Herkunftssage

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Herkunftssage oder Ursprungsmythos bezeichnet eine sinnstiftende Erzählung (Narrativ), mittels derer sich Einzelpersonen oder Familiengruppen, Clans oder Volksstämme an (sagenhafte) berühmte Vorfahren oder ganze Völker als deren vermeintliche Nachkommen oder Seitenlinien anschließen, als Ansippung an eine andere „Sippe“. Um eine gemeinsame Herkunft zu konstruieren, werden umfangreiche Stammbäume entworfen oder von anderen übernommen („fiktive Genealogie“).[1] Soziale Gruppen berufen sich auf eine solche mythische Abstammung, um ihr Wir-Gefühl und ihren kulturellen Zusammenhalt als Eigengruppe zu stärken und sich anderen Gruppen und Kulturen (Fremdgruppen) gegenüber abzugrenzen und hervorzuheben. Die identitätsstiftenden Erzählungen können die Form einer Sage oder Legende oder eines Mythos haben oder ein literarisches Motiv sein, auch einige ätiologische Geschichten gehören dazu (Erklärungssagen). Der Ethnologe Bronisław Malinowski (1884–1942) bezeichnete Herkunfts- oder Ursprungsmythen, mit denen die Legitimität von einzelnen Ritualen, Besitzansprüchen oder gesellschaftlichen Einrichtungen (Institutionen) begründet werden soll, als charter (vergleiche „Charta“ als grundlegende Urkunde).[2]

Oft wurden die Inhalte solcher Sagen zuerst mündlich überliefert und dabei in jeder neuen Generation verformt und zurechtgeschmückt, bevor sie in Schriftform festgehalten wurden; andere Erzählungen griffen vorgetragene oder niedergeschriebene fremde Geschichten auf, um sie mit der eigenen zu verweben. Manchmal sind die Mythen auch mit religiösen Ritualen verbunden und werden vor Fremden zurückgehalten.

Bekanntes Beispiel für einen Ursprungsmythos ist die Vätergeschichte über Abraham und seine Nachkommen, die in den drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam in unterschiedlicher Weise zur Identitätsstiftung dient (vergleiche Identitätspolitik). In einem bekannten Gründungsmythos leitet sich die griechische Stadt Athen von der kämpferischen Göttin Athene her.

Politische Mythen und Kontinuitätstheorien folgen oft vergleichbaren Mustern, beispielsweise im Nationalismus des 19. Jahrhunderts die Ableitung der „Herkunft“ der Deutschen, der Ungarn, der Griechen oder anderer Völker. Solche Ideologien beziehen sich auf stimmige, jedoch nur teilhafte geschichtliche oder sprachwissenschaftliche Erkenntnisse; sie sind gekennzeichnet durch einen Absolutheitsanspruch bei gleichzeitiger Immunisierungsstrategie gegen widersprechende Forschungsergebnisse.

Geschichtliche Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aktuelle politische Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Verwandte Themen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herkunft:

Gründung:

Ursprung:

Politisch:

Allgemein:

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Klaus Graf (Historiker): Ursprung und Herkommen. Funktionen vormoderner Gründungserzählungen. In: Geschichtsbilder und Gründungsmythen. Hrsg. von Hans-Joachim Gehrke (= Identitäten und Alteritäten 7), Würzburg 2001, S. 23–36 (online)

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Charlotte Seymour-Smith: Dictionary of Anthropology. Hall, Boston 1986, ISBN 0-8161-8817-3, S. 130 (englisch); Zitat: „Genealogical fiction: A phenomenon related to Genealogical Amnesia, whereby genealogies may be adjusted to suit better the requirements of the present-day social and kinship structure or the interests of the person or group concerned. Actual genealogical ties may be forgotten or suppressed and new ones substituted. This process of readjustment or reconstruction of genealogies reveals aspects of the interplay between the »ideal models« or kinship structure and the realities of relationships between persons and groups. (See Descent: Lineage Theory)“.
  2. Bronisław Malinowski: Magic, Science and Religion, and other Essays. Waveland, Glencoe IL 1948, S. 64, 85, 91 und 93 (englisch; Nachdruck: Read Books 2013, ISBN 978-1-4733-9312-7; Fundstellen in der Google-Buchsuche).
  3. Vergleiche Jacques Benoist-Méchin, Eric Baschet (Hrsg.): Die Türkei 1908–1938. Das Ende des Osmanischen Reiches. Eine historische Foto-Reportage. Swan, Kehl 1980, ISBN 3-89434-004-5, S. ??.