Nichtbürger (Lettland)

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Nichtbürger (lettisch nepilsoņi, russisch неграждане) sind nach lettischem Recht „Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht in Lettland, die weder die lettische noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzen“.[1] Nichtbürger gelten in Lettland nicht als Staatenlose (lettisch bezvalstnieki), der UNHCR sieht sie als solche. In Lettland lebten am 1. Juli 2023 insgesamt 183.106 Nichtbürger, das sind 9,3 % aller Einwohner.[2] Fast alle von ihnen (96 %) sind ehemalige Sowjetbürger, davon etwa zwei Drittel ethnische Russen.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der lettische Nichtbürger-Pass unterscheidet sich in der Umschlagfarbe von üblichen lettischen Pass.

Die Kategorie Nichtbürger wurde mit der Resolution „Zur Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Rechte lettischer Bürger und die Grundprinzipien der Naturalisierung“ des Obersten Sowjets Lettlands vom 15. Oktober 1991 eingeführt. Die Staatsbürgerschaft Lettlands wurde durch diese Resolution nur den Bürgern der Republik Lettland nach dem Stand vom Juni 1940 und deren Nachkommen zuerkannt. Mehr als 700.000 Einwohnern Lettlands, gut 27 % der Gesamtbevölkerung, wurde die Staatsbürgerschaft vorenthalten.

Das Staatsbürgerschaftsgesetz[3] von 1994 legte die Grundlagen für ein Einbürgerungsverfahren, welches seit dem 1. Februar 1995 gilt. Zu diesem Zeitpunkt war das Verfahren aber nur einer Minderheit der Nichtbürger zugänglich. In einem Referendum im Jahr 1998 wurde das Staatsbürgerschaftsgesetz dahingehend geändert, dass einer Mehrheit der Nichtbürger die Einbürgerung ermöglicht wird. Dazu gehört eine Sprachprüfung in Lettisch und der Nachweis von Grundkenntnissen der Geschichte und der Verfassung. Die lettische Sprache zu lernen, ist vor allem für die älteren russischsprachigen Einwohner Lettlands ein Problem, da sie es in sowjetischer Zeit mehrheitlich nicht nötig hatten, die Sprache der lettischen Bevölkerungsmehrheit zu erlernen.[4] Insofern ist der Anteil der Nichtbürger unter den über 70-Jährigen bei weitem am höchsten. Deshalb sind die Anforderung der Sprachprüfung für über 65-Jährige zum 1. September 2011 herabgesetzt worden.[5][6]

Rechtsstellung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Rechtsstellung der Nichtbürger wurde im Jahre 1995 durch ein eigenes Gesetz geregelt.[7] Sie unterliegen gewissen Meldepflichten.

Die lettischen Nichtbürger sind zahlreichen Einschränkungen bezüglich ihrer Menschen- und Bürgerrechte und teils auch persönlichen Rechte unterworfen. So haben sie kein aktives oder passives Wahlrecht weder bei nationalen noch bei kommunalen Wahlen. Sie sind von bestimmten Berufen ausgeschlossen, zum Beispiel ist es ihnen nicht möglich, als Beamte, Polizisten oder Notare zu arbeiten. Für Arbeitszeiten im Ausland (d. h. vor allem den Rest der ehemaligen Sowjetunion) erhielten die Nichtbürger bis zu einer Verfassungsgerichtsentscheidung keine Rente in Lettland, falls dies nicht durch spezielle Sozialversicherungsabkommen geregelt war. Im Gegensatz zu lettischen Bürgern sind den Nichtbürgern visafreie Reisen in eine Reihe von Ländern nicht möglich; für die EU-Länder gilt diese Beschränkung für Kurzzeitaufenthalte nicht, sie genießen dort aber keine Freizügigkeit. Im Jahre 2013 zählte das „Lettische Menschenrechtskomitee“, die Vertretung insbesondere der russischsprachigen Einwohner Lettlands, noch achtzig Unterschiede zwischen den Rechten der Nichtbürger und Bürger auf.[8]

