Lorenzo G. Vidino

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Lorenzo G. Vidino (* 1977 in Mailand, Italien) ist Programmdirektor für Extremismus an der George Washington University und gibt Publikationen auf den Gebieten Radikalisation, Gegenradikalisierung sowie Islamismus heraus.[1]

Biografie und Positionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Er erwarb ein rechtswissenschaftliches Diplom an der Universität Mailand sowie ein Doktorat an der Tufts University Fletcher School in Internationale Beziehungen und hatte bisweilen Anstellungen am Belfer Center for Science and International Affairs an der Harvard-Universität[2], der RAND Corporation und dem Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Seine Anfänge machte er in den 2000er-Jahren im Umfeld weit rechts stehender Republikaner in den USA.[3]

Weiters gibt er Medien regelmäßig Expertise, u. a. der New York Times, der Washington Post, dem Wall Street Journal, PBS, CNN, Fox News, MSNBC, BBC, Al Jazeera, der London Times, The Telegraph und Reuters.

Zu seinem bekanntesten Werk zählt das Buch The Muslim Brotherhood in the West: Evolution and Western policies.[4]

Vidino gehört dem wissenschaftlichen Beirat der Dokumentationsstelle Politischer Islam der österreichischen Regierung an. Die Stelle wurde im Rahmen der Bundesregierung von ÖVP und Grünen im Juli 2020 umgesetzt und von Ministerin Susanne Raab präsentiert.[5] Ursprünglich war diese Stelle ein geplantes Projekt der Koalition von ÖVP und FPÖ (Bundesregierung Kurz I).[6]

Gegenüber dem militanten Islamismus sieht Vidino im politischen Islam die größere Bedrohung für die westliche Kultur, weil der „ein Projekt der langfristigen gesellschaftlichen Umgestaltung“ verfolge.[7]

Die österreichische Juristin und Parlamentsabgeordnete Stephanie Krisper (NEOS) rechnet Vidino »dem Umfeld der rechtsstehenden Republikaner aus den USA« zu.[8] In einem Interview mit der Wiener Zeitung wies er diesen Vorwurf zurück und bezeichnete diese als typisch für den oberflächlichen Ansatz, dass jeder, der sich mit Islamismus beschäftigt, sofort ein extremer Rechter sei. Er gab darin auch bekannt, dass er ein eingetragenes Mitglied der Demokraten gewesen sei und mit der linken Regierung in Italien rund um Matteo Renzi zusammengearbeitet habe. Er kritisierte darin die Politisierung des Problems in Österreich und die gezielten Methoden der Diffamierung ohne Grundlage. Kritik an Studien und Berichten sei gut und wichtig, in Österreich würden manche Informationen zum Politischen Islam aber sofort verworfen werden. Und zwar nicht nur von Organisationen, die dem Islamismus nahestehen, sondern auch teils vom politischen Mainstream.[9]

Im November 2005 sagte Vidino in einem Interview mit dem konservativen bis rechtsradikalen Frontpage Magazine:

„Demografie lügt nicht: In zwei Jahrzehnten werden ethnische Nicht-Europäer in vielen europäischen Städten die Mehrheit der Bevölkerung darstellen, und ein großer Prozentsatz von ihnen werden Moslems sein.“[10]

In den Ermittlungen rund um die Operation »Luxor«, bei der im November 2020 hunderte zum Teil schwer bewaffnete Polizisten Hausdurchsuchungen bei rund 70 Beschuldigten durchführte, bezog man sich auch auf eine Studie von Vidino aus dem Jahr 2017. Schon damals hatte die Muslimische Jugend Österreich (MJÖ) eine "Methodenkritik" veröffentlicht.[11] Im Fall des ehemaligen Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Anas Schakfeh, und seiner Stiftung wurden die Vorwürfe gerichtlich zurückgewiesen.[12] Anlässlich der Anschuldigungen erklärte Vidino in einem Wiener-Zeitung-Interview: „Wenn meine Arbeit fehlerhaft ist und ihnen Schaden zugefügt hat: Warum verklagen sie mich dann nicht? Es handelt sich nur um allgemeine Kritik, persönliche Angriffe und leere rechtliche Drohungen: Das ist für mich ziemlich enthüllend.“[13] Anas Schakfeh führte dazu aus, dass "in den USA ansässige Personen in Österreich so gut wie gar nicht geklagt werden können." Zudem fragt er, ob "nicht geklagt zu werden die falsche Behauptung beweisen".[14] Die Muslimische Jugend Österreich (MJÖ) unterließ laut Eigenangaben eine Klage, da Lorenzo Vidino seinen Wohnsitz in den USA habe und somit eine Klage in Österreich "praktisch unmöglich" sei. Zudem zitiert diese eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Graz in der es heißt, dass die "unter anderem auf der Vidino-Studie und Nachgesagtem aufbauende Einschätzung im Gutachten Scholz/Heinisch" als Beweismittel ungeeignet sind."[15]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

