Scheunenviertel (Berlin)

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Dunkelrot: Scheunenviertel im 17. Jahrhundert; Hellrot: äußerste Ausdehnung des Stadtviertels, auf das der Name später übertragen wurde[1]

Als Scheunenviertel wurde früher ein im heutigen Berliner Ortsteil Mitte unweit des historischen Stadtkerns gelegenes Gebiet nördlich der Stadtmauer zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz bezeichnet.

Lage des Scheunenviertels, 1862

Oftmals wird der gesamte Bereich zwischen der Friedrichstraße und der Karl-Liebknecht-Straße als Scheunenviertel bezeichnet, der im Süden durch die Stadtbahn (ungefähr der Verlauf der alten Stadtmauer) und die Spree, sowie im Norden durch die Linienstraße bzw. Torstraße begrenzt ist. Tatsächlich umfasst das Scheunenviertel lediglich den östlich der Rosenthaler Straße gelegenen Teil der Spandauer Vorstadt. Die namensgebenden Scheunengassen lagen nur im Bereich des heutigen Rosa-Luxemburg-Platzes, eingegrenzt von der heutigen Almstadtstraße (westlich), der Hirtenstraße (südlich), der Linienstraße (nördlich) und der Kleinen Alexanderstraße (östlich). Keine der Scheunengassen existiert mehr in ihrer damaligen Form.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Preußen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Jahr 1670 hatte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm aus Brandschutzgründen den Unterhalt von Scheunen innerhalb des Stadtgebietes untersagt, um 1672 ordnete er den Bau von 27 Scheunen in unmittelbarer Nähe der damaligen Stadtmauer an. So entstand das heutige Scheunenviertel. Der Alexanderplatz war zu jener Zeit ein Viehmarkt, für dessen Betrieb große Mengen Heu und Stroh benötigt wurden. Da die Brandschutzordnung das Lagern derart feuergefährlicher Materialien innerhalb der Stadtmauer verbot, wurden die Scheunen außerhalb der Mauer errichtet. Nördlich der heutigen Dircksenstraße, die deren ungefähren Verlauf vor der barocken Stadtbefestigung markiert, befanden sich ausgedehnte, landwirtschaftliche Nutzflächen. Das Scheunenviertel diente zudem als Heimstatt für die dort beschäftigten Landarbeiter. Nach dem Abriss der Stadtmauer wurde das Gebiet bebaut, behielt aber im Volksmund seinen alten Namen.

Friedrich Wilhelm I. befahl 1737 allen Berliner Juden, die kein eigenes Haus besaßen, ins Scheunenviertel zu ziehen. Dieses Gesetz und die Regelung, dass Juden nur durch die beiden nördlichen Stadttore – anfangs nur durch das Rosenthaler Tor, später auch durch das Prenzlauer Tor – die Stadt betreten durften, führten dazu, dass an dieser Stelle ein Viertel mit starken jüdischen Kultureinflüssen entstand. Neben der Synagoge Heidereutergasse entstanden der Jüdische Friedhof Berlin-Mitte und der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee in unmittelbarer Nähe zum Scheunenviertel.

Für viele ostjüdische Einwanderer war es angesichts dieser Bedingungen naheliegend, sich hier ebenfalls anzusiedeln, als sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Berlin kamen. Das führte schnell zu einer stark anwachsenden Bewohnerzahl in diesem Gebiet. Auf engstem Raum mussten die Familien ihre Stube im Schichtbetrieb mit Schlafburschen teilen. Ein typischer Erwerbszweig war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die aufkommende Zigarettenherstellung mit allen Familienmitgliedern.