Allerdings waren Nichtbürger zu keinem Zeitpunkt verpflichtet, in der Armee Lettlands zu dienen, während es für Bürger männlichen Geschlechts bis 2005 obligatorisch war. Für die Einreise nach Russland wurden ihnen günstigere Visa als den Bürgern Lettlands ausgestellt, seit Juni 2008 sind für die meisten Nichtbürger kurze visafreie Reisen nach Russland möglich.[9][10]

Änderungen des Staatsbürgerschaftsgesetz 1994 erfolgten 1998, 2013 und 2019. Sie brachten geringe Verbesserungen.

Kinder von Nicht-Bürgern oder Staatenlosen, die seit dem 21. August 1991 im Lande geboren wurden und dauerhaft hier wohnen, dürfen seit der Gesetzesänderung 2013 unter erleichterten Bedingungen lettische Vollbürger werden, wenn sich ihre Eltern verpflichten, sie beim Erlernen lettischer Sprache und Kultur zu fördern. Seit 2014 werden nur noch etwa fünfzehn Prozent der neugeborenen Kinder von Nichtbürgern unter Verzicht auf volle lettische Staatsangehörigkeit angemeldet.

Am 17. Oktober 2019 wurde ein Gesetz verabschiedet (in Kraft 1. Januar 2020), wonach in Lettland geborene Kinder von Nichtbürgern automatisch die lettische Staatsangehörigkeit ab Geburt erhalten, falls sich die Eltern nicht darauf einigen, dass sie eine andere Staatsangehörigkeit erhalten sollen. Diese Regelung ist bei Auslandsgeburten subsidiär oder wenn ein Elternteil Ausländer ist. Dann muss man beweisen, dass das Kind nicht ausländischer Staatsangehöriger sein könnte.

Widerruf

Vonseiten der Verwaltung wird der Status häufig widerrufen, wenn unterstellt wird, der Betroffene hätte aus irgendeinem Grund Anspruch auf eine andere, meist post-sowjetische, Staatsbürgerschaft. Solche Streitfälle machen gut ein Viertel der verwaltungsgerichtlichen Urteile in Staatsbürgerschaftssachen aus. Auch der EGMR hat sich mehrfach mit derartigen Fällen befassen müssen und bis 2020 fast immer gegen die lettische Regierung geurteilt.

Demographie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von den 735.000 Nichtbürgern 1995 wurden bis Ende 2011 nur 137.673 eingebürgert. 267.797 behielten den Nichtbürger-Status, die verbleibenden rund 330.000 Personen nahmen eine andere, meist die russische Staatsangehörigkeit an. Infolge der Einbürgerung von Nichtbürgern (auch im Ausland) und der Mortalität fiel der Anteil der Nichtbürger an der Gesamtbevölkerung von 21 % (im Jahre 2000) auf 9,3 % (im Jahre 2023).[2]

Lettische Einwohner, die Nichtbürger sind, nach Nationalität
(Stand: 1. Juli 2023)
[2]
Nationalität Anzahl  % der nationalen Gruppe  % der Nichtbürger
Russen 120.796 24,6 66,0
Belarussen 25.446 42,6 13,9
Ukrainer 18.325 25,4 10,0
Polen 6.586 16,7 3,6
Litauer 4.337 18,5 2,4
Sonstige 7.616 4,1
Insgesamt 183.106 9,3 % der Bevölkerung 100

Internationaler Standpunkt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es existiert eine Reihe von Empfehlungen internationaler Organisationen, welche sich mit der Nichtbürgerfrage beschäftigen. Diese Empfehlungen beinhalten:

  • Gewährung des Wahlrechts für Nichtbürger bei Kommunalwahlen[11]
  • Verringerung der Unterschiede zwischen lettischen Bürgern und Nichtbürgern[12]
  • Verzicht auf die Forderung von Aussagen, welche im Gegensatz zum Geschichtsbild der Naturalisierungswilligen stehen[13]

