Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen

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Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen[1] ist ein Roman von Friedrich Ernst Peters aus dem Jahr 1925. Das Werk ist ein zweisprachiger plattdeutsch-hochdeutscher Bildungsroman und als solcher ein Novum in der Geschichte der Gattung. Erzählt wird die Geschichte von Aufstieg und Fall eines unehelichen Kindes, das um 1900 in einem holsteinischen Dorf, dem fiktiven Vollstedt, aufwächst und als Ausgleich für die in der Jugend erlittenen Demütigungen eine militärische Karriere anstrebt. Heine will es seinem Heimatdorf zeigen („Ik wöll ju dat woll wiesen!“). Als er beginnt, die Sprossen der sozialen Leiter zu erklimmen, wird sein Jugendfeind Jürgen Grootholm zu einem Hindernis auf dem Weg nach oben. Um ihn zu „überholen“, sich an den Vollstedtern zu rächen und die berechnende Margot Kandelhardt heiraten zu können, denunziert Heinrich Steinhagen den Konkurrenten wegen einer Urlaubsüberschreitung in der Hoffnung, dessen Beförderung zu vereiteln. Damit leitet er sein eigenes Ende ein.

Der Roman gliedert sich in zwei Teile, einen plattdeutschen, Heine Steenhagens Jugend auf dem Land (dreizehn Kapitel), und einen hochdeutschen, Heinrich Steinhagens militärische Karriere (acht Kapitel). Das Ende des hochdeutschen Teils ist wieder in niederdeutscher Sprache verfasst. Damit verweist die kreisförmige Anlage des Romans den Leser zurück auf die Herkunft des Helden und seine sprachlichen Wurzeln. Die perspektivische Verschiebung, die damit einhergeht – die Dorfgemeinschaft rückt in den Vordergrund, der Held verliert an Bedeutung – zitiert über den Vergleich Heines mit Ikarus das berühmte Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Plattdeutscher Teil[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Roman beginnt mit dem Hinweis auf die erste wichtige Zäsur im Leben Heine Steenhagens, den anstehenden Eintritt in die Berufs- und Erwachsenenwelt. Er ist 11 Jahre alt und sollte eigentlich schon mit 10 als Dienstjunge bei einem Bauern arbeiten: „En Daglöhnerkind, dat möss mit teihn Johr na 'n Buern, so hürss sik dat nu eenmal.“. Die ersten drei Kapitel bestehen aus einer Rückblende auf seine Kindheit. Der Dorfklatsch offenbart dem Leser, dass Heine ein „beslapen“, also ein uneheliches Kind ist und dass sein Vater vermutlich Hinnerk Grootholm ist, der Sohn des mächtigen Amtsvorstehers Detelt Grootholm. Heines Mutter Gretjn schweigt sich zwar zu der Identität des Vaters aus, aber die Gerüchte lassen nicht nach und sie muss, schwanger, das Dorf verlassen. Nach zwei Jahren kehrt sie zurück mit ihrem Sohn und dessen Stiefvater, Hannes Schröder, einem Tagelöhner, den ein Vollstedter Bauer trotz des Widerstandes des Amtsvorstehers einstellt. Der kleine Heine wächst in Vollstedt auf und lebt in der Phantasiewelt seiner Märchenbücher. Schnell erlebt er erste Demütigungen, die seine seelische Entwicklung und seinen späteren Lebensweg bestimmen werden. Der gleichaltrige Jörn Grootholm, der Sohn des Amtsvorstehers aus zweiter Ehe, verhöhnt ihn beim gemeinsamen Blumenpflücken wegen seiner Armut. Es folgt eine Reihe weiterer Kränkungen: der Amtsvorsteher versetzt dem ahnungslosen Jungen einen brutalen Peitschenhieb ins Gesicht, weil er sich durch ihn provoziert fühlt, eine hochmütige Bauerntochter weigert sich, mit Heine zu tanzen und Jörn Grootholm erklärt ihm, dass Bauernsöhne, die keinen Hof erben, sich „infreen“, d. h. eine Erbin heiraten können, aber: „Infreen künnt sik doch bloß Buerjungs.“, eine neue Demütigung für Heine, das Tagelöhnerkind. Als der Protagonist durch die Näherin Lena Wiem Einblick in die Skandalchronik Vollstedts bekommt, lernt er, sein Heimatdorf zu verachten. Trotzdem scheint sich durch Jochen Suhr, einen Großknecht und väterlichen Freund, doch noch alles zum Guten zu wenden. Heine erarbeitet sich durch seine guten Leistungen den Respekt der Dorfgemeinschaft und Jochen Suhr bewahrt ihn vor Ausschweifungen. Beide Bezugspersonen, Lena Wiem und Jochen Suhr, empfehlen Heine eine Karriere beim Militär, das einen Aufstieg unabhängig vom sozialen Status ermöglicht. Heine fühlt sich angezogen durch diesen Berufsstand, der in dem Ruf steht, Bauern keine Vorteile einzuräumen. Dann verliebt er sich in Anna Pahl und macht ihr in einer erotischen Fensterszene Avancen. Seine Eifersucht verleitet ihn dazu, später eine Prügelei mit Jörn Grootholm anzufangen, bei der Anna sich sofort auf die Seite des Bauernsohnes Jörn schlägt. Jochen Suhr trennt die beiden und die Sache verläuft im Sand. Der Amtsvorsteher lässt Heine jedoch ausrichten, dass er sich zu entschuldigen habe. Dieser lehnt ab und droht, ihm das Haus über dem Kopf anzuzünden. Anna Pahl wird schwanger von Heine und muss sehr schnell den jungen Sohn eines Meiereiverwalters aus dem Nachbardorf heiraten. Der Bauer regelt die Angelegenheit mit Geld und Heine betrinkt sich aus Verzweiflung. Er will, wie Jörn Grootholm, zur Artillerie, um sich mit diesem messen zu können. In der Hoffnung, den Amtsvorsteher zu ärgern, geht Heine mit einem Freund fischen, obwohl Grootholm die Fischerei gepachtet und ein Fischereiverbot (De Fischeree, de ruht!) erlassen hat. Die beiden hängen eine Fischkopfgirlande über dessen Tür. Der Amtsvorsteher verdächtigt sofort Heine und schickt einen Gendarmen, der ihn abführt. Der Gang durch das Dorf in Begleitung des Gendarmen ist eine neue Schmach für Heine. Aber er hält den Verhören stand und man kann ihm nichts nachweisen. Am 14. März brennt Grootholms Scheune ab. In der Zeitung wird der Brand auf einen Racheakt zurückgeführt und natürlich erinnert sich jeder an die Drohung Heines, dem Amtsvorsteher das Haus über dem Kopf anzuzünden. Dementsprechend fällt der Verdacht auf ihn, obwohl die Meinungen diesbezüglich auseinandergehen. Letztlich kann man ihm auch hier nichts nachweisen und der Leser wird nicht abschließend über die Schuldfrage aufgeklärt. Heine wartet sehnsüchtig auf seinen letzten Tag in Vollstedt und schwört Vergeltung, während das Dorf hofft, dass das Militär einen „anständigen Menschen“ aus ihm macht.

