Friedrich Liebling

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Friedrich Liebling, Zürich 1974

Friedrich Liebling (* 25. Oktober 1893 in Augustowka, Galizien, Österreich-Ungarn, heute Awhustiwka (russisch: Awgustowka), Rajon Kosowa, Oblast Ternopil, Ukraine als Salomon Liebling; † 28. Februar 1982 in Zürich, Schweiz) war ein nicht-akademisch[1] ausgebildeter Psychologe aus der Schule der Individualpsychologie Alfred Adlers.

Biografie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Liebling wurde als ältester Sohn eines Gutsverwalters in Galizien geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb sein Vater. So bald wie möglich musste er sich an dessen Stelle um seine jüngeren Geschwister kümmern. Gesicherte Informationen über seine Jugend und spätere Zeiten sind spärlich. Sie wurden von ihm und seinen nahen Angehörigen zurückgehalten.[2]

Dieses biografische Kapitel von Sorg/König wird vielfach zitiert, u. a. von

  • Hugo Stamm, VPM[3]
  • Peter Boller[4]

Er soll 1913 nach Wien gekommen sein, um ein Medizinstudium aufzunehmen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich als Freiwilliger und kämpfte vier Jahre an der Ostfront. Die Kriegserlebnisse machten ihn zum Pazifisten, der er zeitlebens blieb. Gegen Ende des Krieges änderte er seinen Vornamen von Salomon zu Friedrich Liebling.

Liebling kehrte nach Wien zurück. Hier lernte er den „Friedenskrieger“ und Anarchisten Pierre Ramus kennen, der sein politisches Denken stark beeinflusste. Er wurde in der von Ramus initiierten Gruppe Kropotkin aktiv und begann, sich für die tiefenpsychologischen Grundlagen von Herrschaft zu interessieren.
Liebling wurde Schüler von Alfred Adler. Es war die Zeit des Roten Wien, in der Adlers Individualpsychologie, neben Freuds Psychoanalyse, dank ihrer Erfolge bei der Wiener Schulreform große Verbreitung fand. 1924 gründete er die erste Praxis in der Fröbelgasse 19 in Wien. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich veranlasste ihn und seine jüdische Familie 1938 zur Flucht in die Schweiz. Seine Mutter und zwei Geschwister blieben in Wien und wurden 1942 im KZ ermordet.[5] Die Familie fand zuerst Zuflucht in Schaffhausen, wo er nur in relativer Sicherheit lebte; es gab wiederholt Aufforderungen, die Schweiz zu verlassen. Erst 1950 erhielt er die formelle Aufenthaltsbewilligung. In diesen 12 Jahren bestand ein Arbeitsverbot. Er verbrachte viel Zeit in Bibliotheken und verschaffte sich damit eine breite autodidaktische Basis für seine spätere Tätigkeit in Zürich. Er unterlief das Publikationsverbot und veröffentlichte ca. 100 Zeitungsartikel unter Pseudonym, z. T. mit den Pflegesöhnen Josef und Leo Rattner.[6] 1951 zog er nach Zürich und begann mit dem jungen Josef Rattner, den er als Pflegesohn adoptiert hatte, den Aufbau der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle, die später als „Zürcher Schule für Psychotherapie“ bekannt wurde.

Da es eine Traumatherapie (z. B. bei PTBS) noch nicht gab und er eine Supervision nicht beanspruchte, suchte er einen Ausweg in Utopie als Verleugnung des Unerträglichen,[7] eine Basis für viele Widersprüche: Verleugnung von Tatsachen und Realitätsverbiegungen.[8] Bei Liebling waren auch Auffälligkeiten (paranoides Verhalten) zu beobachten.[9]

Trotz Verbot politischer Tätigkeit beriet er offen in seiner Praxis Militärdienstverweigerer. Er propagierte gewaltfreie Erziehung und vermittelte praktisch-psychologische Hilfestellungen in Schule, Universität, Beruf und in Beziehungen. Er trat auch als psychologischer Gutachter vor Gericht auf.[10]
Lieblings autoritäres Auftreten führte aber auch dazu, dass einige seine Schule verließen und Gruppen bildeten, „als ob sie gleichgeschaltet wären“.[11]

Nach seinem Tod gründeten einige der früheren Mitarbeiter und Studenten, darunter die spätere Leiterin Annemarie Buchholz-Kaiser, den Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM), der damals als „Psychosekte“ galt.

