Oberreichsanwalt

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Siegelmarke Deutsches Reich – Kaiserlicher Ober-Reichsanwalt
Brief des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof am 16. Mai 1944 an die Staatsanwaltschaft Kiel

Der Oberreichsanwalt war der oberste Beamte der Reichsanwaltschaft bei dem Reichsgericht. Die Reichsanwaltschaft war eine Oberbehörde des Deutschen Reichs im Geschäftsbereich des Reichskanzleramtes; ab 1918 war sie dem Geschäftsbereich des Reichsjustizministeriums zugeordnet. Nach § 143 Abs. 1 Nr. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) alter Fassung (a. F.) war die Reichsanwaltschaft die Anklagebehörde am deutschen Reichsgericht. Dem Oberreichsanwalt waren mehrere Reichsanwälte nach § 145 GVG a. F. als seine Vertreter zugeordnet. Zudem gab es den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof.

Leitung und Aufsicht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Reichsanwaltschaft wurde 1877 im Zuge der Reichsjustizgesetze beim Reichsgericht eingerichtet. Der Reichskanzler leitete und führte die Aufsicht über den Oberreichsanwalt und die Reichsanwälte gemäß § 148 Nr. 1 GVG a. F. Die Leitung und Aufsicht oblag dem Reichskanzler in Ermangelung eines Reichsjustizministeriums bis zum Ende des Kaiserreichs. Das Reichsjustizamt war eine Abteilung des Reichskanzleramts.

Ernennung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach § 150 Abs. 1 GVG a. F. wurde der Oberreichsanwalt auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser ernannt. Als politischer Beamter konnte der Oberreichsanwalt nach § 150 Abs. 2 GVG a. F. jederzeit durch Kaiserliche Verfügung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Dasselbe galt für die Reichsanwälte. Der Oberreichsanwalt und die Reichsanwälte mussten nach § 149 Abs. 2 GVG a. F. die Befähigung zum Richteramt besitzen, obwohl sie keine Richter waren (§ 149 Abs. 1 GVG a. F.). Oberreichsanwälte hatten denselben Rang und Gehalt wie der Reichsgerichtspräsident, Reichsanwälte den eines Reichsgerichtsrats.[1]

Aufgaben des Oberreichsanwalts[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Oberreichsanwalt war örtlich für das gesamte Reichsgebiet, sachlich für diejenigen Bereiche zuständig, welche vor dem Reichsgericht verhandelt wurden (§ 143 Abs. 1 GVG a. F.). Anders als heute die Bundesanwaltschaft nach § 142a GVG übte der Oberreichsanwalt nicht das Amt des Staatsanwalts für die Strafsachen, für welche die Oberlandesgerichte erstinstanzlich zuständig sind (§ 120 Abs. 1 GVG), aus. Der Oberreichsanwalt konnte auch nicht, wie der Generalbundesanwalt im Rahmen des § 120 Abs. 2 GVG, durch die Übernahme der Verfolgung wegen besonderer Bedeutung die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte begründen und sich damit nach § 142a GVG selbst die sachliche Zuständigkeit begründen (sog. gekorene Staatsschutzdelikte). Im Vergleich zum Generalbundesanwalt war daher die Bedeutung des Oberreichsanwalts geringer.

Anklage- und Untersuchungsbehörde[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Oberreichsanwalt übte die Funktion einer Anklage und Untersuchungsbehörde bei Aufgaben aus, bei welchen das Reichsgericht erstinstanzlich gemäß §§ 143 Abs. 1 Nr. 1, 136 Abs. 1 Nr. 1 GVG a. F. zuständig war. Die erstinstanzliche Zuständigkeit war nach § 136 Nr. 1 GVG a. F. nur in Fällen des Hochverrats- und Landesverrats gegeben, die gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet waren.

