Recht zur Selbstverteidigung

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Das Recht zur Selbstverteidigung ist in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen festgelegt und stellt eine Ausnahme vom Gewaltverbot dar. Es gibt jedem Mitgliedstaat das Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff.

Vertragsrechtliche Grundlage[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs, Kapitel VII, Artikel 51: Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen für Westeuropa[1]

Das Selbstverteidigungsrecht soll demnach nur den zeitlichen Verzögerungen Rechnung tragen, mit welchen der UN-Sicherheitsrat aktiviert werden kann und zu einer Entscheidung nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen über Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen gelangt. Mitgliedstaaten und Sicherheitsrat stehen also bei der Wahrung der internationalen Sicherheit nicht gleichberechtigt nebeneinander. Es liegt keine konkurrierende Handlungsbefugnis vor, sondern dem Sicherheitsrat kommt der Vorrang zu.[2]

Das Selbstverteidigungsrecht eines angegriffenen Staates kann auch kollektiv ausgeübt werden, d. h. im Verbund mit anderen Staaten, die dem angegriffenen Staat Nothilfe leisten. Dabei ist es unerheblich, ob zwischen diesen Staaten zum Zeitpunkt des Beginns der Angriffshandlung ein formelles Verteidigungsbündnis besteht oder diese Nothilfe nach Beginn des Angriffs spontan erfolgt.[3] Neben dem Nordatlantikvertrag (NATO) bezieht sich der Bogotá-Pakt von 1948 auf Artikel 51 der Charta ebenso wie der 1991 aufgelöste Warschauer Pakt.

Voraussetzungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Staat kann ungeachtet des Vorrangs des UN-Sicherheitsrats das Recht auf Selbstverteidigung so lange für sich in Anspruch nehmen, wie die Angriffshandlungen des Aggressors gegen ihn andauern. Rache und Vergeltung sind nicht zulässig.[4] Es endet, sobald „der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Es erlischt, sobald die Angriffshandlungen und die Gefahr ihrer Wiederaufnahme endgültig beendet sind und somit der gegenwärtige Charakter des bewaffneten Angriffs nicht mehr gegeben ist.

Darüber hinaus muss der bewaffnete Angriff einem oder mehreren Staaten zugerechnet werden können. Dieses Recht gilt grundsätzlich auch bei Angriffen von nichtstaatlichen Organisationen. Das ergibt sich aus den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats 1368 und 1373 als Folge der Terroranschläge am 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika.[5][6][7]

In welchen Fällen nicht-staatliche Akteure (etwa Milizen oder terroristische Gruppierungen) auch außerhalb der eigenen Staatsgrenzen im Rahmen des Selbstverteidigungrechts bekämpft werden dürfen, ist bislang nicht klar als Gewohnheitsrecht etabliert. Zunächst muss die Schwelle eines „Angriffs“ im Sinne des Völkerrechts überschritten sein. Falls der Staat, von dem Terroristen angreifen, weder bereit noch fähig ist, diese zu bekämpfen, wird dies zunehmend als Rechtfertigung für eigene Angriffe gewertet – entgegen des allgemeinen Gewaltverbots. Dazu gibt es eine Staatenpraxis insbesondere von den USA, Großbritannien, Frankreich und Israel. Völkerrechtliche Bewertungen durch den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages liegen unter anderem für die Terroranschläge 2015 in Paris,[8] die Türkische Militäroffensive in Nordsyrien 2019,[9] die Tötung von Soleimani 2020[10] und die US-Angriffe 2023 außerhalb der Combined Joint Task Force vor.[11]

Der Gaza-Konflikt unterscheidet sich von einem „klassischen“ zwischenstaatlichen Kriegsszenario vor allem mit Blick auf die nicht-staatliche Konfliktpartei Hamas, die vom Territorium eines von Israel wirtschaftlich und politisch weitgehend abhängigen Gebietes aus agiert. Die im Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt auftretenden Rechtsfragen des ius ad bellum bedürften insoweit einer dogmatischen Schärfung des Selbstverteidigungsrechts gegenüber nicht-staatlichen Akteuren im Kontext eines besatzungsrechtlich geprägten Konflikts.[12]