2017 veröffentlichte Lorenzo Vidino eine vom BVT (10 000 Euro) und ÖIF (80 000 Euro) finanzierte Studie mit dem Titel „Muslim Brotherhood in Austria“. Laut eines Pressestatements der Muslimischen Jugend Österreich (MJÖ) habe der Direktor des BVT zugesichert, dass das BVT keinen inhaltlichen Beitrag zur genannten Studie geleistet hat.[16] Diese Studie war bereits im „Projekt Ballhausplatz“ enthalten, die Studie sollte auf Vorschlag der Abgeordneten Stephanie Krisper (NEOS) Gegenstand des ÖVP-Korruption-Untersuchungsausschusses werden.[17]

Diese Studie von Lorenzo Vidino war später Grundlage für die Operation Luxor,[18] während der Amtszeit von Herbert Kickl (FPÖ) als Innenminister wurde sie „analysiert“. In diesem Zusammenhang erstatten BVT-Beamte eine Anzeige gegen ehemalige Vorgesetzte.[19]

Über diese Studie schrieb der Religionswissenschaftler Franz Winter, Professor an der Universität Graz:

„Wie vielfach schon angemerkt wurde, besteht das Grundproblem dieser Arbeit darin, dass sie primär die vielen Gerüchte, die in verschiedenen österreichischen Medien über die Jahre kolportiert wurden, zitiert, affirmativ aufnimmt und ohne weitere Hintergrundausstattung oder zusätzliche Beweise im Raum stehen lässt. Es fehlt oft an Unterfütterung für die Behauptungen und in vielen Fällen werden zum Teil sehr alte Vorwürfe ohne Abwägung wiederaufgenommen.“[20]

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze kritisierte immer wieder Lorenzo Vidino auf Twitter:

„In der Auseinandersetzung um die Muslimbrüder erinnert vieles an radikale verschwörungstheoretische Einlassungen, mit denen im 19. Jahrhundert Freimaurer, Sozialisten und Kommunisten bekämpft wurden. Lorenzo Vidino hüllt sie hier in ein pseudowissenschaftliches Gewand, um zu «beweisen», dass eine kleine «Führungsclique» (30 Leute) «im Untergrund» agiere, «um die mitteleuropäische Gesellschaft zu destabilisieren» und «inhaltliche Hintergründe für Attentäter» zu verbreiten. Die Muslimbrüder sieht er als Geheimgesellschaft, die nicht nur den Islam, sondern den Westen überhaupt unterwandern wolle. Solche absurden Behauptungen verstellen der Politik die Sicht auf die Probleme, die mit der durch eine religiöse Desintegration verursachten Krise verbunden sind. Eine Politik, die dieser Desintegration entgegenwirken will, braucht keine stark rechtslastigen stereotypen Verschwörungstheorien, sondern eine breite zivilgesellschaftliche Allianz muslimischer wie nichtmuslimischer Einrichtungen und Persönlichkeiten, die durch gezielte Programme hilft, der religiösen Desintegration entgegenzuwirken.“[21]

Zusammenarbeit mit den Vereinigten Arabischen Emiraten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Februar 2022 hat die belgische NGO „Droit au Droit“ einen Bericht über den Einfluss der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) auf die Europäische Union (EU) veröffentlicht. Darin wird mehrmals die Arbeit von Lorenzo Vidino für emiratische Organisationen erwähnt.[22]

