Reziprozität (Soziologie)

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Reziprozität bedeutet Gegenseitigkeit oder Wechselbezüglichkeit und stellt ein Grundprinzip menschlichen Handelns dar (auch Prinzip der Gegenseitigkeit).[1]

Abgeleitet wird der Begriff aus dem Lateinischen (reciprocare bzw. reciprocus) und kann folgende Bedeutungen haben: aufeinander bezüglich, gegenseitig oder wechselseitig, im umgekehrten Zusammenhang zueinander stehend.

In zahlreichen soziologischen Theorien werden gleichartige Fragen auch unter dem Begriff „Tausch“ (exchange) behandelt.

Begriffsursprung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das ursprüngliche lateinische Wort steht für:

  • zurückfließen, hin- und herfließen
  • in Wechselwirkung stehen
  • zurücksteuern
  • rückwärts bewegen
  • hin- und herbewegen
  • (auf demselben Weg) zurückkehrend
  • auf Gegenseitigkeit beruhend (bei einer Geschäftsbeziehung oder Partnerschaft)

Reziprozität in den Sozialwissenschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In den Sozialwissenschaften wird es als ein universelles soziales Prinzip angesehen. Menschen sind voneinander gegenseitig abhängig, Reziprozität gehört sogar zu einer Bedingung des Menschwerdens selbst.[2] Durch Gegenseitigkeit entstehen Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen.

Bekannte Studien, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen, stammen oft aus der Ethnologie. Ein Beispiel ist Malinowskis Untersuchung über den Kularing auf den Trobriand-Inseln. Dabei handelt es sich um den Austausch von Muschelhalsketten und -armbändern, der zu engen Bindungen zwischen den Bewohnern entfernter Inseln führte. Ein anderer Klassiker ist Marcel Mauss, der über die Gabe als beziehungsstiftendes Element schrieb, aber auch über die Möglichkeit, mittels der Gabe den sozialen Abstand zu manifestieren.

Es lassen sich in den Sozialwissenschaften mindestens vier Reziprozitätsformen unterscheiden:[3]

Direkte „echte“ Reziprozität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einfachste Regel ist das „Tit for Tat“. Aus dieser Reziprozitätsform wird auch der Tauschhandel abgeleitet, aus dem der moderne Markt entstanden sein soll. Marcel Mauss hat für den Gabentausch die folgenden Regeln beschrieben, wodurch sich die Beteiligten gegenseitig verpflichten:

a) Es kommt zu einer Eröffnungsgabe.
b) Die Gabe muss angenommen werden (häufig gibt es hierfür Normen).
c) Es muss eine Gegengabe erfolgen.

Während der Partner, der die Eröffnungsgabe machte, auf die Gegengabe wartet, besteht eine Ungewissheitsphase, welche für die Beziehung besonders wichtig ist. In dieser Zeit ist die Beziehung von beiden Seiten durch Erwartungen geprägt.

Generalisierte Reziprozität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Man unterscheidet Generalisierungen über einen längeren Zeitraum und Generalisierung über ein bestimmtes Merkmal. Während bei der direkten Reziprozität ein Ausgleich für eine Gabe oder eine Handlung im Vordergrund steht, werden einzelne Gaben mit der Zeit vergessen. Ein Beispiel für die Generalisierung über die Zeit sind Generationenbeziehungen. Eltern erbringen für ihre Kinder Pflegeleistungen und materielle Unterstützung. Vielfach wird daher von den Kindern im Falle einer Pflegebedürftigkeit der Eltern erwartet, dass sie die ihnen entgegengebrachten Leistungen „erwidern“.

Merkmale, über die hinweg Generalisierungen stattfinden, können sehr vielfältig sein. Beispielsweise kann es sich um Landsmannschaft, Hautfarbe oder Geschlecht etc. handeln. Generalisiert über ein Merkmal bedeutet, dass für jemanden eine Leistung erbracht wird, ohne dass eine Gegengabe von genau jener Person, der sie zugutekam, erwartet werden könnte. Eine Gegengabe wird möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt von jemand anderem erwartet, der das Merkmal des ursprünglich Empfangenden teilt.

Reziprozität von Positionen (reziproke Rollenbeziehungen)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Damit ist gemeint, dass im Rollensystem bestimmte Positionen gleichzeitig einen Gegenpart besitzen, ohne den sie nicht bestehen würden. Ein Beispiel hierfür ist der Vater mit seinem Kind. Ohne Kind hätte der Mann nicht die Position des Vaters inne.

Reziprozität der Perspektive[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Reziprozität der Perspektive ist die Möglichkeit, den Standpunkt eines anderen einzunehmen. Sie kann wissenssoziologisch als eine Bedingung des gegenseitigen Verstehens angesehen werden. Diese Idee ist vor allem mit Theodor Litt (1926), Alfred Schütz (1932)[4] und George Herbert Mead (1934) verbunden.

Obwohl Reziprozität eine grundlegende soziale Tatsache ist, wird sie durch zahlreiche Beziehungs- und Gabenormen reguliert und überformt.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Frank Adloff/ Steffen Mau (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2005
  • Howard Paul Becker: Man in Reciprocity. Introductory Lectures on Culture, Society and Personality New York: Praeger, 1956
  • Lawrence C. Becker: Reciprocity, London: Routledge & Kegan, 1986; Repr. Univ. of Chicago Press, 1990
  • Alvin W. Gouldner: Reziprozität und Autonomie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984
  • Frank Hillebrandt: Praktiken des Tauschens. Zur Soziologie symbolischer Formen der Reziprozität, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009
  • Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie Berlin: Teubner (2. stark erweiterte Auflage 1926, zuerst 1919)
  • Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft Frankfurt: Suhrkamp, 1998 (insbes. S. 649 ff.)
  • Bronisław Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea: Frankfurt: Syndikat, 1984 (zuerst: 1922, Argonauts of the Western Pacific. New York: Reynolds).
  • Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften Frankfurt: Suhrkamp, 1990 (orig. 1950, Essay sur le don Paris, 1950)
  • George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft Frankfurt: Suhrkamp, 1973 (zuerst: 1934, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist).
  • Karl Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979.
  • Alfred Schütz: Das Problem der sozialen Wirklichkeit (1971) in: Gesammelte Aufsätze I. Den Haag: Marinus Nijhoff
  • Christian Stegbauer: Reziprozität. Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2002

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Reziprozität – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • [1] Ulrich Otto: Der Stellenwert von Reziprozität. Anmerkungen zu Austauschkalkülen in zwischenmenschlicher Hilfe

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Reziprozität. In: Duden.
  2. H.S. Becker, 1956: „Man becomes human in Reciprocity“
  3. Stegbauer, Christian Reziprozität. Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit Wiesbaden: Westdeutscher, 2002
  4. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: eine Einleitung in die verstehende Soziologie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Nr. 92). 7. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-518-27692-1.