Jussuf Ibrahim

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Jussuf Ibrahim, Januar 1953

Jussuf Murad Bey Ibrahim oder Murad Jussuf Bey Ibrahim (kurz Jussef Ibrahim, arabisch يوسف إبراهيم; * 27. Mai 1877 in Kairo; † 3. Februar 1953 in Jena) war ein ägyptisch-deutscher Kinderarzt. Er war unter anderem hochangesehener Lehrstuhlinhaber für Pädiatrie in Jena (ab 1917) und zugleich wegen Beteiligung am sogenannten Euthanasie-Programm während der Zeit des Nationalsozialismus umstritten. Ab 1912 hatte er die deutsche Staatsbürgerschaft.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jussuf Bey Ibrahim, Sohn eines als Präsident der Medizinischen Hochschule in Kairo wirkenden ägyptischen Arztes und einer deutschen Mutter,[1] musste 1879 Ägypten verlassen und wuchs in München auf.[2] Er studierte Medizin an der Universität München, an der er im Jahr 1900 auch promoviert wurde. Als unbesoldeter Assistent der Heidelberger Luisenheilanstalt entdeckte er anschließend sein Interesse für die Pädiatrie und habilitierte sich in Heidelberg unter Oswald Vierordt[3] im Jahr 1904 über angeborene Pylorusstenosen im Säuglingsalter für Kinderheilkunde.[4][5]

Im Jahr 1906 übersiedelte er erneut nach München, wo er 1912 deutscher Staatsbürger[6] und zum außerordentlichen Professor ernannt wurde.[7] Zwischen 1904 und 1915 war er an verschiedenen Krankenhäusern in München, in Kairo und an der Heidelberger Universitäts-Kinderklinik tätig gewesen.

Als Nachfolger von Carl Gerhardt wechselte er am 6. Oktober 1915 als Extraordinarius für Pädiatrie, zunächst ohne Bezahlung und formal als „Hilfsarzt der inneren Abteilung“, an die Kinderklinik im Juliusspital der Universität Würzburg, wo er als Vorstand bzw. Leiter der Pädiatrischen Klinik fungierte. Im Juliusspital durfte er Kinder bis zum 14. Lebensjahr aufnehmen, zu seinem Bedauern aber keine Säuglinge. Zudem eröffnete er in der Textorstraße 26 eine Pädiatrische Poliklinik.[8]

Nachdem er in Würzburg die Erteilung einer Prüfungslizenz beantragt hatte und diese abgelehnt worden war, folgte er im April 1917 einem Ruf als Professor auf den durch das finanzielle Engagement der Carl-Zeiss-Stiftung neu geschaffenen Lehrstuhl für Kinderheilkunde in Jena. Sein Nachfolger in Würzburg wurde Hans Rietschel. In Jena blieb Ibrahim bis zu seinem Tod 1953 Direktor des dortigen, später nach ihm benannten, Universitäts-Kinderkrankenhauses. Sein Nachfolger auf diesem Lehrstuhl wurde Erich Häßler.

In der Zeit des Nationalsozialismus zeigte er sich von der nationalsozialistischen Ideologie angezogen, wurde aber als „Halbaraber“[9] nicht in die NSDAP aufgenommen.[1] Als Leiter der Jenaer Universitäts-Kinderklinik war er in die sogenannten Euthanasie-Morde an Kindern verwickelt, da er schwerstgeschädigte Patienten seiner Klinik an die „Kinderfachabteilung“ der Landesheilanstalt Stadtroda überwies beziehungsweise trotz des ihm seit spätestens 1943 bekannten Schicksals der dort untergebrachten Kinder ihre Überweisung zur Kenntnis nahm.[10] Laut dem im April 2000 veröffentlichten Ergebnisbericht der Kommission „Kinderklinik Jussuf Ibrahim“ wurden aus der Jenaer Kinderklinik „[…] zwischen 1941 und 1945 insgesamt sieben schwerstgeschädigte Kinder nach Stadtroda überwiesen, die auch dort verstarben“, „[…] für zwei Kinder liegen handschriftliche Überweisungsschreiben Ibrahims vor, die offen ‚Euthanasie‘ vorschlagen“.[11] Im Januar 1943 wurde er mit dem Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse ausgezeichnet, aber bereits im Juli desselben Jahres vom Reichsministerium des Innern gerügt, da er nach den Krankenblättern der Kinderklinik die von seinen Untergebenen erstellten Anträge auf Euthanasie verzögert bearbeitet oder nicht bewilligt hatte.[1] Bei weniger auffälligen Störungen hatte Ibrahim die Gutachten immer so abgefasst, dass die Kinder als entwicklungs- und bildungsfähig bezeichnet wurden. Bei schweren Fällen konnte er zwar nichts verharmlosen, sorgte aber im konspirativen Zusammenwirken, u. a. mit seiner Assistenzärztin Ursula Krebs, dafür, dass die Eltern Gelegenheit erhielten, ihre Kinder mitzunehmen, um sie ggf. zu verstecken.[12]