In der Zeitschrift The New Yorker erschien im März 2023 ein investigativer Artikel über die Verbindungen von Lorenzo Vidino zum privaten Nachrichtendienst Alp Services, das zuvor durch die VAE beauftragt worden war. Demnach soll er zu einem „Tausend-Dollar-Dinner“ nach Genf eingeladen worden sein, um ihn als Berater für Alp Services zu gewinnen. Zwei Wochen nach dem Essen hat Vidino einen Vertrag in Höhe von 3000 Euro gegen Informationen über die Muslimbrüderschaft in Europa unterschrieben. Zudem soll laut David D. Kirkpatrick vom The New Yorker Vidino versprochen haben Informationen, die er von europäischen Nachrichtendiensten erhält, weiterzuleiten: „Obviously I think that my memo would be ‘juicier’ after that visit. ”The next month, Vidino wrote that “many of the names on the list come indeed straight from various meetings with German intel.“ Insgesamt hat Lorenzo Vidino mit Stand April 2020 13 000 Euro für seine Arbeit enthalten.[23][24]

Über die Verbindungen zwischen Vidino und den VAE schrieb auch die französische Zeitung Mediapart. Darin wird erwähnt, dass Lorenzo Vidino auf der Website des emiratischen Thinkthanks „Trends Research“ als Experte auftaucht.[25] Laut Profil sitzt Vidino auch in dem in Abu Dhabi ansässigen Thinkthank „Hedayah“, dem hauptsächlich Vertreter der Herrscherfamilie vorstehen.[26] Im September 2021 besuchte Außenminister Alexander Schallenberg das Zentrum „Hedayah“,[27] im Oktober 2021 Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP).[28]

Der Spiegel veröffentlichte im Juli 2023 eine Recherche. So profitierte Alp Services dadurch, dass Vidino Kontakte zu Qualitätsmedien herstellen konnte. Von Lorenzo Vidino an Alp Services erhaltene Informationen wurden anschließend an den Geheimdienst der VAE weitergeleitet. Auf diesen Listen befanden sich etwa Nawaf Salam, deutsche Lokalpolitiker und Mitglieder des Zentralrats der Muslime. In internen Unterlagen von Alp Services ist zudem Korrespondenz mit dem deutschen Bundestagsabgeordneten Christoph de Vries (CDU) enthalten, auf Spiegel-Anfrage erklärt er über die wahre Identität von Alp Services getäuscht worden zu sein.[29]

Unter Führung des EIC haben unter dem Namen „Abu Dhabi Secrets“ mittlerweile über 13 Medien aus 13 Staaten Recherchen zu Lorenzo Vidino zu diesem Thema veröffentlicht. Darunter Radio Télévision Suisse, Le Soir und NRC Handelsblad.[30]

Konsequenz dieser Berichterstattung war, dass zwei Wissenschaftler, Hilary Matfess und Cynthia Millier-Idriss (Professorin für Soziologie an der American University), sich von Lorenzo Vidino distanziert haben.[31]