Zeit der Industrialisierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Prozess der Industrialisierung hinterließ im Scheunenviertel gravierende Spuren. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Berlin zur größten Industriestadt Europas. Die Bevölkerungsdichte stieg innerhalb weniger Jahre rapide an, der Wohnraumbedarf der zuziehenden Arbeiter wurde nur verspätet und unzureichend durch den Bau von Mietskasernen in den neu entstehenden Stadtteilen gemindert. In den kleinteiligen Altbauten des Scheunenviertels herrschte drangvolle Enge. Viele Neuankömmlinge fanden hier ihre erste Wohnstatt. Die knappen Schlafplätze in den untervermieteten Wohnungen wurden oftmals analog zu den Schichten in den nahegelegenen Borsigwerken geteilt. Wer weder schlief noch arbeitete, hielt sich in den Straßen auf oder verbrachte die wenige Freizeit in einer der zahlreichen Kneipen des Viertels (beispielsweise in der um die Mulackstraße gelegenen sogenannten Mulackei oder Mulackritze). Die Grenadierstraße (heute: Almstadtstraße) entwickelte sich in dieser Zeit zur Hauptstraße der orthodoxen osteuropäischen Juden, oft auch als „Ghetto mit offenen Toren“ bezeichnet.

Wegen der katastrophalen baulichen und sozialen Situation beschloss der Berliner Magistrat, das Viertel ab 1906/1907 komplett umzugestalten. Waren bis dahin noch vier der ursprünglich acht Scheunengassen vorhanden, wurde nach dem Abriss vieler Gebäude das Straßennetz rund um den Rosa-Luxemburg-Platz neu gestaltet:

  • Erste Scheunengasse – heute überbaut
  • Zweite Scheunengasse – heute: Rosa-Luxemburg-Straße (mit einem anderen Straßenverlauf)
  • Dritte Scheunengasse – heute: Zolastraße (nur dieser Teil orientiert sich noch an dem alten Straßenverlauf, ist allerdings nur eine damals nicht existente Verlängerung zur Linienstraße)
  • Vierte Scheunengasse – heute: Weydingerstraße (mit einem anderen Straßenverlauf)
  • Kleine Scheunengasse – heute überbaut

Wegen des Ersten Weltkriegs wurde die Umgestaltung des gesamten Viertels jedoch abgebrochen, sodass im westlichen Bereich noch die alte Bausubstanz vorhanden ist, während am Rosa-Luxemburg-Platz moderne Gebäude aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dominieren.

Scheunenviertelpogrom 1923[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Straßenhandel im Scheunenviertel, Grenadierstraße, 1933

Während der Weimarer Republik wurde das Scheunenviertel mehrfach zum Ziel polizeilicher Razzien und antisemitischer Pogrome. In den frühen 1920er Jahren ordnete der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter eine Großrazzia gegen die jüdische Bevölkerung im Scheunenviertel an, bei der rund 300 jüdische Männer, Frauen und Kinder von der Polizei aufgegriffen und in einem „Judenlager“ bei Zossen interniert wurden.[2][3]

Im Zuge der fortschreitenden Hyperinflation versammelten sich am 5. November 1923 tausende Erwerbslose vor dem Arbeitsamt in der Gormannstraße, um Unterstützungsgelder auszufassen. Der Menge wurde aber schon nach kurzer Zeit mitgeteilt, es wäre kein Geld mehr zur Auszahlung vorhanden. Hierauf traten Agitatoren an die aufgebrachte Menge heran, die verbreiteten, Galizier aus dem Scheunenviertel hätten das vorhandene Geld planmäßig aufgekauft. Bald begannen im Scheunenviertel mit seinen Hinterhöfen und fliegenden Händlern Ausschreitungen, die sich gegen alle Personen und Geschäfte richteten, die der Menge „jüdisch“ erschienen. Dabei wurden Menschen aus ihren Wohnungen herausgezerrt und verprügelt und Geschäftseinrichtungen verwüstet.[4] In zeitgenössischen Zeitungen wie der Vossischen Zeitung war zu lesen, die Polizei habe sich bei den Ausschreitungen auffallend zurückgehalten, wo es ihr doch ein Leichtes gewesen wäre, der Menge Einhalt zu gebieten.