Ibrahim, der in den 1930er Jahren das Jenaer Rosarium angelegt hatte, erhielt 1947 den Ehrendoktortitel der Sozialpädagogischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.[1] Der aufgrund seiner Verdienste um die Ausbildung von Säuglings- und Kinderkrankenschwestern, um die Sozialpädiatrie und um die Senkung der Säuglingssterblichkeit[7] hoch angesehene Mediziner wurde 1947 auch zum Ehrenbürger der Stadt Jena ernannt. 1949 erhielt er die Auszeichnung Verdienter Arzt des Volkes[13] und 1952 den Nationalpreis der DDR in der I. Klasse für Wissenschaft und Technik.[14]

Grabstein Ibrahims auf dem Jenaer Nordfriedhof

Seine Grabstätte befindet sich auf dem Nordfriedhof in Jena.[15]

Ehrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 27. Mai 1952 wurde Ibrahim, der als „einer der bedeutendsten Pädiater des 20. Jahrhunderts“[16] gilt, von der Universität Jena zum Ehrensenator ernannt.[17] Die Universitätskinderklinik, zwei Kindergärten und eine Straße in Jena trugen bis 2000 seinen Namen, sie wurden nach öffentlicher Kritik umbenannt.[18] Nachdem im Januar 2000 durch eine Habilitationsschrift Ibrahims Beteiligung an der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ während der Zeit des Nationalsozialismus in der breiten Öffentlichkeit bekannt worden war,[19][20] und die Universität im Mai 2000 einen Untersuchungsbericht dazu[21] erstellt hatte,[22] wurde sein Name noch im gleichen Jahr aus dem Erscheinungsbild der Stadt gelöscht.[18] Die Ibrahimstraße erhielt wieder ihren ursprünglichen Namen Forstweg[23][24] und die Kindergärten sowie die Universitätskinderklinik wurden umbenannt.[18] Im Oktober 2000 wurde vom Stadtrat der Stadt Jena über die 1947 verliehene Ehrenbürgerschaft abgestimmt. Dabei wurde mit 56 Prozent zwar eine absolute Mehrheit erreicht, aber die für die Aberkennung der Ehrenbürgerschaft gesetzte Zweidrittelmehrheit verfehlt.[25] Am 15. November 2000 gab das Landesverwaltungsamt Weimar bekannt, dass die Ehrenbürgerschaft wegen des Todes Ibrahims nachträglich nicht mehr aberkannt werden kann, jedoch bei lebenden Ehrenbürgern bereits eine einfache Mehrheit dazu gereicht hätte.[18]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Christian Faludi: Ibrahim, Jussuf Murad Bey. In: Rüdiger Stutz, Matias Mieth (Hrsg.) u. a.: JENA Lexikon zur Stadtgeschichte. Tümmel Verlag, Berching 2018, ISBN 978-3-9819706-0-9, S. 301.
  • Christian Faludi: Ibrahim-Debatte. In: Rüdiger Stutz, Matias Mieth (Hrsg.) u. a.: JENA Lexikon zur Stadtgeschichte. Tümmel Verlag, Berching 2018, ISBN 978-3-9819706-0-9, S. 302.
  • Volker Hesse: Jussuf Ibrahim (1877–1953), Dr. med. habil., Dr. paed. h.c., ein bedeutender Lehrer der Kinderheilkunde. In: Bernd Wilhelmi, Günther Wagner (Hrsg.): Jenaer Hochschullehrer der Medizin: Beiträge zur Geschichte des Medizinstudiums (Jenaer Reden und Schriften). Verlags-Abteilung der Friedrich-Schiller-Universität, Jena 1988, DNB 880189215, S. 165–188.
  • Sandra Liebe: Prof. Dr. med. Jussuf Ibrahim (1877–1953): Leben und Werk. Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena 2006, DNB 980805562.
