017 (siehe Literaturverzeichnis)
  13. Schott Music: Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte. In: schott-music.com. Schott Music, 2019, abgerufen am 15. April 2019.
  14. Schott Music: Re-Visionen. In: schott-music.com. Schott Music, 2019, abgerufen am 15. April 2019.
  15. Programme der ISCM World Music Days von 1922 bis heute
  16. Anton Haefeli: Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik – Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart. Zürich 1982, S. 480ff
  17. Vgl. Nauck 2001 (siehe Literaturverzeichnis), S. 84ff und 169ff.
  18. So geschehen 2005 im Scheffel-Gymnasium in seiner Heimatstadt Lahr (Schwarzwald).
  19. Stiftung Bibel und Kultur - Auszeichnungen. Abgerufen am 27. Dezember 2019.
  20. Mit diesen Händen – Uraufführung 1992 Köln (Memento vom 17. Oktober 2013 im Internet Archive)
  21. http://www.adk.de/de/projekte/2015/Kontakte/Bio_Schnebel.htm
  22. Melancholische Pneumatik, auf minimalistische Schrittfolgen reduziert. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. Januar 2010.
  23. http://capriccio.at/d2h-dedicatedtohaydn