Praxis und Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die theoretischen Grundlagen seiner Praxis stützten sich auf die bis dahin gesicherten Erkenntnisse der tiefenpsychologischen Forschung. In der Individualpsychologie Alfred Adlers sah Liebling den fruchtbarsten Ansatz zur Weiterentwicklung der psychologischen Forschung. Um dem einzelnen Menschen in seiner inneren Not helfen zu können, versuchte er jenseits von jedem „Schulstandpunkt“ alle Einsichten und Erfahrungen der modernen Seelenkunde über den Menschen (wie Neopsychoanalyse, Kulturanthropologie usw.) für seine tägliche Praxis nutzbar zu machen. Er verband psychologisches Wissen mit dem Wissen um kulturelle Einflüsse, geschichtliche Entwicklungen und Geistesströmungen.

«Der Mensch, der zu uns kommt, der Mensch, der Schwierigkeiten hat in seinem Leben, mit seiner Frau, mit seinem Mann, seinem Kind, seinem Nachbarn, seinem Chef oder seinem Untergebenen, der Mensch, der beim Lernen Probleme hat, oder sonst in seinem Leben nicht zurecht kommt, der ist bei uns kein «Fall», kein «Patient» und kein «Klient». Er ist auch nicht krank. Nein, er ist in seiner Kindheit falsch informiert worden. Und was wir machen? Wir informieren ihn richtig. Das heisst, wir erklären ihm die Grundlagen der modernen Psychologie. Er erforscht seine Lebensgeschichte, erkennt, wie er geworden ist, welche Meinungen er über das Leben, den Mitmenschen und sich hat. Indem wir ihm die Natur des Menschen erklären, beginnt er selbst zu experimentieren. (…) Wenn sie zu mir kommen, müssen sie selbst zu denken beginnen. (…) Das schwierige an der Psychologie ist, die Veränderung der Gefühle.»

Friedrich Liebling

Im Sinne einer wirksamen Prophylaxe gegen die seelische Not förderte er die Volksaufklärung und die Schulung der Menschen im Sinne der Psychohygiene. Zusammen mit Josef Rattner verfasste er unzählige Artikel in Zeitschriften und Büchern, gründete den Verlag Psychologische Menschenkenntnis und organisierte wöchentliche berufsspezifische Kurse und Seminarien für Psychologen, Ärzte, Lehrer und Eltern sowie mehrmals jährlich interdisziplinäre Tagungen und Kongresse. In der Tradition von Alfred Adler wurden Kinder-, Jugend- und Familienferien durchgeführt, in denen gemeinsam gelernt wurde. In einer jahrzehntelangen Entwicklung entstand unter der Leitung von Friedrich Liebling eine Beratungsstelle. Gleichzeitig war die Zürcher Schule für Psychotherapie eine Forschungs- und Ausbildungsstätte. Von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre war die Zürcher Schule die größte psychologische Bewegung der Schweiz mit zuletzt gut 3000 Teilnehmern im In- und Ausland.[12]

Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Aufsätze. Verlag Menschenkenntnis, Zürich 1992, ISBN 3-906989-24-0.
  • Die Lehrer und ihre Sorgen. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1983, ISBN 3-85999-006-3 (Neue Wege in der Psychologie. Band 3).
  • Die Eltern und ihre Sorgen. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1982, ISBN 3-85999-005-5 (Neue Wege in der Psychologie. Band 2).
  • Lebensprobleme im Lichte der modernen Psychologie. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1980, ISBN 3-85999-001-2 (Neue Wege in der Psychologie. Band 1).

