Indigenisierung

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Indigenisierung ist eine Form des kulturellen Wandels, bei der traditionelle Gesellschaften „etwas Fremdes“ übernehmen, akzeptieren und in ihre traditionelle Kultur als „etwas Eigenes“ innovativ einbinden.

Handelt es sich im umgekehrten Fall um gezielt organisierte und nachhaltig angelegte Bestrebungen zur Wiederbelebung traditionell-eigener Kulturelemente in neuer Form, spricht man von Re‑Indigenisierung. Dieser Prozess wird jedoch häufig undifferenziert ebenfalls als Indigenisierung bezeichnet.[1]

Indigenisierung/Re-Indigenisierung ist häufig eine Gegenbewegung zur Assimilierung an die moderne Zivilisation; eine Reaktion auf die Konfrontation mit einer anderen Kultur. Im Unterschied zur Diffusion einzelner Kulturelemente findet nicht nur eine einfache Addition statt, sondern eine umfassende Reinterpretation des Neuen[2] mit dem Ziel einer Bewahrung und Stärkung der kulturellen Identität im Rahmen einer authentischen Neu-Konstruktion zu einer „modifizierten Tradition“.[3]

In diesem Sinne ist jeder Indigenisierungsprozess keine Tradierung, sondern eine selbst gewählte Form der Modernisierung,[4] die sich auf alle Kulturelemente – Subsistenz, Folklore, Sprache, Sitten – beziehen kann.[5]

In der Regel benötigen solche Entwicklungen passende politische und soziale Rahmenbedingungen.[6] Dazu gehört die Vertretung indigener Völker und ihrer Rechte bei den Vereinten Nationen (Ständiges Forum für indigene Angelegenheiten, UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen usw.), die Erlangung territorialer Selbstbestimmung in autonomen Regionen (z. B. Nunavut, Grönland) und Staaten (z. B. Bolivien, Simbabwe) oder auch die Anerkennung ihrer Kulturen durch die Weltöffentlichkeit sowie die Idee des Multikulturalismus. Nach Samuel P. Huntington ist Indigenisierung/Re‑Indigenisierung ein Prozess der Identitätsstiftung, der immer eine Kombination aus ethnischer Kultur, Macht und politischer Institutionalisierung beinhaltet.[7]

Indigenisierung traditioneller Gemeinschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das europäische Schaf führte bei den Navajo schon vor Jahrhunderten zu einer „modifizierten Tradition“
Eine christliche Kåta-Kirche in Sápmi im Stil der indigenen Sámi
Traditionelle bolivianische Indigene am Computer. Manchen Gruppen gelingt es, moderne Technik zu adaptieren und dennoch ihre Lebensweise zu bewahren

Seit der Zeit der europäischen Expansion auf der Erde sind die meisten außereuropäische Völker den Kulturen der Eroberer in Form von Kolonisierung, Ausbeutung, Sklaverei, Vertreibung, Unterdrückung, Christianisierung usw. bis hin zum geplanten Ethnozid; aber auch allein durch den Kontakt zu modernen Technologien und Gesinnungen ausgesetzt. Wie immer beim Kontakt verschiedener Lebensweisen wurden dabei von Anfang an umfangreiche Wandlungsprozesse eingeleitet. Die Dominanz der Europäer führte insbesondere bei den nicht-industrialisierten Gesellschaften zu Akkulturationsprozessen.

Indigenisierung setzt sich diesem Trend entgegen, indem die Betroffenen versuchen, die fremden Einflüsse vor dem eigenen Hintergrund zu bewerten und sich die nutzbringenden Elemente so anzueignen, dass sie sich harmonisch in die traditionelle Kosmologie einfügen.

Beispiele für solche Formen der Indigenisierung sind etwa die Entstehung der indianischen Reiterkulturen durch die Übernahme des Pferdes, die Schafzucht der Navajo, der Kirchenbau im Stil indigener Kulturen, die Einführung von Häuptlingsämtern in vorher herrschaftsfreien (akephalen) Gesellschaften oder in jüngster Zeit der Einsatz moderner politischer Mittel im Kampf gegen fremde Machthaber.

Die Asháninka des peruanisch-brasilianischen Grenzgebietes sind ein bekanntes Beispiel für Bestrebungen, moderne Kulturelemente harmonisch zu integrieren: Sie forsten zerstörte Regenwaldflächen auf und lehren Fremde in einer eigens eingerichteten Schule die Methoden ihrer nachhaltigen Landwirtschaft. Überdies haben sie via Photovoltaikanlage einen Internetanschluss, über den sie unter anderem Kontakt zu den Behörden aufnehmen können, wenn die „Tropenholz-Mafia“ bei ihnen auftaucht.