Hochdeutscher Teil[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Heinrich Steinhagen ist bei der Artillerie in Bahrenfeld. Er hat sich in einen autoritätsgläubigen Vertreter der kaiserlichen Armee verwandelt, ein „Schwein“, das seine Mannschaften quält, die Bewunderung der Zivilbevölkerung genießt und sich „schneidige“ Vertreter des Militärs zum Vorbild nimmt. Er spricht nur noch hochdeutsch, obwohl sein lückenhaftes künstliches Berlinern sich auf die Wiedergabe abgegriffener Floskeln reduziert und zwingt auch die Bauernsöhne zum Hochdeutsch. Er selbst versucht seine Bildung durch die Lektüre der „Klassiker“, insbesondere Schillers zu vervollkommnen. Nach zwei Jahren lässt er sich nach Rendsburg versetzen, wo auch Jürgen Grootholm stationiert ist, da er immer noch hofft, sich an ihm und an seinem Heimatdorf rächen zu können und es allen durch eine glänzende Karriere „zeigen“ zu können. Jürgen Grootholm hingegen begegnet ihm mit großer Freundlichkeit und hat die Kindereien aus Jugendtagen längst vergessen. Er bietet Heinrich Steinhagen wiederholt erfolglos die Versöhnung an. Auf einem Frühlingsball lernt Heine die „vornehme“ Margot Kandelhardt kennen, die Schwester von Frau Wachtmeister Müller, die große Begeisterung für „klassische“ Bildung simuliert und sich affektiert als Angehörige der höheren Gesellschaft zu geben versucht. Heine ist tief beeindruckt und fängt an, sich regelmäßig mit ihr zu treffen. Sie hält ihn aber mit klugem Kalkül auf Distanz und verspricht ihm schließlich die Verlobung nur unter der Voraussetzung, dass es ihm gelingt, sich zum Wachtmeister befördern zu lassen, denn sie möchte es ihrerseits „ihrer Schwester zeigen“. Sie weist ihn kalt darauf hin, dass Jürgen Grootholm, der mit Heine zusammen zum Sergeanten befördert worden ist, sein einziger Konkurrent ist und dass es gilt, „ihn aus dem Weg zu räumen“. Heine entschließt sich dazu, Jürgen Grootholm wegen einer Urlaubsüberschreitung zu denunzieren, kurz nachdem dieser einen letzten Versuch gemacht hat, sich mit ihm zu versöhnen.