Im Juli 2023 folgte Beatrice de Graaf, Professorin an der Universität Utrecht.[32]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. GW Program on Extremism: Our Team: Dr. Lorenzo Vidino. In: extremism.gwu.edu. Abgerufen am 7. Februar 2021 (englisch).
  2. Lorenzo Vidino. In: belfercenter.ksg.harvard.edu. Archiviert vom Original am 4. März 2016; abgerufen am 7. Februar 2021 (englisch).
  3. Fabian Schmid: Ermittlungen, Landkarten, EU-Abstimmungen: Der türkise Kampf gegen den "politischen Islam". In: Der Standard. 17. Juni 2021, abgerufen am 2. August 2023.
  4. Lorenzo Vidino: The New Muslim Brotherhood in the West. Columbia University Press, New York 2010, ISBN 978-0-231-15126-9.
  5. Dokumentationsstelle Politischer Islam hat Chefin. In: ORF.at. 18. September 2020, abgerufen am 7. Februar 2021.
  6. ÖVP will politischen Islam verbieten und Identitäre auflösen. 16. August 2019, abgerufen am 7. September 2023.
  7. Forscher: Politischer Islam ist gefährlicher als Dschihadismus. In: idea.de. 7. Februar 2021, abgerufen am 7. Februar 2021.
  8. Jan Michael Marchart: Umstrittene Razzien gegen angebliche Muslimbrüder werden Thema im ÖVP-U-Ausschuss Der Standard, 18. Juli 2022.
  9. Daniel Bischof: Islamismus - "Muslimbrüder verbreiten ein Opfernarrativ". In: Wiener Zeitung. 29. September 2022, abgerufen am 17. August 2023.
  10. “Demography doesn't lie: in a couple of decades non-ethnic Europeans will represent the majority of the population in many European cities and a large percentage of them will be Muslim.” Jamie Glazov: Al-Qaeda in Europe. In: Frontpage Magazine, 14. November 2005.
  11. Muslimische Jugend Österreich: Methodische Kritik und politische Einschätzung (Kurzfassung). 25. September 2017, abgerufen am 18. August 2023.
  12. Hans Rauscher: »Operation Luxor«: Entscheidender (Fehl)schlag Der Standard, 20. September 2022.
  13. Daniel Bischof: Islamismus - "Muslimbrüder verbreiten ein Opfernarrativ". In: Wiener Zeitung. 29. September 2022, abgerufen am 17. August 2023.
  14. Anas Schakfeh: Nicht geklagt zu werden beweist noch nichts. In: Wiener Zeitung. 11. Oktober 2022, abgerufen am 17. August 2023.
  15. Muslimische Jugend Österreich: Rufschädigende Behauptungen über die Muslimische Jugend. In: Wiener Zeitung. 11. Oktober 2022, abgerufen am 17. August 2023.
  16. Muslimische Jugend Österreich: PRESSESTATEMENT. 25. September 2017, abgerufen am 18. August 2023.
  17. Jan Michael Marchart: Umstrittene Razzien gegen angebliche Muslimbrüder werden Thema im ÖVP-U-Ausschuss. In: Der Standard. 18. Juli 2022, abgerufen am 2. August 2023.
  18. Anna Thalhammer: Operation Luxor: Nehammers Debakel. In: Profil. 2. April 2023, abgerufen am 2. August 2023.
  19. Fabian Schmid: Ermittlungen, Landkarten, EU-Abstimmungen: Der türkise Kampf gegen den "politischen Islam". In: Der Standard. 17. Juni 2021, abgerufen am 2. August 2023.
  20. Franz Winter: Muslimbrüder, immer und überall? In: Der Standard. 14. Januar 2021, abgerufen am 2. August 2023.
  21. https://twitter.com/SchulzeRein/status/1454389564307611650. Abgerufen am 2. August 2023.
  22. UNDUE INFLUENCE: an investigative report on foreign interference by the United Arab Emirates in the democratic processes of the European Union. Droit au Droit, 28. Februar 2022, S. 77–90, abgerufen am 30. August 2023.
  23. David D. Kirkpatrick: The Dirty Secrets of a Smear Campaign. In: The New Yorker. 27. März 2023, abgerufen am 2. August 2023.
  24. Guido Steinberg: Regionalmacht Vereinigte Arabische Emirate. Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2020, S. 11.
  25. Yann Philippin, Antton Rouget: Leaked data shows extent of UAE's meddling in France. In: Mediapart. 4. März 2023, abgerufen am 2. August 2023.
  26. Anna Thalhammer: Operation Luxor: Nehammers Debakel. In: Profil. 2. April 2023, abgerufen am 2. August 2023.
  27. ORF at/Agenturen red: Schallenberg in VAE zu Gast. 10. September 2021, abgerufen am 2. August 2023.
  28. Sobotka: Strategische Partnerschaft mit Vereinigten Arabischen Emiraten braucht parlamentarische Säule. Abgerufen am 2. August 2023.
  29. Muriel Kalisch, Monika Bolliger, Rafael Buschmann, Nicola Naber, Sven Becker: Im Visier des Scheichs. In: Der Spiegel. 7. Juli 2023, abgerufen am 2. August 2023.
  30. Abu Dhabi Secrets | EIC. Abgerufen am 2. August 2023.
  31. Professors cut ties with US university, citing director's reported role targeting Muslim groups. In: Middle East Eye. 4. April 2023, abgerufen am 2. August 2023.
  32. Wilmer Heck, Andreas Kouwenhoven: Deskundige over Moslimbroederschap speelde dubbelspel. In: NRC. 9. Juli 2023, abgerufen am 2. August 2023.