Im Roman Grenadierstraße beschreibt der aus Westukraine stammende Rabbiner und Arzt Fischl Schneersohn das jüdische Leben im Scheunenviertel während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Thematisiert wird die kulturelle Spannung zwischen zugereisten und eingesessenen Berliner Juden vor dem Hintergrund eines zunehmenden Antisemitismus.

Die Namensverwechslung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1933: Die Berliner Polizei durchsucht gemeinsam mit der nationalsozialistischen Hilfspolizei Gebäude in der im Scheunenviertel gelegenen Grenadierstraße

Das Scheunenviertel wird häufig mit der Spandauer Vorstadt gleichgesetzt. Dies hat folgenden historischen Hintergrund: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich das Scheunenviertel zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Das Viertel war geprägt durch Armut, Prostitution, Kleinkriminalität und besaß bei der Berliner Bevölkerung einen entsprechenden Ruf. Im Scheunenviertel wurde 1891 auch der erste Ringverein, eine kriminelle Organisation, gegründet.[5] Im westlich angrenzenden Teil der Spandauer Vorstadt hatte sich dagegen ein gut-bürgerliches, jüdisch geprägtes Milieu etabliert. Hier hatte auch die Reformierte Jüdische Gemeinde mit der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße ein bedeutendes Zentrum. Um die in der westlichen Spandauer Vorstadt ansässigen Juden zu verunglimpfen, dehnten die Nationalsozialisten den in Verruf geratenen Namen Scheunenviertel auf die gesamte Spandauer Vorstadt aus, also fälschlich etwa auch auf die Oranienburger Straße mit der Neuen Synagoge.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Wolfgang Feyerabend u. a.: Das Scheunenviertel und die Spandauer Vorstadt. L&H Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-939629-38-2.
  • Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. Severin & Siedler, Berlin 1981, ISBN 3-88680-016-4.
  • Hans Jörgen Gerlach: Krankheitsherd oder Märchen-Schtetl. Martin Beradt blickt auf beide Seiten einer Straße. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands, 20. Jg., Nr. 2; Wien September 2003, S. 74/75. ISSN 1606-4321
  • Rainer Haubrich: Das Scheunenviertel. Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin. Suhrkamp/Insel, Berlin 2019, ISBN 978-3-458-36462-7.
  • Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Biografien – Orte – Begegnungen. (Hrsg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V.). trafo verlag Wolfgang Weist, Berlin 2000, ISBN 3-89626-019-7.
  • Karsten Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923. Verbrecher Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-95732-567-9.
  • Ulrike Steglich, Peter Kratz: Das falsche Scheunenviertel – Ein Vorstadtverführer. Altberliner Bücherstube, Verlagsbuchhandlung Oliver Seifert, Berlin 1993, ISBN 3-930265-00-1.
  • Anne-Christin Saß: Scheunenviertel. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 352–358.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Scheunenviertel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Ulrike Steglich, Peter Kratz: Das falsche Scheunenviertel. S. 205.
  2. Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat? Hamburger Edition, Hamburg 2018, ISBN 978-3-86854-319-3.
  3. MDR Zeitreise: Buchenwald – Ein Konzentrationslager mitten unter uns. MDR Fernsehen, 2020.
  4. Karsten Krampitz: Vor achtzig Jahren wurden die Juden des Scheunenviertels Opfer eines Pogroms: Es begann am Arbeitsamt. In: Berliner Zeitung. 5. November 2003, abgerufen am 2. November 2023.
    Lorenz Hoffmann, Tobias Barth: Anatomie eines Pogroms: Berliner Scheunenviertel 1923. (mp3-Audio; 27 MB; 29:11 Minuten) In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Zeitfragen. Feature“. 1. November 2023, abgerufen am 2. November 2023.
  5. Peter Niggl: Ganoven gründen ersten Ringverein in Berlin. (pdf; 420 kB) In: kripo.at. 6. Dezember 2011, archiviert vom Original am 11. Januar 2016; abgerufen am 2. November 2023.

Koordinaten: 52° 32′ N, 13° 25′ O