Dem hochdeutschen Teil des Romans liegt ein reales Geschehen aus der Zeit von Peters' Militärzeit zugrunde, einer Zeit der persönlichen Entwicklung und ästhetischen Wende für den Schriftsteller: "Das Militärjahr hat mich doch weiser gemacht und ich glaube, dass ich nun weniger einseitig bin. Ich werde nun nicht mehr allein stille Geschichten von weltabgewandten, mimosenhaften Künstlernaturen schreiben, sondern auch andere, voll maßloser Liebe und maßlosem Hass, Strebertum, Ehrgeiz und Gemeinheit. Vor kurzem erschoss sich hier ein Sergeant, weil er in seinem Ehrgeiz einem hirnlosen Spieler gleich seine Zukunft auf eine Karte setzte und, als der Streich fehlschlug, hinging und sich eine Kugel durch den Kopf jagte. Das wäre so etwas!"[2]

Zeitgeschichte / Sprache[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Für die Untersuchung der norddeutschen Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Jahrhundertwende stellt dieser Roman eine wertvolle Quelle dar.

Im plattdeutschen Teil werden die damals auf dem Land üblichen Feste beschrieben, so das Ringfahren der Mädchen und das Wettschießen der Jungen, das „Schülerbier“ oder auch das Erntefest im Krug. Es finden sich darüber hinaus zahlreiche Hinweise auf Sitten und Bräuche, auf das Ringreiten und dessen Verlierer, den „Sandreiter“, das Hochzeitsritual des „Strickens“, das Schülersingen bei einem Begräbnis oder die Zusammenkünfte anlässlich einer Taufe (das „Kindsfoot“).[3] Die auf dem Umfang des bäuerlichen Besitzes, der Hufe, fußende Gesellschaftsordnung wird thematisiert und gleichzeitig das zunehmende Aufbegehren der Bevölkerung gegen soziale Benachteiligungen geschildert: so rebellieren die Frauen gegen eine Bevorzugung der Bauerntöchter beim Ringfahren und am Anfang des Romans kommt Gretjn Steenhagen nur deswegen zurück nach Vollstedt, weil Heines Stiefvater Arbeit auf einem Hof findet, dessen sozialdemokratisch gesinnter Knecht zur besten Erntezeit das Dorf im Streit verlassen hat.

