Kriegsrecht in Polen 1981–1983

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Panzer auf den Straßen während des Kriegsrechts
Die Ankündigung zur Einführung des Kriegsrechts (1981)

Das Kriegsrecht in Polen 1981–1983 (polnisch stan wojenny für Kriegszustand) war eine Maßnahme des Regimes der Volksrepublik Polen unter Wojciech Jaruzelski, um die Demokratiebewegung und die freie Gewerkschaft Solidarność zu zerschlagen. Es war mit der Militarisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Medien, der Aufhebung von Bürgerrechten sowie einer das ganze Land erfassenden Verhaftungs- und Repressionswelle verbunden.

Vorausgehende Ereignisse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter dem infolge des Aufstandes von 1970 ins Amt gekommenen vierten Vorsitzenden der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Edward Gierek, erlebte Polen zunächst ein „kleines Wirtschaftswunder“, das allerdings vor allem auf Krediten aus der Bundesrepublik Deutschland beruhte.[1] Doch Mitte der 1970er-Jahre verschärfte sich die Wirtschaftslage Polens zunehmend. Die Regierung sah sich gezwungen, verschiedene Subventionen abzuschaffen; dies führte allerdings zu einer Teuerungswelle, woraufhin im Juni 1976 im ganzen Land Proteste und Streiks ausbrachen; in den Traktorenwerken Ursus in Warschau sowie in der mittelpolnischen Woiwodschaftsstadt Radom kamen bei deren Niederschlagung zwei Demonstranten zu Tode.[2]

Die sich weiter verschlechternde wirtschaftliche und soziale Lage des Landes sorgte in der Bevölkerung für steigenden Unmut und führte im August 1980 zu einer massiven Streikwelle. In der Folge wurde die unabhängige Gewerkschaft Solidarność gegründet. Sie vereinte die bisher zersplitterte illegale demokratische Opposition und stellte die erste Organisation ihrer Art im gesamten Ostblock dar. Aufgrund des enormen Drucks der Öffentlichkeit musste die PVAP die von Lech Wałęsa geführte Solidarność schließlich legalisieren. In diese schrieben sich daraufhin innerhalb weniger Monate knapp zehn Millionen Polen als Mitglieder ein.[3]

Nicht nur in der PVAP, sondern vor allem auch in der sowjetischen Führung unter Leonid Breschnew sah man in der Solidarność eine Bedrohung für den Herrschaftsanspruch des kommunistischen Regimes. Das Politbüro der KPdSU in Moskau übte zunehmend Druck auf Warschau aus, die „Ordnung im Lande wiederherzustellen“.

Bei einem geheim gehaltenen Treffen von Vertretern der Parteiführungen der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen in der sowjetischen Grenzstadt Brest im April 1981 drängten Juri Andropow, der Chef des KGB, und der sowjetische Verteidigungsminister Dmitri Ustinow ihre Gesprächspartner, den im September 1980 zum Vorsitzenden der PVAP ernannten Stanisław Kania und Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski, die Demokratie- und Protestbewegung gewaltsam niederzuschlagen. Falls erforderlich, könnten die sozialistischen Verbündeten „Truppen entsenden“. Kania und Jaruzelski bezeichneten eine derartige Lösung als „unmöglich“, verpflichteten sich aber, „mit eigenen Mitteln“ die Macht der Partei wiederherzustellen.[4]

Im Oktober 1981 musste Kania, der aus der Sicht Moskaus zu nachgiebig gegenüber der Opposition auftrat, seinen Platz an der Spitze der PVAP räumen. Die Nachfolge trat Jaruzelski an, der bereits zuvor Militärchef und mittlerweile auch Vorsitzender des Ministerrates, und somit Regierungschef, war. Mit seiner Amtsübernahme wuchs der Einfluss des Militärs auf die PVAP und den gesamten Staatsapparat. Bei internen Gesprächen mit Vertretern der Moskauer Führung erklärte er, er werde bei seinen Handlungen so argumentieren wie der frühere polnische Marschall Józef Piłsudski, der das Land 1926 ebenfalls durch eine Machtübernahme des Militärs stabilisiert habe; die polnische Bevölkerung werde dies verstehen.[5]

