Nouvelle Philosophie

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Mit Nouvelle Philosophie (oft wird auch von den neuen Philosophen gesprochen) bezeichnet man eine Gruppe französischer Intellektueller um André Glucksmann, Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy, Pascal Bruckner, Jean-Marie Benoist, Jean-Paul Dollé, Michel Guérin, Christian Jambet und Gilles Susong. Die Strömung wird nach dem Titel eines Heftes der Zeitschrift Les Nouvelles littéraires bezeichnet, das im Juni 1976 erschien und dessen Redaktion von Jean-Marie Borzeix dem jungen Bernard-Henri Lévy übertragen wurde.[1]

Die Vertreter der Strömung, die sich teils aus der existenzialistischen und der Foucault-Schule, teils auch aus dem maoistischen Lager rekrutierten, hatten sich unter dem Einfluss von Alexander Solschenizyn zum Antitotalitarismus bekannt. Sie traten in den 1970er Jahren mit einer Kritik an „linkslastigen“ Philosophen an, darunter Jean-Paul Sartre und verschiedene Poststrukturalisten. Diese „linken“ Philosophen stellten – so die Kritik der neuen Philosophen – gemeinschaftliche und ideologische Ideale über humanistische Gesichtspunkte, insbesondere über den Gesichtspunkt des einzelnen Individuums. Sie seien derselben antihumanistischen Tradition zuzuordnen wie Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger.

Kennzeichen der neuen Philosophen, die vor allem als polemische Essayisten und Literaten wirken, ist ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen Argumente „von links“. Deren Vertreter schätzten die Autorität „linker“ Traditionen und ihre Verantwortung für die Politik prinzipiell zu hoch, insbesondere was das geistige Erbe des Linkshegelianismus und von Karl Marx betreffe. Dass der (französische) Intellektuelle ein „links“ eingestellter Denker sein müsse, wie dies Jean-Paul Sartre oder Michel Foucault manifestieren, sei nicht nur ein verbreitetes Stereotyp, sondern ein haltloses Klischee.

Positionen zum Multikulturalismus und Islamismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der jüngeren Zeit richtete sich die Kritik der neuen Philosophen einerseits gegen die Indifferenz, welche die „Linke“ den humanitären Bedürfnissen von Mitgliedern anderer Kulturen entgegenbringe. So wendet sich Finkielkraut[2] gegen einen „Kulturrassismus“, der sich nicht mehr biologistischer Argumente bediene, sondern eine Ungleichwertigkeit der Kulturen annehme. Diese Entwertung fremder Kulturen sei eine westliche Erfindung. Insbesondere die diesbezügliche Polemik von Pascal Bruckner und Paul Cliteur wurde international verfolgt.

Andererseits kritisieren Vertreter der Strömung die Idealisierung des Multikulturalismus durch europäische Intellektuelle. Lévy entwickelte sich zu einem Kritiker des von ihm so bezeichneten „Islamofaschismus“.[3] In L'Empire et les cinq rois wirft Lévy den Amerikanern vor, die Welt den Russen, Chinesen, Türken, dem Iran und dem sunnistischen Islam zu überlassen. Nur die USA und Israel könnten diese Mächte in Schach halten.[4] Bruckner wirft der Linken vor, dass sie den Kapitalismus durch Reformen gestärkt und seine ökonomischen Prioritäten, den Kern der Warenproduktion nicht angerührt habe.[5]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Bewegung wurde vehement kritisiert. François Aubral und Xavier Delcourt sprechen von einem medialen Phänomen, einer pub-philosophie, die von Bernard-Henri Lévy mit dem Ziel der Absatzförderung der von ihm geleiteten Reihen im Verlag Grasset initiiert worden sei. Ihre Philosophie sei leer („vacuité“).[6]

Gilles Deleuze sprach von einer Rückkehr „großer Konzepte“ im Rahmen vereinfachter dualistischer Gegenüberstellungen – etwas, gegen das seine eigene Generation mit guten Gründen gekämpft habe. Die Äußerungen der neuen Philosophen seien leere Beschwörungen: DER Glaube, DAS Gesetz, DIE Welt, und sie seien selbstbezogen: Ich als Angehöriger der vorlorenen Generation, des Mai 68, ich als Christ, ich als Zeitzeuge sage euch... (so Lévy in Die Barbarei mit menschlichem Antlitz, das mit dem Satz beginnt: „Ich bin das uneheliche Kind eines teuflischen Paars, des Stalinismus und des Faschismus“). Die neuen Philosophen hätten keine neue philosophische Schule begründet, was ansonsten in Frankreich eine lange Tradition mit ausgesprochen autoritären und inquisitorischen Nebeneffekten hatte; sie seien literarische Selbstvermarkter. Ihr Werk sei von Journalisten und vom Fernsehen auf der Suche nach „Ereignissen“ aufgewertet worden. Sie seien Konformisten und lebten von den Märtyrern und „Kadavern“ der stalinistischen und anderer Gewalttaten. „Ihr Denken ist Null.“[7]