Mitwirkung am Revisionsverfahren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Oberreichsanwalt hatte die Mitwirkung an Revisionssachen vor den Strafsenaten des Reichsgerichts nach §§ 143 Abs. 1 Nr. 1, 136 Abs. 1 Nr. 2 GVG a. F. inne. Das Reichsgericht war Revisionsgericht gegen Urteile

  • der Strafkammern der Landgerichte in erster Instanz, soweit nicht zu Zuständigkeit der Oberlandesgerichte begründet war (§ 136 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 GVG a. F.) (Anmerkung: Die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte war nach § 123 Nr. 3 GVG a. F. gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern nur gegeben, wenn die Revision ausschließlich auf der Verletzung einer Rechtsnorm eines Landesgesetzes gestützt wurde);
  • gegen die Urteile der Schwurgerichte;
  • gegen Urteile der Strafkammern der Landgerichte in der Berufungsinstanz in Strafsachen wegen Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher in die Reichskasse fließender Abgaben und Gefälle, sofern die Entscheidung des Reichsgerichts von der Staatsanwaltschaft bei der Einsendung der Akten an das Revisionsgericht beantragt wird (§ 136 Abs. 2 GVG a. F.).

Für die Revision gegen Urteile der Strafkammern in der Berufungsinstanz waren im Übrigen nach § 123 Nr. 2 GVG a. F. die Oberlandesgerichte, und damit nach § 143 Abs. 1 GVG a. F. die Staatsanwaltschaften zuständig.

Weisungsbefugnis des Oberreichsanwalts[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Oberreichsanwalt hatte als erster Beamter der Reichsanwaltschaft das Recht den Reichsanwälten dienstliche Weisungen zu erteilen. Diese aus dem Hierarchieprinzip folgende selbstverständliche Befugnis stellte § 147 Abs. 1 GVG a. F. klar. Nach § 147 Abs. 2 GVG a. F. war der Oberreichsanwalt berechtigt, allen Beamten der Staatsanwaltschaft Weisungen zu erteilen, wenn das Reichsgericht erstinstanzlich zuständig war (Hoch- und Landesverratssachen gegen Kaiser und Reich).

Bezugszeitpunkt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Zuständigkeit des Oberreichsanwalts beim Reichsgericht bezieht sich in diesem Artikel bis zur Änderung im Dritten Reich auf die Rechtslage des Jahres 1877. Im Dritten Reich leitete der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht außer der Reichsanwaltschaft vorübergehend auch deren Zweigstelle beim Volksgerichtshof. Dieser war am 24. April 1934 als Zweigstelle des Reichsgerichts zur Aburteilung von Hoch- und Landesverrat gegen den NS-Staat in Berlin errichtet worden. Mit der am 1. April 1936 erfolgten Umwandlung des Volksgerichtshofes zum ordentlichen Gericht ging die Anklagezuständigkeit des Oberreichsanwalts beim Reichsgericht auf die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof über. Geleitet wurde dieser zunächst von einem Reichsanwalt, ab 1937 von dem Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof. Die Terrorjustiz beim Volksgerichtshof begann erst nach dessen Trennung vom Reichsgericht.[2]

Ludwig Ebermayer, 1921, Oberreichsanwalt in den Prozessen gegen die Kapp-Putschisten, Gemälde von Anton Klamroth

Oberreichsanwälte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Oberreichsanwälte beim Reichsgericht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nr. Name Amtsantritt Ende der Amtszeit
1 August Heinrich von Seckendorff (1807–1885) 1879 1885
2 Hermann Tessendorf (1831–1895) 1886 1895
3 Oskar Hamm (1839–1920) 1896 1899
4 Philipp Justus von Olshausen (1844–1924) 1899 1907
5 Arthur Zweigert (1850–1923) 1907 1920
6 Ludwig Ebermayer (1858–1933) 1921 1926
7 Karl August Werner (1876–1936) 1926 1936
8 Emil Brettle (1877–1945) 1937 1945

Oberreichsanwälte beim Volksgerichtshof[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nr. Name Amtsantritt Ende der Amtszeit
1 Friedrich Parey (1889–1938) 1937 1938
2 Ernst Lautz (1887–1979) 1939 1945

