Murray Gell-Mann

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Murray Gell-Mann (2007)
Murray Gell-Mann an der Harvard University (2005)

Murray Gell-Mann[1] (* 15. September 1929 in New York, NY, USA; † 24. Mai 2019 in Santa Fe, New Mexico, USA[2]) war ein US-amerikanischer Physiker. Er erhielt 1969 den Nobelpreis für Physik „für seine Beiträge und Entdeckungen betreffend der Klassifizierung der Elementarteilchen und deren Wechselwirkungen“.

Leben und Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Schulabschluss 1944 studierte Gell-Mann bis 1948 an der Yale University Physik, 1951 promovierte er am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Victor Weisskopf. Von 1956 bis zu seiner Emeritierung 1993 war er Professor am California Institute of Technology (Caltech).

Gell-Mann leistete schon früh fundamentale Beiträge zur Theorie und Klassifikation stark wechselwirkender Teilchen (Hadronen). 1953 führte er die QuantenzahlStrangeness“ zur Klassifikation der Hadronen ein.[3] Mit Abraham Pais untersuchte er das K-Meson-System,[4] ein Paradebeispiel für ein quantenmechanisches Zweizustandssystem. Aber auch auf anderen Gebieten der Quantenfeldtheorie und Elementarteilchenphysik leistete er wesentliche Beiträge. Zum Beispiel entdeckte er 1954 mit Francis Low die Renormierungsgruppe[5], unabhängig von E.C.G. Stückelberg und A. Petermann.[6] In einer weiteren Arbeit mit Low[7] untersuchte er das, was später Bethe-Salpeter-Gleichung genannt wurde. Mit Richard Feynman veröffentlichte er 1958 eine neue Formulierung der schwachen Wechselwirkung (V-A-Theorie).[8]

Mit Keith Brueckner untersuchte er das Vielteilchenproblem des Elektronengases[9] und mit Marvin Leonard Goldberger die allgemeine quantenmechanische Streutheorie.[10] Mit Walter Thirring und Goldberger führte er Dispersionsrelationen ein.[11] In einer Arbeit mit Maurice Lévy[12] untersuchte er das „chiral model“ (PCAC (partially conserved axial vector current), Goldberger-Treiman-Relation). Diese Modelle drücken die chirale Symmetrie der starken Wechselwirkung aus und dienten ab den 1960er Jahren als phänomenologische Modelle zu ihrer Beschreibung (Beziehungen zwischen Massen und Kopplungskonstanten usw.).

Gell-Mann und unabhängig von ihm Juval Ne’eman schlugen 1961 ein phänomenologisches Modell zur Klassifikation der Hadronen vor, das er zunächst entsprechend dem Edlen Achtfachen Pfad im BuddhismusEightfold Way“ nannte, da die Zahl 8[13] in dem Modell eine zentrale Rolle spielt. 1964 entwickelten Gell-Mann und unabhängig von ihm George Zweig daraus das Quark-Modell.[14][15] Damals waren nur drei Quark-Flavours (up, down, strange) bekannt, heute sind drei weitere bekannt, die aber eine viel höhere Masse haben und deshalb in den Experimenten der 1960er Jahre nicht entdeckt werden konnten. Die zugehörige Symmetriegruppe bei drei Quark-Flavours ist die SU(3)-Gruppe, und die zu den Pauli-Matrizen analogen häufig verwendeten Generatoren der SU(3) werden Gell-Mann-Matrizen genannt. Zur Bezeichnung der Quarks wurde Gell-Mann durch einen Satz aus dem Roman Finnegans Wake von James Joyce („Three quarks for Muster Mark“) inspiriert.

In Physics Band 1, 1964, S. 63 (The symmetry group of vector and axial vector currents) und Physical Review Band 125, 1962, S. 1067 führte er in Zusammenhang mit seinen Arbeiten zum Quark-Modell „current algebras“ ein (wörtlich „Algebra der Ströme“), die in den 1960er Jahren sehr populär waren.

1972 führte er mit Harald Fritzsch den Farbfreiheitsgrad (color) der Quarks ein,[16] und in einer gemeinsamen Arbeit mit Heinrich Leutwyler wurde die volle Quantenchromodynamik eingeführt.[17][18]

Gell-Mann verbrachte in den 1960er Jahren einige Zeit am CERN und kehrte Ende der 1970er Jahre zurück, als er über die große Vereinigung der verschiedenen Kräfte in der Natur referierte.[19]