Jürg Altwegg konstatiert, dass der Antitotalitarismus der neuen Philosophen nur den Marxismus ersetzt habe. Der sog. Islamtotalitarismus sei eine neue Variante davon. Es gehe darum, die neuen Tyrannen „prophylaktisch zu bekriegen, um Genozide zu vermeiden. Im ersten Golfkrieg wurde [...] Saddam Hussein mit Hitler gleichgesetzt; er hatte die Kurden mit Gas bekämpft. Auch die Bomben gegen seinen nächsten Wiedergänger, Milošević, fielen im Namen der Vergangenheitsbewältigung: zur Verhinderung ethnischer Säuberungen in Bosnien. Gleichzeitig allerdings ignorierten die antitotalitären Intellektuellen den realen Genozid in Ruanda, bei dem die Mitverantwortung ihres eigenen Landes unbestritten ist.“[8] Lévy habe den Krieg gegen Libyen aktiv propagiert, habe bei Sarkozy dafür geworben, „und er bekam ihn“. Altwegg prognostiziert, das keines der Werke Lévys, die an aktuelle Umstände gebunden waren, ihn überleben werden.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • François Aubral, Xavier Delcourt: Contre la nouvelle philosophie (= Collection idées. 380, ISSN 0530-8089). Gallimard, Paris 1977.
  • Gilles Deleuze: À propos des nouveaux philosophes et d’un problème plus general. In: Minuit. Nr. 24, Supplément, 1977, (Digitalisat; auch in: Gilles Deleuze: Deux régimes de fous et autres textes. Textes et entretiens 1975–1995. Éditions de Minuit, Paris 2003, ISBN 2-7073-1834-5, S. 126–134).
  • Peter Dews: The Nouvelle Philosophie and Foucault. In: Economy and Society. Bd. 8, Nr. 2, 1979, S. 127–171, doi:10.1080/03085147900000005.
  • Richard J. Golsan: French Writers and the Politics of Complicity. Crises of Democracy in the 1940s and 1990s. The Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 2006, ISBN 0-8018-8258-3.
  • Peter Kampits: Von der Politik zur Ethik. Frankreichs ‚Nouvelle Philosophie‘. In: Wissenschaft und Weltbild. 1978/2.
  • Dominique Lecourt: The Mediocracy. French Philosophy since the mid-1970s. Verso, London u. a. 2001, ISBN 1-85984-793-5.
  • Günther Schiwy: Poststrukturalismus und „Neue Philosophen“ (= Rowohlts Enzyklopädie. 413). Überarbeitete Neuausgabe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985, ISBN 3-499-55413-5.
  • Peter Starr: Logics of Failed Revolt. French Theory after May '68. Stanford University Press, Stanford CA 1995, ISBN 0-8047-2445-8.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Stichwort Nouvelle Philosophie auf www.histophilo.com.
  2. Alain Finkielkraut: Die Niederlage des Denkens (= rororo. 12413). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12413-0.
  3. Ich führe Krieg. Spiegel-Gespräch mit Bernard-Henri Lévy. In: Der Spiegel, 3. April 2010.
  4. Bernard-Henri Lévy: The Empire and the Five Kings. America's Abdication and the Fate of the World. Henry Holt, New York NY 2019, ISBN 978-1-250-20302-1.
  5. Pascal Bruckner: Misère de la prospérité. La religion marchande et ses ennemis. Grasset, Paris 2002, ISBN 2-246-53411-9.
  6. Aubral, Delcourt: Contre la nouvelle philosophie. Paris 1977.
  7. Deleuze on the nouveaux philosophes. Online-Veröffentlichung des Textes aus Minuit, Supplément au n°24, Mai 1977 (französisch).
  8. Jürg Altwegg: Er wollte den Krieg, und er bekam ihn. In: faz.net, 12. Juli 2018.