Beide Seiten einigten sich auf ein Propagandakonzept: Vertreter der sowjetischen Militärführung sollten mit einer Invasion drohen, damit das Kriegsrecht als „kleineres Übel“ nicht nur von Jaruzelskis eigenen Landsleuten, sondern auch dem Westen akzeptiert werde. Im Protokoll des Politbüros der KPdSU heißt es dazu: „Der die Konterrevolution bremsende Faktor, der darin besteht, dass die innere Reaktion und der internationale Imperialismus befürchten, dass die Sowjetunion Truppen nach Polen entsenden könnte, soll maximal ausgenutzt werden.“[6]

Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Trotz der Bereitschaft der Solidarność zu Kompromissen übernahm in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 die Polnische Volksarmee samt weiteren Sicherheitsorganen, wie der Bürgermiliz (Milicja Obywatelska) genannten Polizei sowie deren gegen Demonstranten und Streikende zum Einsatz kommenden kasernierten Sondertruppe ZOMO, die Macht in Polen. Insgesamt kamen an diesem Tag 70.000 Soldaten und 30.000 Beamte der ZOMO zum Einsatz, um im ganzen Land Kontrollpunkte einzurichten.[7]

Mehr als 3000 Personen wurden zudem in Haft genommen, darunter fast die gesamte Führung der Solidarność, viele oppositionell eingestellte Intellektuelle, aber auch einige frühere Spitzenfunktionäre der PVAP, darunter Edward Gierek und Piotr Jaroszewicz. Die Solidarność selbst wurde verboten.

Am Sonntag, dem 13. Dezember 1981, strahlte das Fernsehen vom frühen Morgen an stündlich eine zuvor aufgezeichnete Rede Jaruzelskis aus, in der er verkündete, dass ein Militärrat der Nationalen Rettung (Wojskowa Rada Ocalenia Narodowego, WRON) gebildet und das Kriegsrecht über das Land verhängt worden seien. Der Militärrat bestand aus 15 Generälen, einem Admiral und fünf Obersten, darunter neben Jaruzelski selbst Florian Siwicki und Czesław Kiszczak. Die damalige polnische Verfassung sah die Bildung eines solchen Organs nicht vor, trotzdem wurden die Entstehung und sämtliche Anordnungen des Militärrates durch Mitglieder des Staatsrates bestätigt.

Wichtige Einrichtungen wie Behörden, Produktionsbetriebe sowie Rundfunk und Fernsehen wurden vom Militär besetzt. Die Fernsehnachrichten verlasen Offiziere in Uniform. Die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit wurden eingeschränkt, Schulen und Universitäten geschlossen. Für das ganze Land galt eine Ausgangssperre.[7]

Die Telefonverbindungen zwischen den Großstädten wurden nach Verhängung des Kriegsrechts für 29 Tage vollständig abgeschaltet. Auf diese Weise wollte das Militär die Kontakte zwischen den einzelnen Zentren der Solidarność unterbinden.[8] Später wurden in allen Fernmeldeämtern automatische Ansagen geschaltet, die jeden Benutzer im Minutentakt mit der Durchsage „Kontrolliertes Gespräch“ (rozmowa kontrolowana) informierten. Auch wenn nicht jedes Gespräch abgehört wurde, diente dieses Vorgehen der Einschüchterung.