Im hochdeutschen Teil findet man eine kritisch-satirische Darstellung des wilhelminischen Kleinbürgertums und des kaiserlichen Militärs, die an den Roman von Heinrich Mann Der Untertan (1914) erinnert. Das hohe Ansehen des Deutschen Heeres, sein Ehrenkodex, der militärische Prunk und dessen Kehrseite, die sozialen Probleme der Soldaten (Syphilis-Erkrankungen, Spielschulden, Trunksucht, risikoreiche Wiedereingliederung in die Zivilgesellschaft), das ignorante Stammtisch-Renommieren und Bemühen von Feindbildern unter Berufung auf das "Rassensolidaritätsgefühl" beherrschen die Beschreibung von Heines Umfeld in der Rendsburger Kaserne. Der Protagonist selbst lernt den Umgang mit der Macht schnell und diese Schule des Lebens ist der wichtigste Teil seines Bildungsweges: „Wenn Fräulein Margot durch eisigen Widerstand ihrem Kavalier das Gefühl seines Nichts einmal wieder durchbohrend gemacht hatte, so half es dem am nächsten Tage auf die Beine, wenn er einen der „Kerls“ vor sich im Staub oder Regenschmutz liegen sah. Man war doch immer noch ein nicht zu unterschätzender Faktor! „Hinlegen – auf! Hinlegen – auf!“ Spaßig, wie der Hampelmann mit Armen und Beinen um sich schlug! Und wie ein Kind, das seinen Willen nicht durchsetzen kann, so lange an seinem Hampelmann zerrt, bis die Drähte reißen, so setzte der Sergeant Steinhagen seinen Scherz fort, bis dem Soldaten die Zunge aus dem Munde hing. Auf solche Weise musste er sich das Selbstbewusstsein wiederverschaffen, wenn Fräulein Margot ihn gedemütigt hatte.“ (235) Fräulein Margot Kandelhardt, einer Kaufhausangestellten, ist, wie den meisten Figuren des Romans, der Schein wichtiger als das Sein. Sie will nur einen Mann heiraten, der ihr einen bestimmten gesellschaftlichen Status bieten kann: "Er fand die Liebe der Minna [von Barnhelm] ergreifend; aber Margot lachte schneidend: „Schön dumm, sich so dem Major an den Hals zu werfen. Die Männer müssen kurz gehalten werden.“ „Könnten Sie nicht so lieben?“ fragte Heinrich in großer Beklemmung. „Ich?“ sagte sie mit demselben harten Lachen. „Na, so blau!“ (S. 231) Wirtschaftliche Interessen stehen immer im Vordergrund und Gefühle sind durchweg ökonomisch begründet. Gemildert wird diese pessimistische Weltsicht durch Peters' Humor und seine Ironie, die in den zwei Sprachen unterschiedlich zum Ausdruck kommen, sanfter im niederdeutschen, deutlich schärfer im hochdeutschen Teil.

Sprachlich kennzeichnend für den Roman insgesamt ist die Lust an der Phraseologie, an dem Verwenden fester Redewendungen. Besonders der plattdeutsche Teil mit seinem Wortwitz, seinen Reimen, Sprichwörtern usw. illustriert Peters Vortrag über die „Formelhaftigkeit des Plattdeutschen“ (1939),[4] u. a. indem er ritualisierte Unterhaltungen zwischen den Figuren inszeniert, z. B. in einer Angelszene: „Ümmer Tog üm Tog“, sä Heine. „Denn mal 'n Heek un denn mal 'n Pogg, bröch Kröschen Sass de Saak to Enn.“, (130). So sind im Anhang zu "Heine Steenhagen" auch erstmals die "Anmerkungen zur Frage des Plattdeutschen" veröffentlicht, Peters' Liebeserklärung an das Plattdeutsche und eine Antwort auf diejenigen, die in seinem Vortrag zur "Formelhaftigkeit" einen Angriff auf das Niederdeutsche sehen wollten.

Der hochdeutsche Teil entlarvt die hierarchiebetonte Rhetorik des Militärs und dokumentiert die hohlen Sprüche, die Heine, das Landei, aufschnappt und unkritisch reproduziert: „Da hatte Heinrich ganz kalt und überlegen gesagt: „Herr Einjährig-Freiwilliger von Reißwitz, wollen Sie vielleicht die Gewogenheit zeitigen und lassen das Grinsen nach?“ So kann man aber natürlich diese eingebildeten Laffen nur abfahren lassen, wenn man Bildung besitzt.“(177)

Für Heines Pseudologie und Renommiersucht liefert Peters bereits in seinem frühen Essay über Henrik Ibsen (1911) ein literarisches Vorbild: Peer Gynt flieht in ein Märchenland, in dem er Kaiser ist. Er ist „Lügner aus Schaffenssehnsucht und Dichterweh und Verlangen nach dem Glück; er lügt seine krumme Welt wieder gerade, macht gut, was der Herrgott verbrochen hat.“[5] In seiner Nachfolge wird Heine Steenhagen auch zur Dichterfigur, sein Ikarus-Sturz zum Scheitern der Phantasie im Lebenskampf, des Künstlers an der Realität.

Intermedialität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen!“ ist eingebettet in eine Vielzahl von intertextuellen und intermedialen Bezügen. Das Werk ist durchsetzt mit realen und fingierten Zitaten, in seiner Gesamtstruktur verweist es auf das Genre des Bildungsromans, dessen gattungsspezifische Merkmale es aufgreift und ironisch bricht.