  • Wissenschaftliche Beiträge (poster session) zum Festsymposium 75 Jahre Universitäts-Kinderklinik „Jussuf Ibrahim“ Jena. Hrsg. von der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jena 1992, ISBN 3-925978-15-1.
  • Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg. Band III: Medizingeschichte. Herausgegeben vom Oberpflegeamt der Stiftung Juliusspital Würzburg anlässlich der 425jährigen Wiederkehr der Grundsteinlegung. Stiftung Juliusspital Würzburg (Druck: Bonitas-Bauer), Würzburg 2001, ISBN 3-933964-04-0, S. 530–532, 772 und öfter.
  • Johannes Oehme: Prominente deutschsprachige Pädiater des 20. Jahrhunderts: Die Vaterfigur Jussuf Ibrahim (1877–1953). In: pädiatrie hautnah. 6, 1998, S. 398–400.
  • Renate Renner, Susanne Zimmermann: Der Jenaer Kinderarzt Jussuf Ibrahim (1877–1953) und die Tötung behinderter Kinder im Nationalsozialismus. In: Uwe Hoßfeld u. a. (Hrsg.): Kämpferische Wissenschaft. Studien zur Geschichte der Universität Jena im Nationalsozialismus. Böhlau-Verlag, Köln/Weimar/Wien 2003, ISBN 3-412-04102-5, S. 437–451.
  • Willy Schilling: Der „Fall“ Ibrahim – Fakten, Probleme, Positionen. In: Menschliche Verantwortung gestern und heute. Beiträge und Reflexionen zum nationalsozialistischen Euthanasie-Geschehen in Thüringen und zur aktuellen Sterbedebatte. Hrsg. von Eggert Beleites, Landesärztekammer Thüringen. Jena 2008, ISBN 978-3-9806989-4-8.
  • Wolfgang Schneider: Arzt der Kinder. Aus dem Leben Jussuf Ibrahims. Greifenverlag, Rudolstadt 1971; 4., veränderte Auflage ebenda 1986, ISBN 3-7352-0035-4.
  • Peter Reif-Spirek: Später Abschied von einem Mythos. Jussuf Ibrahim und die Stadt Jena. In: Peter Reif-Spirek und Annette Leo: Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Metropol, Berlin 2001, ISBN 3-932482-78-6.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Jussuf Ibrahim – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2., aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 277.
  2. Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg. Band III: Medizingeschichte. Herausgegeben vom Oberpflegeamt der Stiftung Juliusspital Würzburg anlässlich der 425jährigen Wiederkehr der Grundsteinlegung. Stiftung Juliusspital Würzburg (Druck: Bonitas-Bauer), Würzburg 2001, ISBN 3-933964-04-0, S. 531.
  3. Eduard Seidler: Ibrahim, Jussuf. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 10, Duncker & Humblot, Berlin 1974, ISBN 3-428-00191-5, S. 111 (Digitalisat).
  4. Jussuf Ibrahim: Die angeborene Pylorusstenose im Säuglingsalter. Medizinische Habilitationsschrift Heidelberg 1904. Druckausgabe: Karger, Berlin 1905, OCLC 1068511637 (Scan – Internet Archive).
  5. Vgl. auch Jussuf Ibrahim: Die Pylorusstenose der Säuglinge. In: Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde. Band 1, 1908, ISSN 0071-111X, S. 208 ff. (ausführliche Bibliographie).
  6. hpsmedia: IBRAHIM, Murad Jussuf Bey (1877–1953) (Memento vom 21. November 2015 im Internet Archive). In: geschichte-der-pflege.info, Datenbank, abgerufen am 6. Mai 2019.
  7. a b Günther Wagner: Ibrahim, Jussuf. In: Werner E. Gerabek: Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, ISBN 3-11-015714-4, S. 658.
  8. Vgl. Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg. Band III: Medizingeschichte. 2001, S. 530–531.
