Kritische Erziehungswissenschaft

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Als Kritische Erziehungswissenschaft oder Kritische Pädagogik wird eine in den 1960er-Jahren entstandene Richtung erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung bezeichnet. Das Wissenschaftsverständnis dieser Strömung geht zurück auf Ansätze der zweiten Generation der sogenannten Frankfurter Schule um Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel.[1] Sie ist in kritischer Abgrenzung gegen die ältere Geisteswissenschaftliche Pädagogik entstanden und distanziert sich von der empirischen Erziehungswissenschaft. Zentral für ihr Verständnis von Erziehung ist ein emanzipatorisches Interesse an vermehrter Selbstbestimmung.

Geschichte der kritischen Erziehungswissenschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die kritische Erziehungswissenschaft entstand vor dem Hintergrund erstarkender Protestbewegungen der 1960er Jahre und berief sich dabei vor allem auf marxistische Theorie und die Theorie der Frankfurter Schule, die sich als explizit gesellschaftskritisch verstand. Unter der Sammelbezeichnung Kritische Pädagogik entwickelten sich aber schnell sehr heterogene Ansätze: einerseits bezogen sich z. B. Vertreter wie Klaus Mollenhauer und Wolfgang Klafki auf die Diskurstheorie von Jürgen Habermas, um eine emanzipatorische Pädagogik zu entwickeln. Theoretiker wie Hans-Jochen Gamm, Heinz-Joachim Heydorn und Gernot Koneffke legten dagegen einen besonderen Fokus auf die der Erziehung inhärenten Widersprüche und betonen den kritischen Gehalt von Pädagogik.[2]

Nach einer kurzen Hochphase der kritischen Erziehungswissenschaft stellt Armin Bernhard bereits für die 1970er Jahre eine „neokonservative Wende“ der Disziplin fest, die in der Folge „ihre Tätigkeit auf die Bearbeitung einzelner Problem- und Krisendiskurse“ gerichtet habe.[3] In den folgenden Jahren gab es teils sehr scharfe Angriffe auf Vertreter der kritischen Pädagogik, unter anderem durch konservative Erziehungswissenschaftler wie Wolfgang Brezinka.[4] Die „empirische Wende“ der Pädagogik wurde u. a. getragen von der Kritik an der fehlenden Präzision der Begrifflichkeiten in der Kritischen Erziehungswissenschaft. Seitdem die empirische Pädagogik vor allem durch die großen Bildungstests wie TIMSS oder die PISA-Studien in den Vordergrund getreten ist, weisen Vertreter der Kritischen Erziehungswissenschaft auf die Blindstellen dieser Betrachtung von Bildung und Erziehung hin: z. B. Horst Rumpf.

International wird auch die Befreiungspädagogik Paulo Freires der kritischen Pädagogik zugerechnet und dient als wichtiger Bezugspunkt. Weitere Referenzautoren sind außerdem u. a. Foucault und Gramsci. Im englischsprachigen Raum wurde der Begriff critical pedagogy durch Henry Giroux popularisiert.[5]

Erziehung im Kontext der Kritischen Theorie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Anspruch der Kritischen Erziehungswissenschaft soll Erziehung so erfolgen, dass mündige und kritische Subjekte gebildet würden, die auch die Gesellschaft nach emanzipatorischen Gesichtspunkten umgestalten können.[6] Individuelle „Mündigkeit“ richtet sich somit auf die Gesellschaft als ganze. In Anlehnung an Claus Offe wird Erziehung zwar in Abhängigkeit von wirtschaftlich-politischen Verhältnissen gesehen, ihr aber auch eine relative Autonomie zugestanden. Insbesondere bei Klafki wird die Didaktik als „kritisch-konstruktive Didaktik“ in einer praktischen Handlungsebene bestimmt. Ein anderer Impuls hat in der Bildungsgeschichte die Wendung von der Ideengeschichte zur Sozialgeschichte der Erziehung gefördert. Über die Rezeption des Symbolischen Interaktionismus wurde die qualitative Sozialforschung in der Pädagogik wiederbelebt.

Vertreter und Vordenker der Kritischen Erziehungswissenschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Koller, Hans-Christoph: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Stuttgart 2004, S. 227. ISBN 978-3-17-019604-9
  2. Peter Euler: Kritik in der Pädagogik: Zum Wandel eines konstitutiven Verhältnisses der Pädagogik. In: Kritik der Pädagogik — Pädagogik als Kritik (= Schriftenreihe der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der DGfE). VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 978-3-663-10572-5, S. 9–28, doi:10.1007/978-3-663-10572-5_1 (springer.com [abgerufen am 3. September 2020]).
  3. Armin Bernhard: Kritische Pädagogik. In: Horst Adam, Dieter Schlönvoigt (Hrsg.): Kritische Pädagogik: Fragen - Versuch von Antworten. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2012, S. 13–33 (rosalux.de [PDF]).
  4. Brezinka, Wolfgang: Die Pädagogik der Neuen Linken: Analyse u. Kritik. 5., neu bearb. Auflage. München, Basel 1980, ISBN 978-3-497-00933-6.
  5. Antonia Darder, Marta Baltodano, Rodolfo D. Torres (Hrsg.): The Critical Pedagogy Reader. RoutledgeFalmer, New York / London 2003, ISBN 978-0-415-92261-6 (google.de [abgerufen am 3. September 2020]).
  6. Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 21. August 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/neibecker.wiwi.uni-karlsruhe.de

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971
  • Armin Bernhard, Lutz Rothermel (Hrsg.): Handbuch Kritische Pädagogik. Beltz UTB, Weinheim und Basel 2001, 2. Auflage. ISBN 3-8252-8214-7
  • Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar: Büchse der Pandora 1982, ISBN 3-88178-055-6
  • Andreas Gruschka: Negative Pädagogik. Eine Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Büchse der Pandora, Wetzlar 1988, ISBN 978-3-88178-076-6
  • Andreas Gruschka / Ulrich Oevermann (Hrsg.): Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno. Büchse der Pandora, Wetzlar 2004, ISBN 978-3-88178-324-8
  • Wolfgang Klafki: Kritisch-konstruktive Pädagogik. Herkunft und Zukunft. In: Eierdanz, Jürgen/Kremer, Armin (Hrsg.): Weder erwartet noch gewollt – Kritische Erziehungswissenschaft und Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges. Baltmannsweiler 2000, S. 152–178.
  • Päd.extra/Horst Speichert: Kritisches Lexikon der Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik, rororo 6190, Reinbek 1975; 980-ISBN 3 499 16190 7

Fachzeitschriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Pädagogische Korrespondenz. Zeitschrift für kritische Zeitdiagnostik in Pädagogik und Gesellschaft. Wetzlar: Büchse der Pandora Verl. ISSN 0933-6389
  • Jahrbuch für Pädagogik, begründet von Kurt Beutler, Ulla Bracht, Hans-Jochen Gamm, Klaus Himmelstein, Wolfgang Keim, Gernot Koneffke, Karl-Christoph Lingelbach, Gerd Radde, Ulrich Wiegmann, Hasko Zimmer. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, ISSN 0941-1461

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]