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Am 6. August 1990 erkannte die Resolution 661 des UN-Sicherheitsrates das Recht Kuwaits zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 an.
  • Am 12. September 2001 hatte der NATO-Rat beschlossen, dass die Terroranschläge am 11. September 2001 einen Angriff auf die Vereinigten Staaten im Sinne der UN-Charta Artikel 51 darstellen und somit der Bündnisfall der NATO eingetreten war. Diese Position wurde später aber von verschiedenen Seiten bezweifelt, da der Terroranschlag vom 11. September keine kriegerische Handlung eines Staates war.[13]
  • Die UN-Vollversammlung missbilligte die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine ab 24. Februar 2022 als Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta und bestätigt damit das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gemäß Art. 51 UN-Charta. Eine historisch große Mehrheit von 141 der 181 abstimmenden Mitgliedsstaaten stimmten am 2. März 2022 in New York für eine entsprechende Resolution; nur 5 Länder votierten dagegen (Belarus, Eritrea, Nordkorea, Russland, Syrien), 35 enthielten sich (u. a. China, nicht aber Serbien).[14][15] Zuvor hatte Russland erfolglos versucht, sich zur Rechtfertigung seines Angriffs selbst auf Art. 51 der UN-Charta zu berufen.[16]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Markus Kotzur: „Krieg gegen den Terrorismus“ – politische Rhetorik oder neue Konturen des „Kriegsbegriffs“ im Völkerrecht? Archiv des Völkerrechts 2002, S. 454–479.
  • Corinna Dau: Die völkerrechtliche Zulässigkeit von Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure. Nomos-Verlag, 2018. ISBN 978-3-8487-4714-6.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs (pdf 421 KB)
  2. Peter Hilpold: Die Vereinten Nationen und das Gewaltverbot. Die Reformvorschläge des High-level Panels sind wenig hilfreich. Vereinte Nationen 2005, S. 81–88.
  3. Torsten Stein, Christian Buttlar, Markus Kotzur: Völkerrecht. In: Academia Iuris. 14., überarbeitete Auflage. Franz Vahlen, München 2017, ISBN 978-3-8006-5338-6, S. 291.
  4. Oliver Dörr: Gewalt und Gewaltverbot im modernen Völkerrecht. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung, 15. Oktober 2004, abgerufen am 27. Oktober 2023.
  5. Christian Tomuschat: Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen. Universität Trier, Rechtspolitisches Forum, 15. November 2001.
  6. Israel-Krieg und Völkerrecht: „Hamas-Verbrechen auf dem Radar des Internationalen Strafgerichtshofs“. Interview mit Matthias Herdegen. Legal Tribune Online, 20. Oktober 2023.
  7. a.A. Markus Krajewski: Völkerrecht. 2. Auflage. Nomos, Baden-Baden 2020, ISBN 978-3-8487-5795-4, S. 219–220.
  8. Wissenschaftliche Dienst des Bundestages: Staatliche Selbstverteidigung gegen Terroristen - Völkerrechtliche Bewertung der Terroranschläge von Paris. 13. November 2015, abgerufen am 17. Oktober 2023.
  9. Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages: Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien. 17. Oktober 2019, abgerufen am 17. Oktober 2023.
  10. Wissenschaftliche Dienst des Bundestages: Völkerrechtliche Aspekte des Konflikts zwischen Iran und den USA. 13. Januar 2020, abgerufen am 17. Oktober 2023.
  11. Wissenschaftliche Dienst des Bundestages: Titel: Völkerrechtliche Bewertung von Militäroperationen der US-Luftwaffe gegen Milizen in Ost-Syrien im M. 17. April 2023, abgerufen am 17. Oktober 2023.
  12. vgl. Völkerrechtliche Aspekte des Gaza-Konflikts vom Mai 2021. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sachstand vom 8. Juni 2021.
  13. Rainer Rothe: Beteiligung Deutscher Truppen am ISAF Einsatz völker- und verfassungsrechtswidrig. Archiviert vom Original am 21. August 2007; abgerufen am 18. August 2006.
  14. Vereint gegen den Krieg. Abgerufen am 16. Dezember 2022.
  15. Ukraine: UN-Vollversammlung verurteilt mit überwältigender Mehrheit russische Invasion. Abgerufen am 16. Dezember 2022.
  16. Angelika Nußberger: Tabubruch mit Ansage: Putins Krieg und das Recht. Osteuropa, 7. April 2022.