Aus den tropischen Regenwäldern – in denen noch die meisten traditionellen Gemeinschaften der Erde leben – sind viele Beispiele bekannt, bei denen Ethnien bestimmte Werte und Vorstellungen des Westens indigenisieren, in der Hoffnung, dadurch von der Weltgemeinschaft anerkannt zu werden. Sie treten etwa als „unbestechliche Bewahrer der natürlichen Vielfalt“ auf und transformieren ihren tatsächlichen Respekt vor „Mutter Erde“ zur Ideologie. Westliche Naturschützer instrumentalisieren die vermeintlich ursprüngliche Philosophie und erheben die Indigenen zu „edlen Wilden“, die keinem Tier und keinem Baum etwas zu Leide tun. Dieses Bild ist natürlich nicht authentisch und führt schnell zum Gegenteil dessen, was die Menschen erreichen wollten, denn sowohl die traditionelle Jagd als auch der Verkauf von Holzfällerlizenzen, um etwas Geld für die Stammeskasse zu erwirtschaften, werden von vielen unwissenden westlichen Sympathisanten dann als „Verrat an der Tradition“ gewertet.[8]

Re-Indigenisierung assimilierter Gemeinschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Western Shoshone-Indianerinnen Carrie (re.) und Mary Dann (li.) versuchen, nachhaltiges Ranching mit den Traditionen ihres Volkes zu harmonisieren

Eine große kulturelle Distanz und die weiter oben genannten Ereignisse seit dem 16. Jahrhundert führen im fortgeschrittenen Stadium der Assimilation sehr häufig zu weitreichenden negativen Konsequenzen („Entwurzelung“, Marginalisierung, zunehmende Abhängigkeiten, Verlust der Traditionen u. v. a.).[9][10]

Unter solchen Umständen kann Unzufriedenheit, Armut, Rassismus und Frustration zu einer Re-Indigenisierung führen: Traditionelle Kultur-Elemente werden in der (übernommenen) modernen Kultur re-interpretiert und neu belebt.[11] Re-Indigenisierung ist im Gegensatz zur Indigenisierung immer gezielt organisiert und eine nachhaltige, aber ebenso (im modernen Sinne) zweckmäßige und gewinnbringende Strategie, die neben dem materiellen Nutzen vor allem das „Wir-Gefühl“ stärken soll.[12][13]

Indigenisierung in modernisierten Gesellschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mountain Man in typisch euro-indianischer Aufmachung

Selbstredend kann der Kulturkontakt auch zu Veränderungen in der dominanten Kultur führen. Das trifft zum Beispiel auf die Trapper und Mountain Men sowie viele Bewohner der Grenzgebiete während der europäischen Besiedlungsgeschichte Nordamerikas zu, die Kleidungsstile, Schmuck und verschiedene Sitten von den benachbarten Indianern übernahmen.[14]

Allgemein wird der Begriff Indigenisierung auch auf die Integration neuer kultureller Muster in westlichen Gesellschaften bezogen, beispielsweise in der Musikrichtung Rap.[15] Auch hier liegt eine Umdeutung übernommener Elemente aus traditionellen Kulturen im Sinne einer Anpassung an die eigene Kultur vor.

Schließlich wird auch die Abkehr vom eurozentrischen Denken und die Rückkehr zu traditionellen Vorstellungen, Ausdrucks- und Sichtweisen in bereits stark modernisierten Gesellschaften als Indigenisierung bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist die Ethnologie in der arabischen Welt, die sich zunehmend „nicht-westlicher“ theoretischer Paradigmen und methodischer Ansätze bedient.[16]

Staatlich verordnete Indigenisierung und Indigenismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sofern die Bewahrung und Förderung indigener Traditionen im Hinblick auf eine sozial verträgliche Integration von staatlichen (also zumeist nicht indigenen) Institutionen ausgeht, spricht man von Indigenismus.[17] Es gibt dafür einige Beispiele aus Mesoamerika.

Im Gegensatz zu den anderen Kontinenten bilden traditionelle Gemeinschaften in Afrika südlich der Sahara in der Regel die Bevölkerungsmehrheit. Viele traditionelle Strukturen sind hier trotz der langen Kolonialgeschichte erhalten geblieben. In Zeiten der Globalisierung steigt der Druck der Weltkultur erheblich an. Insbesondere die Wirtschaft der afrikanischen Staaten ist gezwungen, sich den „globalen Spielregeln“ unterzuordnen, wenn sie zukünftig davon profitieren möchten. In Simbabwe gibt es Bestrebungen zur Indigenisierung der Wirtschaft: Mit Hilfe eines „Indigenisierungsgesetzes“ sollen ausländische Firmen gezwungen werden, mindestens 51 Prozent der Firmenanteile an die Simbabwer abzugeben.[18] Auch in Ruanda und Tansania gibt es Initiativen, den modernen Fortschritt vom kolonialen Erbe zu trennen und mit der Tradition zu harmonisieren.[19][20]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Revitalisierung (Rituelle Revitalisierung, Retraditionalisierung, Folklorisierung, Traditionalismus)

