Säuglings- und Kleinkindforschung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Säuglings- und Kleinkindforschung ist ein Bereich in der Entwicklungspsychologie. Soweit es sich um medizinisch relevante Problemfälle (z. B. Frühchen) handelt, sind auch ärztliche Forschergruppen der klinischen Pädiatrie darin aktiv.

Forschungsgegenstand[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Forschung an Säuglingen und Kleinkindern umfasst die Altersspanne von der Geburt, wobei auch die vorgeburtliche Phase miteinbezogen wird, bis zum Ende des zweiten oder dritten Lebensjahres. Im englischen Sprachraum, aus denen viele der vorliegenden Forschungsarbeiten stammen, wird diese Phase als Infancy bezeichnet. Themengebiete sind etwa die Interaktionsdiagnostik, die Frühdiagnostik, die Frühförderung sowie die Entwicklungsdiagnostik und die Fortentwicklung der Bindungstheorie. Als bedeutende Vertreter gelten Margaret Mahler, Martin Dornes, Jean Piaget und Daniel Stern. Bis in die 1920er-Jahre reichen die einschlägigen empirischen Forschungsarbeiten im deutschsprachigen Raum in der gestalttheoretischen Tradition zurück – hier sind die Arbeiten von Kurt Koffka, Kurt Lewin, Eino Kaila, Richard Meili, Kurt Gottschaldt und der Münsteraner Schule um Wolfgang Metzger zu nennen.[1]

Seit die Entwicklungspsychologen entdeckt haben, dass schon ein Neugeborenes keineswegs ein „unbeschriebenes Blatt“, sondern ein mit vielen individuellen Anlagen und vorgeburtlichen Einfluss-Prägungen ausgestatteter kleiner Mensch ist, hat es weltweit viele Studien in diesem Themenbereich gegeben. Chinesische Forscher in Hongkong entdeckten z. B., dass schon sehr junge Säuglinge auf die Lautbildung der elterlichen Sprache geprägt wurden und ausgeprägte Unterscheidungsfähigkeit zwischen englischen und chinesischen Sprechern erkennen ließen.

Psychoanalytische Einflüsse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Psychoanalyse sah seit ihren Anfängen eine besondere Bedeutung in den ersten Lebensjahren der Entwicklung. Seit den Anfängen der empirischen Beobachtung von Kleinkindern durch psychoanalytische Forscher wie René A. Spitz, Margaret Mahler oder Bindungsforschern konnte durch neue Methoden ein moderner Ansatz in der Kleinkindbeobachtung oder Neonatologie entwickelt werden. Seit den 1970er Jahren erforschen Psychoanalytiker insbesondere die interpersonellen Interaktionen zwischen Mutter und Kind. Hierzu nutzen sie neue Möglichkeiten der Videotechnik, um die sich oft in Sekunden abspielenden gegenseitigen Verhaltensanpassungen in der Mimik und Gestik zwischen Mutter und Kind erforschbar zu machen.

Zu nennen sind hier vor allem die „baby-watcher“: Daniel Stern, der die Entstehung des Selbstempfindens erforschte, Robert N. Emde, der die grundlegenden Affekte des Menschen beobachtete, Joseph D. Lichtenberg, der die Bedürfnisse von Kleinkindern untersuchte, und Beatrice Beebe, die sich mit der Interaktion zwischen Säuglingen und ihren Bezugspersonen beschäftigt hat. Der neonatologische Forschungsansatz wurde im deutschsprachigen Gebiet hauptsächlich durch Martin Dornes (Der kompetente Säugling, 1993) bekannt.