Die juristischen Verrenkungen der lettischen Regierung, den Status des Nichtbürgers als Nicht-Staatenloser aber zugleich Nicht-Staatsbürger im Lichte internationaler Verpflichtungen zu legitimieren, wurden im Laufe der Zeit immer komplexer.[14]

Einigen Empfehlungen, etwa derer zur Erleichterung der Naturalisierung hinsichtlich der Anforderungen, Behandlung von Neugeborenen, sowie die Verringerung der zu entrichtenden Gebühren,[15] ist Lettland inzwischen nachgekommen.[16]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Rosa-Luxemburg-Stiftung: Atlas der Staatenlosen, 2020, S. 52–53 (online).
  • Jennifer Croft: Non-Citizens in Estonia and Latvia: Time for Change in Changing Times? In: OSCE Yearbook 2015. Nomos, Baden-Baden 2016, S. 181–195 (Digitalisat).
  • Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Oldenbourg, München 2005, ISBN 978-3-486-57819-5.
  • David Rupp: Die Rußländische Föderation und die russischsprachige Minderheit in Lettland. ibidem-Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 3-89821-778-7.
  • Carmen Schmidt: Minderheitenschutz im östlichen Europa – Lettland. Institut für Ostrecht der Universität zu Köln 2005 (online).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. David Rupp: Die Rußländische Föderation und die russischsprachige Minderheit in Lettland; Stuttgart 2007 (ibidem-Verlag), S. 38.
  2. a b c Latvijas iedzīvotāju sadalījums pēc nacionālā sastāva un valstiskās piederības, (Verteilung der lettischen Bevölkerung nach Nationalität und Staatsangehörigkeit, lettisch), Stand: 1. Juli 2023, abgerufen am 8. Dezember 2023.
  3. Citizenship Law (englisch)
  4. Eduard Franz: Lettlands Beitrag zur EU: 500.000 aliens? Zur Situation der russischsprachigen Bevölkerung; Bonn 2003 (FES Library)
  5. Laws and regulations regulating the tests as provided by the Citizenship Law, abgerufen am 14. Mai 2014.
  6. Detailliert auf der Webseite der OCMA (engl.; zggr. 2020-05-22).
  7. On the Status of those Former U.S.S.R. Citizens who do not have the Citizenship of Latvia or that of any Other State (englisch)
  8. V. Buzayev Legal and social situation of the Russian-speaking minority in Latvia Latvian Human Rights Committee & Averti-R, 2013 (PDF; englisch), S. 152–156.
  9. Nichtbürger Lettlands dürfen nach Russland ohne Visa fahren. (russisch)
  10. Für wen ist der Weg offen? Nicht alle Nichtbürger Lettlands und Estlands haben das Recht ohne Visa nach Russland zu fahren. Rossijskaja gaseta (russisch)
  11. Europarat für Wahlrecht der Nichtbürger in Lettland RIA Novosti
  12. Parlamentarische Versammlung des Europarates: Resolution Nr. 1527 (2006) — Absatz 17.11.2. (englisch).
  13. Parlamentarische Versammlung des Europarates: Resolution Nr. 1527 (2006) — Absatz 17.9. (englisch).
  14. Vgl. hierzu das Verfassungsgerichtsurteil zu den Änderungen am Gesetz über ehemalige Sowjetbürgerm Az. 2004-15-0106, Staatsanzeiger Nr. 40, 9. März 2005.
  15. Report by CoE Commissioner for Human Rights on his Visit to Latvia (2004) — Section 132.4. (englisch)
  16. Council of Europe: State Report zum 3. September 2012: Second report submitted by Latvia pursuant to article 25, paragraph 2 of the Framework Convention for the Protection of National Minorities, abgerufen am 14. Mai 2014 (englisch).