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur zu Anwendungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Kumoll, Karsten, Hermann Schwengel, and D. Sahlins Marshall. "Kultur, Geschichte und die Indigenisierung der Moderne." Eine Analyse des Gesamtwerks von Marshall Sahlins.[Culture, History and Indigenisation of Modernity. An Analysis of the Complete Works of Marshall Sahlins.] Bielefeld (2007).
  • Trenk, Marin. "Weltmonokultur oder Indigenisierung der Moderne." Zeitschrift für Weltgeschichte 3.1 (2002): 23–39.
  • Knörr, Jacqueline. "Indigenisierung versus Re-Ethnisierung. Chinesische Identität in Jakarta." Anthropos (2008): 159–177.
  • Delgado, Mariano. "Kreolisierung, Indigenisierung und Mestizisierung als Formen interkultureller Hybridisierung in Lateinamerika." Tertium Datur!: Formen und Facetten interkultureller Hybridität, Formes et facettes d'hybridité interculturelle 40 (2013): 163.
  • Schwarz, Inga. Anthropology of governance in education: Indigenisierung alternativer Bildungskonzepte in der Türkei. Berlin; Münster: LIT, 2013.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Ute Rietdorf: Minderheiten und ihre Bedeutung für endogene Entwicklungen in Afrika: das Beispiel Tansania. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2001, ISBN 978-3-8300-0896-5. S. 104–112.
  2. Brigitta Hauser-Schäublin u. Ulrich Braukämper (Hrsg.): Ethnologie der Globalisierung: Perspektiven kultureller Verflechtungen. D. Reimer, Berlin 2002, ISBN 978-3-4960-2737-9. S. 16.
  3. Jacqueline Knörr: Postkoloniale Kreolität versus koloniale Kreolisierung.In: Paideuma 55. S. 93–115.
  4. Jörg Steinhaus: Der Kampf der Kulturen. Nur ein neues Feindbild? Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Soziologie, Wintersemester 1997/98. S. 13.
  5. Kohl. S. 168–172.
  6. Eva Gugenberger: Titel. LIT-Verlag, Münster 2011, ISBN 978-3-643-50309-1. S. 58–59.
  7. Thomas Küster (Hrsg.): Regionale Identitäten in Westfalen seit dem 18. Jahrhundert. Westfälische Forschungen, Band 52, Aschendorff, Münster 2002, ISBN 978-3-402-09231-6. S. 232–238.
  8. Martina Grimmig: Goldene Tropen: Die Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana. transcript Verlag, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-89942-751-6. S. 246.
  9. Walter Hirschberg (Begründer), Wolfgang Müller (Redaktion): Wörterbuch der Völkerkunde. Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005. S. 34.
  10. Raul Páramo-Orgega: Das Trauma, das uns eint. Gedanken zur Conquista und zur lateinamerikanischen Identität. In: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung. 8. Jahrgang, Heft 2, Leipzig 2004, S. 89–113.
  11. Kohl. S. 168–172.
  12. Birgit Bräuchler and Thomas Widlok: Die Revitalisierung von Tradition: Im (Ver-)Handlungsfeld zwischen staatlichem und lokalem Recht. In: Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 132, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2007, S. 5–14.
  13. Winona LaDuke: Minobimaatisiiwin: The Good Life. In: culturalsurvival.org, 1992, abgerufen am 16. März 2015.
  14. Volker Gottowik, Holger Jebens, Editha Platte (Hrsg.): Zwischen Aneignung und Verfremdung: Ethnologische Gratwanderungen. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2009, ISBN 978-3-593-38873-1. S. 109–111.
  15. Solveig Lüdtke: Globalisierung und Lokalisierung von Rapmusik am Beispiel amerikanischer und deutscher Raptexte. Auflage, LIT-Verlag, Münster 2007, ISBN 978-3-8258-0228-8. S. 312.
  16. Katharina Lange: »Zurückholen, was uns gehört« Indigenisierungstendenzen in der arabischen Ethnologie. transcript-Verlag, Bielefeld 2005, ISBN 978-3-89942-217-7.
  17. Walter Hirschberg (Begründer), Wolfgang Müller (Redaktion): Wörterbuch der Völkerkunde. Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005. S. 184–185.
  18. Daniel Pelz u. Adrian Kriesch Wohin steuert Simbabwes Wirtschaft?. In: dw.de – Internet-Auftritt der deutschen Welle, Bonn, 31. Juli 2013, abgerufen am 23. März 2015.
  19. Ruanda – Indigenisierung der Entwicklung. In: iofc.org – Initiatives of Change, Caux (CH), 20. September 2013, abgerufen am 23. März 2015.
  20. Ulrike Brizay: Bewältigungsstrategien für die Waisenkrise in Tansania: Lebensweltorientierte Unterstützungsangebote für die Waisen. Springer-Verlag, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-18110-3. S. 47–51, 316, 511.