Prozesssoziologie

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Die Prozesssoziologie bzw. Figurationssoziologie ist durch Norbert Elias bekannt geworden. Der Begriff Prozess bezieht sich auf soziale wie auf verbundene kognitive Prozesse, juristische Prozesse sind in diesem Zusammenhang allenfalls ein spezieller Fall für mögliche soziologische Analysen.

Zum Begriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Neben der Kritischen Theorie und der Systemtheorie zählt sie zu den Gesellschaftstheorien. Die Prozesssoziologie erhebt den Anspruch, eine möglichst angemessene Wahrnehmung der Realität in ihrer Dynamik wiederzugeben. Elias’ Bestreben war es, eine Wissenschaft weiterzuentwickeln, in der Soziogenese und Psychogenese als nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat er auch die Psychoanalyse zur Entwicklung eines ganzheitlichen Menschenbilds herangezogen. Elias hatte kurz vor seinem Tod den Eindruck, dass der Figurationsbegriff sich im Gebrauch zu sehr in die Nähe der Systembegriffs entwickelte und zog deshalb den Begriff Prozesssoziologie vor.[1]

Einordnung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Prozesssoziologie wurde genauso wie die Kritische Theorie stark von der Marxschen Theorie beeinflusst. Jedoch versteht sich die Prozesssoziologie als nicht normativ. Das Weltbild beinhaltet im Gegensatz zur Systemtheorie keine geschlossenen Systeme, sondern Prozesse ohne Anfang und ohne Ende, d. h. auch ohne Ziel. Menschen und ihre immer dynamischen Verflechtungen („Figurationen“), nicht Kommunikationssysteme, stehen im Mittelpunkt der Betrachtung.

Bernhard Miebach bewertet Elias aufgrund seines Ansatzes der Prozesssoziologie als „visionären Prozesstheoretiker“, der den Prozesscharakter des sozialen Handelns durchgängig ins Zentrum stellt.[2]

Grundbegriffe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Grundbegriffe im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es in der Prozesssoziologie nicht. Denn bereits das Wort „Grund“ suggeriert so etwas wie ein statisches monokausales Ursache-Wirkungs-Modell. Davon kann bei der Prozesssoziologie keine Rede sein. Da die Sprache die Welt ist, wie sie erfahren wird, spricht man von „wichtigen Begrifflichkeiten“.

Begriffe versteht Elias als „symbolische Repräsentationen“, die beobachtbare Phänomene beschreiben,[3] d. h., sie beschreiben, was in einer Gesellschaft gewusst, gedacht, empfunden und ausgedrückt werden kann. Begriffe sind für Elias der „Prototyp eines anfangslosen Prozesses“, da es in der sprachlichen Entwicklung keine klaren Anfangspunkte geben kann.[4] Begriffe und ihre Entwicklung dienen prozesssoziologisch als „Zeugen für bestimmte Struktureigentümlichkeiten von Gesellschaften“[5] und können als solche wissenschaftlich untersucht werden. Elias kritisiert, dass wissenschaftliche „Begriffsapparate“ die Prozessualität von Gesellschaften meist zu wenig abbilden und oft noch einen „statischen Beigeschmack“ haben. Er bemüht sich um die „Sisyphusarbeit, gerade das Umgekehrte zu versuchen und den Wandel von Gesellschaften als das Normale anzusetzen und das relative Verweilen einer Gesellschaft in einem bestimmten Zustand als Ausdruck der Blockierung des Wandels“.[6] In seiner Arbeit bemüht sich Elias dementsprechend, „ein ausreichendes gedankliches Handwerkszeug“ zu entwickeln, das in der Lage ist, „Orientierung zu vermitteln“.[7]

Prozesssoziologische Begriffe sollen als „begriffliche Werkszeuge“[8] dienen, die

  • menschliche Wesen und die von ihnen gebildeten Gesellschaften in ihrer Prozessualität abbilden,
  • möglichst wenig abstrakt sind,
  • helfen, begriffliche Dualismen zu überwinden.[9]

Zu dem von Elias entwickelten begrifflich-gedanklichen Werkzeug zählen folgende Begriffe:

  • Sozialer Prozess[10]
  • Figuration[11]
  • Zivilisation bzw. Zivilisationsprozess oder der untrennbare Zusammenhang von Sozio- und Psychogenese[12]
  • Zivilisierung: persönlicher Prozess psychosozialer Entwicklung als Teilprozess im gesamtgesellschaftlichen Prozess der Zivilisation
  • Machtbalance
  • sozialer und persönlicher Habitus
  • Begriffspaare, die als Balancebegriffe „zur Bestimmung der Richtung sozialer Prozesse dienen“.[13] Beispiele: Zivilisation und Entzivilisation, Zivilisierung und Dezivilisierung, Engagement und Distanzierung, Integration und Desintegration, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Realismus und Phantasie, Subjekt- und Objektzentrierung, Wir und Ich, Analyse und Synthese, Fremdregulierung und Selbstregulierung, individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse, äußerer und innerer Zwang, Sicherheit und Gefahr, Kooperation und Konkurrenz, freundliche und feindliche Konkurrenz, Lob- und Schimpfklatsch
  • Monopol- oder Konkurrenzmechanismus (hierzu zählt auch der Mechanismus zur Ausbildung von Zentralpositionen, genannt Königsmechanismus)

Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Über die aktuelle prozesssoziologische Forschung informiert die Elias Foundation.[14]