Die Ergebnisse der Säuglingsforschung haben einen großen Einfluss auf die psychologische und psychoanalytische Entwicklungspsychologie ausgeübt. Dabei wurden auch kognitivistische Forschungsergebnisse für die Fundierung neuer psychoanalytischer Theorien einbezogen. Die Ergebnisse der Forschung lassen die Entwicklungspsychologie heute davon ausgehen, dass ein Säugling keineswegs, wie vielfach angenommen, ein unbeteiligter Empfänger der Pflege der Bezugspersonen ist. Heute geht die Psychologie davon aus, dass der Säugling bereits mit wenigen Wochen ein aktives, kompetentes, kontaktsuchendes und Interaktion stimulierendes Wesen ist. Entscheidend hierbei ist die Ergänzung der objektbeziehungstheoretischen Beobachtungen der 1950er und 60er Jahre. Die Interaktion zwischen Kind und Mutter, welche sich auf die spätere therapeutische Interaktion auswirken kann, wird nicht länger als einseitiger, von der Pflegeperson bestimmter Prozess angesehen. Heute muss davon ausgegangen werden, dass eine komplizierte reziproke, also wechselseitige, Kommunikation die Affekte des Kindes und dessen Befinden sowie die Möglichkeit zu deren Regulation stark beeinflusst.

Dieser Umstand hat eine große Bedeutung für die psychoanalytische Theoriebildung, da oftmals von pathologischen Zuständen erwachsener Patienten auf ähnliche Zustände im Kindesalter geschlossen wurde. Heute geht man von einem kompetenten Säugling aus, der keineswegs pathogene Phasen durchlaufen muss. Pathologisch relevante Entgleisungen des Mutter-Kind-Dialoges sind in der zeitgemäßen Psychotherapie und Psychoanalyse der frühen Kindheit auch aufgrund der psychoanalytischen und der Bindungsforschung einer differenzierteren Methodik zugänglich.[2][3]

Zu dieser Entwicklung können auch Wissenschaftler gerechnet werden, die sich um die Erforschung der Neuropsychologie und Neurophysiologie befassen, und auf moderne Verfahren zur Untersuchung der Funktionsweise des Hirns zurückgreifen, wie neue bildgebende Verfahren. Diese versuchen, eine Verbindung psychoanalytischer Theorien und Erkenntnissen, die aus den Neurowissenschaften erwachsen, zu knüpfen[4] und beziehen ihre Erkenntnisse teilweise auf die Veränderungen in der psychoanalytischen Theorie.