  9. Siehe Halbjude.
  10. Ibrahim, Jusuff. In: Rolf Castell: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, ISBN 3-525-46174-7, S. 519–520 (Vorschau in der Google-Buchsuche).
  11. Zitiert aus der Zusammenfassung des Ergebnisberichts der Kommission „Kinderklinik Jussuf Ibrahim“ (Memento vom 30. September 2007 im Internet Archive) vom 17. April 2000; veröffentlicht im Uni-Journal Jena, Ausgabe Mai 2000, abgerufen am 6. Mai 2019.
  12. Tagebuchaufzeichnungen von Ursula Krebs, als autobiographischer Einschub zitiert bei Stefan Sethe: Das Geheimnis des Bischofs. Verlag neobooks, München 2013, ISBN 978-3-8476-3293-1.
  13. Parteifreund Prof. Dr. Ibrahim, Verdienter Arzt des Volkes. Zum 75. Geburtstag. In: LDPD-Informationen. 6. Jg., Heft 8, 1952, S. 195.
  14. Zur Verleihung der Nationalpreise. In: LDPD-Informationen. 6. Jg., Heft 14, 1952, S. 328.
  15. Foto des Grabes Ibrahims. In: kandil.de, abgerufen am 6. Mai 2019.
  16. Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg. Band III: Medizingeschichte. 2001, S. 531.
  17. Joachim Hartung: Die Ehrenmitglieder, Ehrenbürger, Ehrensenatoren und der Prorektor – eine Bildergalerie. In: Klaus Dicke (Hrsg.): Ehrenmitglieder, Ehrenbürger und Ehrensenatoren der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bearbeitet von Joachim Bauer, Joachim Hartung, Peter Schäfer. Vorwort von Klaus Dicke. Friedrich-Schiller-Universität, Jena 2008, DNB 987954725, S. 79 (Geisteswissenschaften).
  18. a b c d Dirk Moldt: Ein Denkmal aus alten Tagen – Deutsche Leitkultur? Wortmeldungen in der Debatte um die Ehrenbürgerschaft Prof. Dr. Jussuf Ibrahims in Jena. In: Horch und Guck. Zeitschrift der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“. Nr. 31, 2000, ISSN 1437-6164, S. 40–44 (horch-und-guck.info (Memento vom 12. August 2016 im Internet Archive) [abgerufen am 6. Mai 2019]).
  19. Was heißt „Euth.“? In: Die Zeit. 12/2000, 16. März 2000, abgerufen am 6. Mai 2019.
  20. Katrin Zeiss: Kein Wohltäter: Jena muss einsehen, dass Jussuf Ibrahim, der bekannte Kinderarzt, an der NS-Euthanasie beteiligt war. In: Die Zeit. 18/2000, 27. April 2000, abgerufen am 6. Mai 2019.
  21. Bericht der Kommission der Friedrich-Schiller-Universität Jena zur Untersuchung der Beteiligung Prof. Dr. Jussuf Ibrahims an der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ während der NS-Zeit. 25. Oktober 2002 (uni-jena.de (Memento vom 23. August 2018 im Internet Archive) [PDF; 169 kB; abgerufen am 6. Mai 2019] Deckblatt fehlend).
  22. Götz Aly: Das Schäferhunde-Milieu der PDS hält an ihm fest, aber Jena verabschiedet Jussuf Ibrahim. Menschenfreund und Mordgehilfe. In: Berliner Zeitung. 4. Mai 2000, abgerufen am 6. Mai 2019.
  23. Geschichte in fast jedem Haus: Straßenführung durch den Forstweg am Sonnabend. In: Ostthüringer Zeitung. 18. Oktober 2016, abgerufen am 6. Mai 2019.
  24. Das Gestern im Heute. In: taz. 27. Januar 2001, abgerufen am 6. Mai 2019.
  25. Detlef Friedrich: Eine Mehrheit sprach Jussuf Ibrahim die Ehrenbürgerwürde ab. Er bleibt Jenas Ehrenbürger: Die thüringische Lösung. In: Berliner Zeitung. 14. Oktober 2006, abgerufen am 6. Mai 2019.