Folgende Forscher arbeiten auf der Basis prozesssoziologischer Ansätze und entwickeln diese weiter: Reinhard Blomert, Stefanie Ernst, Eric Dunning, Dawud Gholamasad, Peter Gleichmann, Johan Goudsblom, Hermann Korte (Soziologe), Helmut Kuzmics, Andrew Linklater, Stephen Mennell, Dieter Reicher, Bram van Stolk, Abram de Swaan, Stephen Vertigans, Annette Treibel, Hans-Peter Waldhoff, Cas Wouters.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Norbert Elias: Gesammelte Schriften. (19 Bände), hrsg. im Auftrag der Norbert-Elias-Stichting Amsterdam von Reinhard Blomert, Heike Hammer, Johan Heilbron, Annette Treibel, Nico Wilterdink.
    • Band 1: Frühschriften. bearb. von Reinhard Blomert, Amsterdam 2002, ISBN 3-518-58317-4.
    • Band 2: Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie; mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, bearb. von Claudia Opitz, Amsterdam 2002, ISBN 3-518-58329-8.
    • Band 3. Über den Prozess der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Band 1. Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandes, Band 2. Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. bearb. von Heike Hammer, Amsterdam 1997, ISBN 3-518-58244-5.
    • Band 4: Etablierte und Außenseiter. übers. von Michael Schröter, bearb. von Nico Wilterdink. Amsterdam 2002, ISBN 3-518-58318-2.
    • Band 5: Was ist Soziologie? bearb. von Annette Treibel, Amsterdam 2006, ISBN 3-518-58429-4.
    • Band 6: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen und Humana Conditio. bearb. von Heike Hammer, Amsterdam 2002, ISBN 3-518-58351-4.
    • Band 7: Norbert Elias; Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation. übers. von Detlef Bremecke, bearb. von Reinhard Blomert, Amsterdam 2002, ISBN 3-518-58363-8.
    • Band 8: Engagement und Distanzierung. hrsg. und übers. von Michael Schröter, bearb. von Johan Heilbron, Amsterdam 2003, ISBN 3-518-58381-6.
    • Band 9: Über die Zeit. hrsg. von Michael Schröter, übers. von Holger Fliessbach und Michael Schröter, bearb. von Johan Heilbron, Amsterdam 2004, ISBN 3-518-58421-9.
    • Band 10: Die Gesellschaft der Individuen. bearb. von Annette Treibel, hrsg. von Michael Schröter, Amsterdam 2001, ISBN 3-518-58314-X.
    • Band 11: Studien über die Deutschen: Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. hrsg. von Michael Schröter, bearb. von Nico Wilterdink, Amsterdam 2005, ISBN 3-518-58425-1.
    • Band 12: Mozart: zur Soziologie eines Genies. hrsg. von Michael Schröter, bearb. von Reinard Blomert, Amsterdam 2005, ISBN 3-518-58438-3.
    • Band 13: Symboltheorie. bearb. von Helmut Kuzmics, übers. von Reiner Ansén, Amsterdam 2001, ISBN 3-518-58309-3.
    • Band 14: Aufsätze und andere Schriften I. bearb. von Heike Hammer, Amsterdam 2006, ISBN 3-518-58453-7.
    • Band 15: Aufsätze und andere Schriften II. bearb. von Heike Hammer, Amsterdam 2006, ISBN 3-518-58454-5.
    • Band 16: Aufsätze und andere Schriften III. bearb. von Heike Hammer, Amsterdam 2006, ISBN 3-518-58455-3.
    • Band 17: Autobiographisches und Interviews. mit CD, bearb. von Heike Hammer, Amsterdam 2005, ISBN 3-518-58422-7.
    • Band 18: Gedichte und Sprüche. bearb. von Sandra Goetz, Amsterdam 2004, ISBN 3-518-58386-7.
    • Band 19: Gesamtregister. bearb. von Jan-Peter Kunze, Amsterdam 2010, ISBN 978-3-518-58525-2.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Norbert Elias: 'Vielleicht habe ich etwas von dem gesagt, was eine Zukunft hat', Gespräch mit Wolfgang Engler. In: Autobiographisches und Interviews. Gesammelte Schriften Band 17. Frankfurt am Main 1989/2005, S. 373f.
  2. Bernhard Miebach: Prozesstheorie. Analyse, Organisation und System. Wiesbaden 2009, S. 117.
  3. Norbert Elias: Wissenschaftliche Establishments. in: Aufsätze und andere Schriften II. Ges. Schriften Band 15. Frankfurt am Main 1982c/2006, ISBN 3-518-58454-5, S. 307.
  4. Norbert Elias: Symboltheorie. Ges. Schriften Band 13. Frankfurt am Main 1991/2001, ISBN 3-518-58309-3, S. 37.
  5. Norbert Elias (1987/2001): Wandlungen der Wir-Ich-Balance. in: Die Gesellschaft der Individuen. Ges. Schriften Band 10. Frankfurt am Main, ISBN 3-518-58314-X, S. 209.
  6. Norbert Elias: Interview von Heiko Ernst. in: Autobiographisches und Interviews, m. Audio-CD. Ges. Schriften Band 17. Frankfurt am Main 1974/2005, ISBN 3-518-58422-7, S. 139f.
  7. Norbert Elias: Die Zivilisierung der Eltern – Unveröffentlichte, unvollendete Fortsetzung. Deutsches Literaturarchiv Marbach 1980, S. 3y. Zitiert nach Désirée Waterstradt: Prozess-Soziologie der Elternschaft. Nationsbildung, Figurationsideale und generative Machtarchitektur in Deutschland. Münster 2015, ISBN 978-3-95645-530-8, Anfangszitat.
  8. Norbert Elias: Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie. In: Aufsätze und andere Schriften III. Ges. Schriften. Band 16, Frankfurt am Main 1986/2006, ISBN 3-518-58455-3, S. 104.
  9. Waterstradt, Désirée: Prozess-Soziologie der Elternschaft. Nationsbildung, Figurationsideale und generative Machtarchitektur in Deutschland, Münster 2015, ISBN 978-3-95645-530-8, S. 3–81.
  10. Norbert Elias: Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie. in: Aufsätze und andere Schriften III. Ges. Schriften Band 16. Frankfurt am Main 1986/2006, ISBN 3-518-58455-3, S. 104–111.
  11. Norbert Elias: Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie. in: Aufsätze und andere Schriften III. Ges. Schriften Band 16. Frankfurt am Main 1986/2006, ISBN 3-518-58455-3, S. 100–103.
  12. Norbert Elias: Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie. in: Aufsätze und andere Schriften III. Ges. Schriften Band 16. Frankfurt am Main 1986/2006, ISBN 3-518-58455-3, S. 100–103.
  13. Norbert Elias: Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie. in: Aufsätze und andere Schriften III. Ges. Schriften Band 16. Frankfurt am Main 1986/2006, ISBN 3-518-58455-3, S. 104f.
  14. Norbert Elias Foundation über einen Blog und den Newsletter Figurations