Im hochdeutschen Teil sind hauptsächlich klassische Zitate präsent. Sie stammen vorwiegend aus Wallenstein und Minna von Barnhelm und dokumentieren den Bildungsanspruch des aufstiegsbesessenen Helden und seiner mittelmäßigen Umgebung. Die positiven, aber auch negativen Vorbilder, an denen sich der Protagonist im Laufe seiner „Bildungsgeschichte“ orientiert, werden u. a. über diese Zitate transportiert. Der plattdeutsche Teil insbesondere enthält ein umfangreiches mehrseitiges Pastiche von Unterhaltungsliteratur der Jahrhundertwende, das Heines trivialliterarisch geprägte Aufstiegsträume und seinen kindlichen Bovarysmus begründet.

Auf die literarhistorische Tradition des Bildungsromans verweisen u. a.: [6]

  • der Vorname des Helden: Heine/Heinrich ist auch der Vorname der Protagonisten der großen Bildungsromane des 19. Jahrhunderts, s. Heinrich Lee in Der grüne Heinrich (1854/55) und Heinrich Schaumann in Stopfkuchen (1891).
  • der Durchlauf der typischen Bildungsstufen, d. h. die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus (hauptsächlich in Teil II), die Einwirkung von Mentoren (Jochen Suhr, Lena Wiem) und Erziehungsinstitutionen (das Militär), die Begegnung mit der Sphäre der Kunst (Lena Wiems „Romanböker“, der Deutschunterricht bei Lehrer Hamann), erotische (Seelen)Abenteuer (Anna Pahl, Margot Kandelhardt), die Selbsterprobung in einem Beruf und der Kontakt zum öffentlich-politischen Leben (beides beim Militär).[7]
  • die Struktur des Romans: als negativer Bildungsroman ist Heine Steenhagen nicht, wie der klassische Bildungsroman, dreigeteilt nach dem Muster des Wilhelm Meister (Jugendjahre – Wanderjahre – Meisterjahre), sondern beschränkt sich auf die Jugend- und Wanderjahre (Teil I u. II), da Heines Bildungsgeschichte abbricht und am Ende weder eine Integration in die Gesellschaft noch eine Versöhnung mit der Welt stattfindet. Der rückwärtsgewandte Held bleibt gefangen in seinem Rachefeldzug, in dem Kampf mit der Vergangenheit.
  • die Erzieherfiguren, die den Helden beraten (Jochen Suhr, Lena Wiem) und gelegentlich das Geschehen, auch für den Leser, kommentieren (Hauptmann Goesch).
  • schließlich die ständige und zentrale Thematisierung von Bildung, nicht nur im Sinne des humanistischen Bildungsideals, sondern auch im Sinne des von Bourdieu geprägten soziologischen Begriffes der Distinktion.[8]

Dass Peters sich bewusst mit Romantheorie beschäftigt hat, belegt sein von Thomas Mann selbst geschätzter Essay Thomas Mann und die Romantik (1926),[9] in dem er sich in Abschnitt 7 ("Der Roman") mit der Gattung auseinandersetzt und ausführlich auf den großen Bildungsroman seiner Zeit, den Zauberberg, und die "Bildsamkeit" des Protagonisten Hans Castorp eingeht.[10] Einen Bogen von der Autobiographie, "Beleg der Bildungsgeschichte", zum "tiefdeutschen" Bildungsroman spannt Peters am Ende einer wichtigen Studie zu Seume (Ein Jugendfreund. Johann Gottfried Seume, 1927). Das zentrale Ereignis in Heine Steenhagen, der Peitschenhieb des Amtsvorstehers, der den Rachefeldzug Heines auslöst, findet in diesem Text leidenschaftliche Erwähnung: "Jeder ungerecht empfangene Schlag kann gelegentlich heute noch brennen wie damals, als er ausgeteilt wurde, und den Menschen, von denen sie ausgingen, ist in ihrem Grabe nicht verziehen." Die Verletzlichkeit und der Stolz, die sich hier offenbaren, scheinen nicht nur Eigenschaften des Romanhelden allein zu sein.