Unter dem Kriegsrecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lebensmittelkarte während der Rationierung im Rahmen des Kriegsrechts

Insgesamt wurden unter dem Kriegsrecht rund 10.000 Personen interniert.[9] In vielen Fällen kamen Kinder von politischen Häftlingen in Heime. Die ZOMO schlug mehr als 350 Streiks und Protestkundgebungen gegen das Kriegsrecht nieder. Bei der Stürmung der von Solidarność-Mitgliedern besetzten Steinkohlenzeche „Wujek“ in Katowice erschoss sie neun Bergleute. Insgesamt kamen unter dem Kriegsrecht rund 25 Streikende und Demonstranten bei Zusammenstößen mit der ZOMO zu Tode.[10] Daneben wurden etwa ein Dutzend politischer Aktivisten aus den Reihen der Demokratiebewegung von „unbekannten Tätern“ ermordet. Das Kriegsrecht führte zu einer Emigrationswelle von Polen mit Hochschulbildung, darunter 22.000 Ingenieure, 3000 Ärzte und 3000 hochqualifizierte Wissenschaftler.[11]

Bereits Anfang Januar 1982 hatten polnische Intellektuelle mit einem offenen Brief die Aufhebung des Kriegsrechts gefordert.[12] Stanisław Lem emigrierte 1982 nach West-Berlin und kehrte erst 1988 zurück.

Entgegen den Erwartungen der Führung der PVAP verschärfte sich die Wirtschaftslage weiter. Dazu trugen Wirtschaftssanktionen, die mehrere westliche Länder auf Initiative von Ronald Reagan über Polen verhängt hatten, entscheidend bei. Die meisten Lebensmittel, wie Fleisch, Zucker, Mehl oder Butter wurden rationiert, die Grundversorgung mit Medikamenten brach zusammen. Lange Schlangen vor den leeren Geschäften prägten den Alltag. Das Bruttoinlandsprodukt ging um ein Viertel zurück, das Wirtschaftsministerium verringerte die Subventionen für Lebensmittel und Energie, was zu einer Verdoppelung bis Verdreifachung der Kosten für den Verbraucher führte.[13]

Mehrere in den Untergrund gedrängte Führer der Solidarność, darunter Zbigniew Bujak und Władysław Frasyniuk, bauten deren konspirative Strukturen neu auf. Es entstanden Untergrundverlage, auch wurde ein inoffizielles Hilfswerk gegründet, um Angehörige von Internierten zu unterstützen.[14] Ebenso entstanden mehrere Auslandsbüros der Solidarność. Zum zweiten Jahrestag ihrer ursprünglichen Legalisierung am 31. August 1982 protestierten in Warschau 120.000 Menschen gegen das Kriegsrecht. Die ZOMO nahm in einer Großaktion 5000 von ihnen fest, bei einer daraus entstandenen Straßenschlacht kamen mindestens fünf Demonstranten ums Leben.[13]

Gegen Ende des Kriegsrechts versuchte das Regime durch die Gründung der Patriotischen Bewegung für die Nationale Wiedergeburt (Patriotyczny Ruch Odrodzenia Narodowego, PRON) Wege zur Verständigung mit den gesellschaftlichen Kräften, die nicht zur Solidarność gehörten, zu finden.[15]

Am 22. Juli 1983 hob die Regierung das Kriegsrecht offiziell auf.

Nach dem Ende des Kriegsrechts[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach Beendigung des Kriegsrechts wurden die ohne Gerichtsurteil internierten Oppositionellen freigelassen, doch blieben mehrere Tausend verurteilte Aktivisten weiter in Haft. An die Spitze der staatlichen Medien traten wieder Zivilisten, ebenso wie in den Behörden Funktionäre der PVAP wieder das Sagen hatten. Im wirtschaftlichen Sektor begann man mit zaghaften Reformen, doch die Wirtschaftslage besserte sich nicht, und die Defizitwirtschaft ließ einen blühenden Schwarzmarkt entstehen.