Aufgrund seiner Tätigkeit am VGH in den Jahren 1939 bis 1945 wurde der Oberreichsanwalt Ernst Lautz im Juristenprozess von 1947 wegen Kriegsverbrechen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Reichsanwälte beim Volksgerichtshof[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Reichsanwaltschaft beim VGH war in fünf Abteilungen, entsprechend der Zahl der Senate des VGH, unterteilt, in denen siebzig „höhere Beamte“ beschäftigt waren. In jeder Abteilung gab es fünf Staatsanwälte und einen Reichsanwalt.[3] Der Oberreichsanwalt wurde im Prozess durch einen Reichsanwalt vertreten. Reichsanwälte und Abteilungsleiter beim VGH waren Oswald Rothaug (ab 1943) und von 1938 bis 1944 Paul Barnickel, der 1944 noch als Reichsanwalt zum Reichsgericht wechselte.

Weitere Anwälte (von ca. 120)[4]:

Signum von Albert Weyersberg unter der 10-seitigen Anklageschrift gegen Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Malte Wilke: Staatsanwälte als Anwälte des Staates? Die Strafverfolgungspraxis von Reichsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, 2016. ISBN 978-3-8471-0463-6.
  • Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947: Historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge. 1. Auflage. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 1996. ISBN 3-7890-4528-4
  • Hansjoachim W. Koch, Volksgerichtshof. Politische Justiz im 3. Reich, München Universitas 1988, ISBN 3-8004-1152-0

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Johann von Treutlein-Moerdes (1858–1916): Die Staatsanwaltschaft bei dem Reichsgerichte, in: Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts, Sonderheft des Sächsischen Archivs für Deutsches Bürgerliches Recht zum 25-jährigen Bestehen des höchsten Deutschen Gerichtshofs, S. 109.
  2. Emil Brettle: Zusammenarbeit der Reichsanwaltschaft und des Reichsgerichts. In: Erwin Bumke zum 65. Geburtstage (Festschrift). R. v. Decker’s Verlag. G. Schenk. Walter de Gruyter & Co. Franz Vahlen, Berlin 1939.
  3. Juristen-Urteil, S. 173
  4. Angaben übernommen aus Günther Wieland: Das war der Volksgerichtshof. Ermittlungen, Fakten, Dokumente. Staatsverlag der DDR, Berlin 1989, ISBN 3-329-00483-5. Dort auf den Seiten 161 bis 167 eine Namensliste von ca. 120 Staatsanwälten und ca. 90 Richtern, die zum Teil vorher auch Staatsanwälte waren. Bei Hansjoachim W. Koch, Volksgerichtshof werden 65 Richter, 76 Anklagevertreter und 162 ehrenamtliche Richter namentlich aufgeführt
  5. Merkblatt des Ober-Reichsanwalts beim Volksgerichtshof in der Strafsache X (Straftat: Hochverrat)
  6. Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin. 3. Aufl. Berlin (Ost) 1968, S. 118 (Text im Internet (Memento vom 3. März 2011 im Internet Archive)). Prozessbeteiligung siehe Wanda Kallenbach, Alois Geiger und Elisabeth Pungs
  7. a b Günther Wieland: Das war der Volksgerichtshof: Ermittlungen – Fakten – Dokumente. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1989, ISBN 3-329-00483-5, S. 129.
  8. Klaus Godau-Schüttke: Ich habe nur dem Recht gedient. Die „Renazifizierung“ der Schleswig-Holsteinischen Justiz nach 1945, Baden-Baden Nomos-Verlag, 1993, S. 116–122
  9. Juristen-Urteil, S. 175; Parrisius verlor den Prozess um seine Pension, Frankfurter Rundschau, 28. August 1968; NSDAP #2431287
  10. Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen. 1. Auflage. Propyläen, Berlin 2020, ISBN 978-3-549-10018-9.