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Marianne Schuler: Die Zürcher Schule. Und der Kampf um Friedrich Lieblings Vermächtnis. Zürich: Edition 381. 2019, ISBN 978-3-907110-06-5.
  • Gerda Fellay: Friedrich Liebling. Leben und Werk – Eine Einführung. Sitten: Verlag Gegenseitige Hilfe. 2010, ISBN 978-3-906261-06-5
  • Peter Boller: Liebling, Friedrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  • Friedrich Liebling 1893–1982 zum Gedenken. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1983, ISBN 3-85999-016-0.
  • Reinhard Müller: Friedrich Liebling 1893–1982, Psychologe und Psychotherapeut. In: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter Nr. 17, Graz 1997, S. 17–19.
  • Gerda Fellay: La conception de l’éducation de Friedrich Liebling (1893–1982). Peter Lang, Bern/Berlin/Frankfurt am Main/New York/Paris/Wien 1997, ISBN 3-906754-65-0, 2 Bände.
  • Josef Rattner: Friedrich Liebling und die Gruppentherapie. In: G. Mackenthun und A. Lévy (Hrsg.): Gestalten um Alfred Adler – Pioniere der Individualpsychologie Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 3-8260-2156-8, S. 175–202.
  • Gerda Fellay: Friedrich Liebling. Psychologue libertaire. Lyon: Atelier de création libertaire 2004, ISBN 2-905691-93-X.
  • Moritz Grasenack (Hrsg.): Die libertäre Psychotherapie von Friedrich Liebling. Edition AV, Lich 2005, ISBN 3-936049-51-3.
  • Peter Boller: Mit Psychologie die Welt verändern: Die „Zürcher Schule“ Friedrich Lieblings und die Gesellschaft 1952–1982. Chronos, Zürich 2007, ISBN 3-0340-0853-8. (Zuerst unter dem Titel: Mit Psychologie die Welt verändern? Friedrich Lieblings „Zürcher Schule“ 1952–1982. Eine psychologische Schule und soziale Bewegung in biographischen Interviews als Dissertation Basel 2005).
  • Urs Hafner: Psychologie als Allheilmittel, Rezension zu Peter Boller, Mit Psychologie die Welt verändern, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 16. November 2007
  • Caprez Hans: Der Streit um Lieblings Geld und Geist: Ein Denkmal wird angesägt. In: Der Schweizerische Beobachter. Nr. 4, 1988. Glattbrugg 26. Februar 1988, S. 10–13.
  • Marianne Truttmann, Jutta Gensch, Redaktion: Was einem Menschen bei uns passieren kann. Beitrag zum 24. Kongress der Zürcher Schule für Psychotherapie vom 30. Juli bis 13. August 1983 („Weissbuch“)
  • Sebastian Borger: Dieses seligmachende Grinsen. In: Der Spiegel, Nr. 43/1992, S. 87–105.
  • Frank Nordhausen, VPM: Warnung vor einer Psychosekte. In: Die Zeit, Nr. 43, 22. Oktober 1993, S. 85 f.
  • Frank Nordhausen, Liane v. Billerbeck: Psycho-Sekten Die Praktiken der Seelenfänger, für die Fischer TB-Ausgabe aktualisierte und überarbeitete Fassung 1999, hier: Der verdeckte Kampf Der Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM), S. 267–306.
  • Ingolf Efler/Holger Reile, VPM: Die Psychosekte. rororo TB, 1995

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Bernhard Handlbauer, in: Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers. Geyer-Edition, Wien 1984, Zitat, S. 266: Spätestens ab den zwanziger Jahren zeichnete sich jedoch eine Entwicklung ab, die zu einem Charakteristikum für die Individualpsychologie werden sollte, nämlich die Dominanz der Praxis über die Theorie.
  2. Eugen Sorg, Lieblings-Geschichten Die „Zürcher Schule“ oder Innenansichten eines Psychounternehmens Weltwoche ABC Verlag Zürich, 1991: Biografisches Kapitel, Der Meister – das unbekannte Wesen, S. 109–145, unter Mitarbeit von M. König
  3. Hugo Stamm: Die Seelenfalle Psychologische Menschenkenntnis als Heilsprogramm. WerdVerlag Zürich, 1993
  4. Peter Boller: Mit Psychologie die Welt verändern. Chronos-Verlag, Zürich 2007.
  5. Eugen Sorg: Lieblings-Geschichten Die „Zürcher Schule“ oder Innenansichten eines Psycho-Unternehmens. Weltwoche-ABC-Verlag, Zürich 1991, S. 127
  6. Eugen Sorg: Lieblings-Geschichten Die „Zürcher Schule“ oder Innenansichten eines Psycho-Unternehmens. Weltwoche-ABC-Verlag, Zürich 1991, S. 118.
  7. Eugen Sorg: Lieblings-Geschichten Die „Zürcher Schule“ oder Innenansichten eines Psycho-Unternehmens. Weltwoche-ABC-Verlag, Zürich 1991, S. 143 f.
  8. Sebastian Borger: Dieses seligmachende Grinsen. In: Der Spiegel, Nr. 43, Hamburg 1992, S. 87–105.
  9. Peter Boller: Mit Psychologie die Welt verändern. Die „Zürcher Schule“ Friedrich Lieblings und die Gesellschaft, Chronos Verlag Zürich, 2007, S. 156–162
  10. Peter Boller: Mit Psychologie die Welt verändern. Die „Zürcher Schule“ Friedrich Lieblings und die Gesellschaft 1952–1982. Chronos-Verlag, Zürich 2007, S. 165, 262.
  11. Peter Boller: Mit Psychologie die Welt verändern. Die „Zürcher Schule“ Friedrich Lieblings und die Gesellschaft 1952–1982. Chronos-Verlag, Zürich 2007, S. 156–162.
  12. Verlagstext zu Boller (siehe Literatur).