Auch der innenpolitische Druck verringerte sich nicht. Nach wie vor wurden Demonstrationen niedergeschlagen, die Vertreter der Solidarność im Untergrund standen weiter auf den Fahndungslisten. Die Medien unterlagen weiterhin einer scharfen Zensur. Der Repressionsapparat wurde weiter ausgebaut. Ein Jahr nach der offiziellen Aufhebung des Kriegsrechts zählte der polnische Staatssicherheitsdienst 70.000 Planstellen und Zehntausende von Informanten, die höchste Zahl seit dem Ende des Stalinismus.[16]

Die Repressionen ließen erst allmählich nach, nachdem in der Sowjetunion von 1986 an die Politik der Perestroika unter Michail Gorbatschow einsetzte.

Kontroverse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Verhängung des Kriegsrechts über Polen wurde von den Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens scharf verurteilt; sie verhängten Wirtschaftssanktionen und begrenzten die diplomatischen Kontakte mit Polen. Bundeskanzler Helmut Schmidt nannte das Kriegsrecht dagegen einen Beitrag zur Stabilisierung Polens und Wiederherstellung des Gleichgewichts der Blöcke in Europa.[17]

Jaruzelski rechtfertigte sein Handeln bis zu seinem Tod 2014 mit der angeblich unmittelbar drohenden Gefahr eines Einmarsches der Sowjetarmee, der nach seinen Worten unweigerlich zu Blutvergießen geführt hätte.[18] Allerdings belegen die Protokolle der Politbüros in Warschau und Moskau, dass nie eine Invasion drohte. Der russische Dissident Wladimir Bukowski veröffentlichte 1995 in Auszügen sowjetische Akten zum Kriegsrecht. Er hatte zu einer Gruppe von Historikern gehört, die 1992 im Auftrag von Präsident Boris Jelzin im Archiv des Politbüros der KPdSU nach Materialien für den Prozess um die Wiederzulassung der von diesem verbotenen Partei suchen sollten.[19]

Mediale Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • „Der General und der Elektriker – Machtkampf in Polen“, Regie: Holger Preuße, 52/43 min, WDR/ARTE 2021

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Kriegsrecht in Polen 1981–1983 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Thomas Urban: Polen. München 1998, S. 129.
  2. Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 353.
  3. Jerzy Holzer: „Solidarität“ – die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985, S. 10.
  4. Wladimir Bukowski: Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtssystem und die Schuld des Westens. Bergisch Gladbach 1996, S. 470–471.
  5. Äußerung Jaruzelskis belegt durch Protokoll der Sitzung des Politbüros 10. Dezember 1981 (Memento vom 22. Februar 2012 im Internet Archive), S. 529 (russisch; PDF; 539 kB).
  6. Wladimir Bukowski: Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtssystem und die Schuld des Westens. Bergisch Gladbach 1996, S. 479.
  7. a b Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 368.
  8. Hamburger Abendblatt vom 11. Januar 1982.
  9. 13grudnia81.pl (Memento vom 26. November 2016 im Internet Archive) Institut für Nationales Gedenken (polnisch)
  10. Lista ofiar stanu wojennego.
  11. Thomas Urban: Polen. München 1998, S. 83.
  12. POLISH ARTISTS AND INTELLECTUALS URGE JARUZELSKI TO END MARTIAL LAW. In: The New York Times. 9. Januar 1982, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 3. Januar 2022]).
  13. a b Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 370.
  14. Stan wojenny w Polsce.
  15. Dieter Bingen: Vorreiter des Umbruchs im Ostblock. Von der Solidarność zum Kriegsrecht (1980–1981), Bundeszentrale für politische Bildung, 10. Februar 2009.
  16. Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 372.
  17. Die Polen machten den Anfang vom Ende. In: Das Parlament. 11. August 2014, S. 7, abgerufen am 26. März 2021.
  18. Zum Tod von Wojciech Jaruzelski, sueddeutsche.de, 25. Mai 2014.
  19. Wladimir Bukowski: Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtssystem und die Schuld des Westens. Bergisch Gladbach 1996, S. 489.