Säuglings- und Kleinkindforscher[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Name Lebensdaten Beruf Forschungsschwerpunkt Land
Ainsworth, Mary 1913–1999 Psychologin Entwicklung der Bindungstheorie, kindliche Bindungsmuster mit Hilfe der Fremden Situation USA
Bowlby, John 1907–1990 Kinderpsychiater, Psychoanalytiker Entwicklung der Bindungstheorie, Bindungsverhalten England
Dornes, Martin 1950–2021 Soziologe, Psychologe, Psychotherapeut empirische Untersuchungen zur Eltern-Kind-Beziehung Deutschland
Eriksson, Zaida 1895–1974 Ärztin weltweit erste empirische Säuglings- und Kleinkindstudie, Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern in institutionellen Einrichtungen Finnland
Hellbrügge, Theodor 1919–2014 Kinderarzt Früherkennung, Frühtherapie und soziale Eingliederung, empirische Untersuchung zum Hospitalismus Deutschland
Largo, Remo H. 1943–2020 Kinderarzt Langzeitstudien über kindliche Entwicklung, Autor zahlreicher Sachbücher u. a. Babyjahre, Verständnis für die biologischen Gegebenheiten und für die Vielfalt kindlichen Verhaltens Schweiz
Mahler, Margaret 1897–1985 Kinderärztin, Psychoanalytikerin Empirische Untersuchungen zur Entwicklung von Kleinkindern bis zum Alter von 3 Jahren und wie sie auf kurzzeitige Trennung von der Mutter reagieren. Aufbau eines Entwicklungsmodells zur psychischen Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter Ungarn, USA
Meierhofer, Marie 1909–1998 Kinderärztin Kinderheilkunde und Kinderpsychiatrie, umfängliche Forschung und Publikation zur Krippenbetreuung Schweiz
Papoušek, Hanus 1922–2001 Kinderarzt konditionierte motorische Reflexe durch Nahrung bei Säuglingen, frühen Mutter-Kind Beziehung, Entwicklung von Lernfähigkeiten in den ersten Lebensmonaten Tschechien
Papoušek, Mechthild * 1940 Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Entwicklungspsychologin frühe Eltern-Kind-Beziehung, Kommunikation in der ersten Lebensphase, frühkindliche Regulationsstörungen und das exzessive Schreien im Säuglingsalter, intuitiver Elternschaft Deutschland
v. Pfaundler, Meinhard 1872–1947 Kinderarzt angeborene Stoffwechselerkrankungen, Infektionskrankheiten, Ursache und Symptomatik des Hospitalismus Österreich
Schloßmann, Arthur 1867–1932 Kinderarzt, Sozialhygieniker Senkung der Säuglingssterblichkeit, weltweit erste Klinik für kranke Säuglinge, erstmalige Verwendung von Wärmeeinrichtungen zur Versorgung von Frühgeburten, Verbesserung der Ernährung von Säuglingen Deutschland
Schmidt-Kolmer, Eva 1913–1991 Ärztin, Sozialhygienikerin Empirische Untersuchungen zur physisch/psychischen Entwicklung von Kleinstkindern (im Alter bis zu drei Jahren) in Familien, Tages- und Wochenkrippen sowie Dauerheimen. Österreich, DDR
Robertson, James 1911–1988 Sozialarbeiter, Psychoanalytiker Entwicklung der Bindungstheorie, Bindungsverhalten Schottland
Stern, Daniel 1934–2012 Kinderpsychoanalytiker empirische Säuglingsforschung in experimentellen Situationen, Entwicklung des Selbst USA
Spitz, René A. 1887–1974 Psychoanalytiker Empirische Untersuchungen die die Beziehung zwischen der Persönlichkeit der Mutter und der Entwicklung des Kindes erfassen. Entwicklung der menschlichen Kommunikation, Empirische Untersuchungen zur gestörten Mutterbeziehungen des Säuglings bei inkohärenten Stimuli: Aktive und passive Ablehnung des Kindes, Überfürsorglichkeit, abwechselnde Feindseligkeit und Verwöhnung, mit Freundlichkeit verdeckte Ablehnung sowie Untersuchungen zum Hospitalismus.[5] Österreich, USA

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Anna Arfelli Galli, Gestaltpsychologie und Kinderforschung. Empirische Beiträge von Koffka, Lewin, Kaila, Meili, Gottschaldt, Metzger und ihren Schülern zur Entwicklungspsychologie des Kindes 1921-1975. Krammer: Wien 2013. ISBN 978-3-901811-66-1.
  • Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11263-X.
  • Martin Dornes: Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre. Fischer, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-13548-6.
    • Martin Dornes: Psychanalyse et psychologie du premier âge, traduit de l’allemand par Claude Vincent, préface de Jean Laplanche, Paris, Puf, coll.« Bibliothèque de la psychanalyse », 2002 ISBN 978-2-13-050307-1
  • Martin Dornes: Die emotionale Welt des Kindes. Fischer, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-596-14715-8.
  • D. N. Stern: The Interpersonal World of the Infant. Basic Books, New York 1985, ISBN 0-465-03403-9.
  • Heidi Keller (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung. 3. Auflage. Huber, Bern 2002, ISBN 3-456-83829-8.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Siehe dazu die Forschungsübersicht von Anna Arfelli Galli, Gestaltpsychologie und Kinderforschung. Empirische Beiträge von Koffka, Lewin, Kaila, Meili, Gottschaldt, Metzger und ihren Schülern zur Entwicklungspsychologie des Kindes 1921-1975. Krammer: Wien 2013.
  2. W. Mertens: Einführung in die psychoanalytische Therapie. Band 1. 3. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2000.
  3. M. Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer. Frankfurt am Main 1993.
  4. Mark Solms: Wo Psychoanalyse und Hirnforschung sich einig sind. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 101, 3. Mai 2006.
  5. Norbert Kühne: Frühe Entwicklung und Erziehung - Die kritische Periode, in: Unterrichtsmaterialien Pädagogik - Psychologie, Nr. 694, Stark Verlag, Hallbergmoos 2012