Am Ende von Heine Steenhagen werden die gescheiterte Bildungsgeschichte und der selbstverschuldete Absturz des Helden von Hauptmann Goesch mit der Bemerkung „auch ein Ikarus“ quittiert. Dieser Vergleich verweist nicht nur auf Ovids Metamorphosen (Buch 8), sondern baut auch eine Text-Bild-Relation zwischen Peters' Roman und dem rätselhaften Gemälde „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ auf, das lange Bruegel dem Älteren zugeschrieben wurde und dessen Entdeckung 1912 die Schlagzeilen der Kunstwelt beherrschte. Die Besonderheit des Bildes besteht in seiner außergewöhnlichen Behandlung des Ikarus-Stoffes, in der Kühnheit, mit der der Sturz der mythologischen Figur als Fußnote des Weltgeschehens dargestellt und seine existentielle Tragik durch die Gleichgültigkeit der Beobachter (eines Bauern, eines Anglers, eines Hirten und eines Rebhuhns) als Nebensächlichkeit eingestuft wird. Das Schicksal des Einzelnen hält den Lauf der Welt und den Rhythmus der Jahreszeiten nicht auf. Dieser Botschaft entsprechend unterhalten sich am Ende von „Heine Steenhagen“ die Vollstedter Bauern auch naiv erstaunt über das Scheitern des Protagonisten. Sie wollen den Priester fragen, was es denn mit dem Ikarus-Vergleich von Hauptmann Goesch auf sich hat. Sehr bald aber beschäftigt sie viel mehr als Heines Ende eine Kindstaufe bei Eggert Reimers, Sinnbild für den Kreislauf des Lebens und dessen Sieg über den Tod.

Franz Wende im Frühjahrssturm[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Figur Heine Steenhagens wirkt in Peters' Œuvre weiter. Der Protagonist der Erzählung Franz Wende im Frühjahrssturm (1931) ist in vielerlei Hinsicht ein Bruder Heines. Als Sohn eines alkoholsüchtigen Bahnarbeiters und gescheiterten Bauern leidet er unter seiner Mittellosigkeit, der demütigenden Abhängigkeit von einer staatlichen Erziehungsbeihilfe und fehlendem gesellschaftlichem Ansehen. Während im Fall Heines die Frustration zu blinder Unterordnung beim preußischen Militär und brutalen Aufstiegsphantasien führt, entscheidet sich der junge Franz Wende, wie Heine eine zutiefst unreife Persönlichkeit, zuerst für den Nationalsozialismus und später für die Landvolkbewegung (Schleswig-Holstein) der späten 1920er Jahre, um dann schließlich, nach einer Gefängnisstrafe geläutert, zum einfachen bäuerlichen Leben seiner Vorfahren zurückzufinden. Im Mittelpunkt dieses hochpolitischen Textes steht – analog zu Heine Steenhagen – die Frage nach den Ursachen von Radikalisierung und Extremismus. Schuldirektorin von Pahlen fasst die Schlüsselbotschaft der Erzählung zusammen: "Franz Wende ist Dynamit. Wenn wir ihn nicht hineinlassen in die Bergwerke des Geistes, wo er – wie ich trotz allem glaube – von seinen Gaben einen Gebrauch machen wird, der der Gesellschaft nützt, wenn wir ihn abweisen, so wird er einmal Bomben werfen. Ich will damit sagen, dass wir ihn nicht extremen politischen Parteien in die Arme treiben dürfen. Ich pflegte wohl gelegentlich zu sagen: Wir haben keine Veranlassung, solche Parteien mit verfeinerter Intelligenz zu beliefern." Franz Wende im Frühjahrssturm, stellenweise eine Weimarer Variante von Heine Steenhagen, die verschiedene Motive und Szenen aus dem frühen Bildungsroman aufgreift und auch Autobiographisches verarbeitet, dokumentiert am Vorabend der Machtergreifung Hitlers Peters' klare Sicht auf die Klientel radikaler politischer Strömungen am rechten wie am linken Rand.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Referenzausgabe

  • Friedrich Ernst Peters: Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen.[11] Hrsg. Ulrike Michalowsky. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 2012. Im Anhang: Anmerkungen zur Frage des Plattdeutschen

Textgrundlagen

  • Friedrich Ernst Peters: Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! [Schleswig] 17. Juli 1925. Manuskript aus dem Nachlass F.E. Peters der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Cb 106.23:09,01-02.
  • Friedrich Ernst Peters: Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Schleswig, 17. Juli 1925. Vom Autor handschriftlich korrigiertes Typoskript aus dem Nachlass der Erben.
  • Friedrich Ernst Peters: "Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen". In: Frontbrief Norderdithmarschen, Heide, o. J. [der einzige veröffentlichte Auszug, 4 Seiten]. Nachlass SHLB in Kiel: Cb 106.34:02,06.
  • Friedrich Ernst Peters: Anmerkungen zur Frage des Plattdeutschen. Typoskript o.O.o.D. aus dem Nachlass der SHLB: Cb 106.24:11.
  • Friedrich Ernst Peters erzählt Döntjes.[12] Typoskript aus dem Nachlass der Erben und Typoskript aus dem Nachlass der SHLB: Cb 106.41:17:01.