Ende der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren war er u. a. an der Entwicklung von Grand Unified Theories (GUT) beteiligt. Unter anderem untersuchte er mit Pierre Ramond und Richard Slansky die Möglichkeiten der Einbettung der color-Gruppe in GUTs[20] und entwickelte den „Seesaw“-Mechanismus zur Massenerzeugung.[21] Außerdem beteiligte er sich an der Entwicklung von Supergravitations-, Kaluza-Klein- und Stringtheorie. In den 1990er Jahren beteiligte er sich am Ausbau der „decoherent-histories“-Interpretation der Quantenmechanik (mit James Hartle). Ab 1993 war er unter anderem am 1984 von ihm mitbegründeten Santa Fe Institute, wo er sich mit komplexen adaptiven Systemen und allgemein mit der Entstehung von komplexen Phänomenen aus einfachen Gesetzen beschäftigte. Er berichtete darüber in seinem populärwissenschaftlichen Buch Das Quark und der Jaguar und beschäftigte sich zuletzt mit kooperativen Ansätzen in der Ökonomie.[22]

Gell-Mann war Mitglied des Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal. 1959 war er erster Träger des Dannie-Heineman-Preises.

Zu seinen Doktoranden zählen Kenneth Wilson, Barton Zwiebach und Sidney Coleman.

Privatleben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gell-Mann wurde in Lower Manhattan als Sohn einer Familie jüdischer Einwanderer aus Österreich-Ungarn, genauer gesagt aus Czernowitz in der heutigen Ukraine, geboren.[23][24] Seine Eltern waren Pauline (geb. Reichstein) und Isidore Gell-Mann („Arthur“), der Englisch als Zweitsprache unterrichtete.[25] Er hatte einen neun Jahre älteren Bruder Benedict Gelman (Gell-Mann),[26] der Fotograf und Reporter war.

Gell-Mann heiratete 1955 J. Margaret Dow. Sie hatten eine Tochter (Elizabeth) und einen Sohn (Nicholas). Margaret starb 1981 an Krebs und 1992 heiratete er Marcia Southwick, deren Sohn sein Stiefsohn wurde.[27]

Zu Gell-Manns Interessen außerhalb der Physik gehörten Archäologie, Naturgeschichte, Vogelbeobachtung und historische Linguistik.[27][28]

Er starb in seinem Zuhause in Santa Fe am 24. Mai 2019 im Alter von 89 Jahren.[29]

Der Romanautor Cormac McCarthy sah in Gell-Mann einen Universalgelehrten, der „mehr über mehr Dinge wusste als irgendjemand, den ich je getroffen habe… Murray zu verlieren ist wie der Verlust der Encyclopædia Britannica.“[30]

Trivia[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Michael Crichton berichtete im 2002 gehaltenen Vortrag Why Speculate? von einer Beobachtung, die er im Gespräch mit seinem – nach eigener Aussage – engen Vertrauten Gell-Mann gemacht habe: So empfinde man die mediale Berichterstattung in Bereichen eigener Expertise oft als störend ungenau, was paradoxerweise keinerlei Skepsis bei nachfolgenden fachfremden Themen hervorrufe. Er bezeichnete das Phänomen als Murray-Gell-Mann-Amnesie-Effekt.[31][32]

Auszeichnungen (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Darüber hinaus erhielt Gell-Mann den Ernest-Orlando-Lawrence-Preis, die Benjamin-Franklin-Medaille, sowie zahlreiche Ehrendoktorate der Universitäten Cambridge, Columbia, Oxford, Chicago, Florida, Yale und anderer.[35]

Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Gell-Mann und Ne’eman (Hrsg.): The Eightfold Way. 1964 (Fachbuch zum Eightfold Way).
  • Das Quark und der Jaguar. Piper, München 1994, ISBN 3-492-22296-X (populärwissenschaftliches Buch).
  • Selected Papers. World Scientific, 2010.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Murray Gell-Mann – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Fußnoten und Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Das ist die richtige Schreibung des Namens, er wurde aber auch häufig als Gellmann zitiert.
  2. George Johnson: Murray Gell-Mann, Who Peered at Particles and Saw the Universe, Dies at 89. In: The New York Times. 24. Mai 2019, abgerufen am 24. Mai 2019.
  3. Isotopic spin and new unstable particles. In: Physical Review. Band 92, 1953, S. 833.
  4. Physical Review. Band 97, 1955, S. 1387.
  5. Quantum Electrodynamics at small distances. In: Physical Review. Band 95, 1954, S. 1300.
  6. Helv. Phys. Acta 26, 1953, S. 499
  7. Bound states in quantum field theory. In: Physical Review. Band 84, 1951, S. 350.
  8. Theory of the Fermi interaction. In: Physical Review. Band 109, 1958, S. 193. Diese Theorie wurde auch unabhängig von George Sudarshan und Robert Marshak etwa zur gleichen Zeit entwickelt.
  9. Correlation energy of an electron gas at high density. In: Physical Review. Band 106, 1957, S. 364, 369.
  10. Formal theory of scattering. In: Physical Review. Band 91, 1955, S. 398
  11. Use of causality conditions in quantum theory. In: Physical Review. Band 95, 1954, S. 1612.
  12. The axial vector current in beta decay. In: Nuovo Cimento. Band 16, 1960, S. 705.
  13. Das entspricht der Anzahl der Teilchen in einer speziellen Darstellung der Symmetriegruppe SU(3) (SU für spezielle unitäre Gruppe), das ist die Gruppe der unitären (3 × 3)-Matrizen mit Determinante 1. Baryonen wie Proton und Neutron bestehen aus drei Quarks, Mesonen aus zwei (einem Quark und einem Anti-Quark).
  14. A schematic model of baryons and mesons. In: Physics Letters B. Band 8, 1964, S. 214. Der Name wurde von Gell-Mann dem Buch Finnegans Wake von James Joyce entnommen („Three quarks for Muster Mark“), wo es nach Arno Schmidt lautmalerisch einen Möwenschrei nachbildet, der sich auf König Marke reimt. Gell-Mann hat neben linguistischen auch ornithologische Interessen.
  15. Laut Harald Fritzsch: Das absolut Unveränderliche, TB, 2007, S. 99, hat James Joyce das Wort auf der Durchreise auf dem Markt in Freiburg im Breisgau gehört, als Marktfrauen ihre Milchprodukte anboten.
  16. Quarks. Developments in the quark theory of hadrons. In: Acta physica austriaca. Suppl. 9, 1972, S. 733.
    Light cone current algebra, pi decay and e+ e annihilation. In: Fritzsch und W. Bardeen (Hrsg.): Scale and conformal symmetry in hadron physics. 1973, S. 139.
    Der Farbfreiheitsgrad wurde allerdings schon Mitte der 1960er Jahre von Yōichirō Nambu, Moo-Young Han und Oscar Wallace Greenberg in Modellen verwendet.
  17. Fritzsch, Gell-Mann und Leutwyler: Advantages of the color octet gluon picture. In: Physics Letters B. Band 47, 1973, S. 365.
  18. Fritzsch und Gell-Mann: Current algebra. Quarks and what else? In: 16. International Conference High energy physics. CERN 1972, Band 2, S. 135.
  19. CERN pays tribute to Murray Gell-Mann. CERN, abgerufen am 24. Juli 2019 (englisch).
  20. Reviews of modern physics. Band 50, 1979, S. 721.
  21. In: van Nieuwenhuizen und Freedman (Hrsg.): Supergravity. 1979.
  22. Ole Peters, Murray Gell‐Mann: Evaluating gambles using dynamics. In: Chaos: An Interdisciplinary Journal of Nonlinear Science. 2016, Band 26, Nummer 2 doi:10.1063/1.4940236.
  23. Murray Gell-Mann: How my father came to America. Abgerufen am 31. Juli 2022 (englisch).
  24. The Making of A Physicist. In: Edge.org. Abgerufen am 31. Juli 2022.
  25. Murray Gell-Mann in der Notable Names Database (englisch, abgerufen am 31. Juli 2022)
  26. The Southern Illinoisan: Benedict Gelman. Abgerufen am 31. Juli 2022 (englisch).
  27. a b George Johnson: Murray Gell-Mann, Who Peered at Particles and Saw the Universe, Dies at 89. In: The New York Times. 24. Mai 2019, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 31. Juli 2022]).
  28. In memoriam: Murray Gell-Mann | Santa Fe Institute. Abgerufen am 31. Juli 2022 (englisch).
  29. Murray Gell-Mann passes away at 89. In: santafe.edu. Santa Fe Institute, 24. Mai 2019, abgerufen am 24. Mai 2019.
  30. Kendrick Frazier: In Memory of Murray Gell-Mann, Who Gave Us Quarks and Ordered the Subatomic World | Skeptical Inquirer. 5. September 2019, abgerufen am 31. Juli 2022 (amerikanisches Englisch).
  31. Dan Geer: For Good Measure. Why Speculate? In: USENIX. The Advanced Computing Systems Association (Hrsg.): ;login:. Band 40, Nr. 6, Dezember 2015, S. 64–65 (englisch, usenix.org [PDF]).
  32. Philippe Wampfler: Der Gell-Mann-Amnesia-Effekt. In: Medium. 9. August 2020, abgerufen am 29. Dezember 2020.
  33. Member History: Murray Gell-Mann. In: search.AmPhilSoc.org. American Philosophical Society, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 15. März 2022; abgerufen am 17. August 2018 (englisch, mit Biographie).
  34. Annual Humanist Awardees. Abgerufen am 31. Juli 2022 (amerikanisches Englisch).
  35. Murray Gell-Mann passes away at 89. In: santafe.edu. Santa Fe Institute, 24. Mai 2019, abgerufen am 24. Mai 2019.