Weitere Quellen

  • Friedrich Ernst Peters: Thomas Mann und die Romantik.[13] Schleswig, 1926. [mit einem Brief von Thomas Mann an F.E.Peters]. Typoskript aus dem Nachlass der SHLB: Cb 106.25:11,01. Das Manuskript schließt an das Manuskript von Heine Steenhagen in Cb 106.23:09,02 an.
  • Friedrich Ernst Peters: Ein Jugendfreund. Johann Gottfried Seume. Schleswig, 1927. Typoskript aus dem Nachlass der SHLB: Cb 106.25:15,01 und Cb 106.25:19,02.
  • Friedrich Ernst Peters: Franz Wende im Frühjahrssturm. Schleswig, 1931. Typoskript aus dem Nachlass der SHLB: Cb 106.23:05.01.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Volltext Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen
  2. Brief von Peters an den Freund Otto Kröger vom 9. Dezember 1912, Nachlass Peters der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek.
  3. Vgl. hier Heimatbuch des Kreises Rendsburg. Hrsg. von Jürgen Kleen u. a. Rendsburg, Möller, 1922; Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Hrsg. von Otto Mensing. Neumünster: Wachholtz, 1927 ff.
  4. Volltext Formelhaftigkeit, ein Wesenszug des Plattdeutschen
  5. Der Individualismus Henrik Ibsens. Ein Versuch., eigh. Manuskript, 18. November 1911, Nachlass F. E. Peters der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel, Cb 106.25:8,01, S. 29–31.
  6. Vgl. hier Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 1994, S. 31ff.
  7. Aufzählung aus: Jacobs, Jürgen/Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman: Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München, Beck 1989, S. 37
  8. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main, Suhrkamp 1987.
  9. Volltext Thomas Mann und die Romantik, Brief von Thomas Mann an Peters vom 19. März 1929: "Die kluge Arbeit, die abstrakte Dinge auf eine so lebendige Art zu behandeln weiß, „vergegenwärtigt“ ebensoviel von meiner geistigen Biographie wie von Ihrer [...]. Es sind viele feine Einsichten und Hinweise darin."
  10. Thomas Mann und die Romantik, S. 83 u. 84: "Was sie [die Romantiker] an diesem Buch [Wilhelm Meister] so sehr entzückte, war die Darstellung des unendlichen Werdens. Ein Roman dieser Art gebraucht Helden mit "grenzenloser Bildsamkeit" und "vielseitiger Empfänglichkeit". Nicht gedient ist ihm mit einem fertigen, starren Charakter, der die Ereignisse biegt und bricht. So deutet sich das Wort des Novalis von der passiven Natur des Romanhelden. Oft genug ist bei Gelegenheit des Zauberberges an Wilhelm Meister erinnert worden. Und wirklich ist der grenzenlosen Bildsamkeit und vielseitigen Empfänglichkeit des Meister Hans Castorp verwandt in seiner Bereitwilligkeit, alles "hörenswert" zu finden und nach Art begabter Jugend mit den verschiedenen Standpunkten zum Leben vorläufig zu dilettieren, unverbindliche Versuche anzustellen. Thomas Mann erweist sich damit als echten Romantiker und Nachfahren des Novalis." Auch in Heine Steenhagen wird die Fähigkeit von Peters' Held, gut zuzuhören, unterstrichen: "Lena harr noch nüms funnen, de so fein tohören kunn." Seine eingeschränkte und vorwiegend negativ ausgerichtete "Bildsamkeit" hingegen ist charakteristisch für den Anti-Bildungsroman.
  11. Volltext Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen! Die Geschichte eines Ehrgeizigen
  12. Volltext Friedrich Ernst Peters erzählt Döntjes
  13. Volltext Thomas Mann und die Romantik