Sigfrid Karg-Elert

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Sigfrid Karg-Elert

Sigfrid Karg-Elert (eigentlich Siegfried Theodor Karg; * 21. November 1877 in Oberndorf am Neckar; † 9. April 1933 in Leipzig; Pseudonyme: Teo von Oberndorff, Dr. Ottmar Bergk u. a.) war ein deutscher Komponist, Musiktheoretiker, Musikpädagoge, Pianist, Organist und Harmoniumspieler.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siegfried Karg war das jüngste von zwölf Kindern des Buchhändlers Johann Jacob Karg (1823–1889) und dessen Frau Marie Auguste geb. Ehlert (1840–1908). 1882 übersiedelte die Familie nach Leipzig, wo der musikalisch begabte Junge in den Chor der Johanniskirche eintrat, Klavierunterricht erhielt und bald erste Musikstücke komponierte. Nachdem er 1896 dem Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek eigene Werke vorgelegt hatte, vermittelte dieser ihm ein dreijähriges Stipendium am Leipziger Konservatorium, wo Karg bei Salomon Jadassohn, Carl Reinecke, Alfred Reisenauer, Robert Teichmüller und anderen studierte.

1901 ging er als Klavierlehrer ans Sannemannsche Konservatorium der Musik nach Magdeburg, wo er seinen Namen in Sigfrid Karg-Elert änderte. Ein Jahr später übernahm er auch gleiche Funktionen am Magdeburger Neuen Konservatorium für Musik, kehrte aber bald wieder nach Leipzig zurück. Dort begann er auf Anraten des Komponisten Edvard Grieg, sich verstärkt der Komposition zu widmen, zunächst überwiegend von Klaviermusik. 1904 begegnete er dem Musikverleger Carl Simon, der ihn auf die Möglichkeiten des Kunstharmoniums hinwies. Karg-Elert brachte sich das Spielen des Instruments selbst bei und schuf bis zu seinem Lebensende den umfangreichsten und bedeutendsten Werkkatalog an Harmoniummusik überhaupt. Durch den Gewandhausorganisten Paul Homeyer wurde er ermutigt, einige Harmoniumstücke für die Orgel zu bearbeiten, bevor er 1909 mit den 66 Choralimprovisationen op. 65 seine ersten Originalbeiträge zur Orgelliteratur schrieb.

Grabstein auf dem Leipziger Südfriedhof (mit Reliefporträt)

1910 heiratete Karg-Elert Minna Luise Kretzschmar (1890–1971), vier Jahre später wurde die Tochter Katharina (1914–1984) geboren. Im Ersten Weltkrieg absolvierte der Komponist 1915 seinen Militärdienst als Regimentsmusiker. Ab 1919 war er Dozent für Musiktheorie und Komposition am Leipziger Konservatorium, 1932 ernannte man ihn dort zum Professor.

Während seine Werke besonders in Großbritannien und den USA sehr beliebt waren, sah sich Karg-Elert als Orgelkomponist in Deutschland hinter dem von ihm kritisch beäugten Max Reger zurückgesetzt, von dessen in Leipzig wirkenden Apologeten Karl Straube und Hermann Grabner er häufig angefeindet wurde. Auch das in den 1920er und 1930er Jahren zunehmend unter den Einfluss des aufkeimenden Nationalsozialismus geratende Kulturklima schadete dem eher international orientierten Karg-Elert sehr. Obwohl bereits schwer an einer Diabeteserkrankung leidend, nahm er deshalb 1932 die Einladung an, in den USA Orgelkonzerte zu geben. Die Konzertreise entpuppte sich wegen Karg-Elerts begrenzten Fähigkeiten im Orgelspiel bald als Misserfolg. Zurückgekehrt nach Leipzig verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so sehr, dass er im April 1933 im Alter von 55 starb. Sein Grab befindet sich auf dem Leipziger Südfriedhof.

Nach seinem Tod wurde der Name des Nichtjuden Karg-Elert von den Nationalsozialisten in die erste Auflage des berüchtigten Musikalisches Juden-ABC aufgenommen.[1] Zwar konnte seine Tochter erreichen, dass er 1936 aus dem Lexikon entfernt wurde, dennoch wurden die Werke des Komponisten in Deutschland kaum noch gespielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand einer Wiederbelebung seines Schaffens die an barocken Klangidealen orientierte Orgelbewegung im Wege. Erst seit den 1970er Jahren erkannte man allmählich wieder die Bedeutung von Karg-Elerts Musik.

Nachlass[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zahlreiche Briefe und Musikalien Karg-Elerts sind im Archivgut des Carl Simon Verlags erhalten, das sich als Teil des Bestandes 21081 Breitkopf & Härtel im Sächsischen Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig befindet.

Tonsprache[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sigfrid Karg-Elert sah sich selbst als exzentrischen Einzelgänger. Sein Schaffen vereint auf individuelle Weise teils sehr verschiedene Einflüsse, z. B. von Johann Sebastian Bach (dem er in vielen Kompositionen durch das B-A-C-H-Motiv huldigte), Edvard Grieg, Claude Debussy, Alexander Skrjabin und dem frühen Arnold Schönberg. Im Großen und Ganzen lässt sich sein Stil als spätromantisch mit impressionistischen und expressionistischen Einschlägen charakterisieren. Seine ausgezeichneten musiktheoretischen Kenntnisse ermöglichten es ihm, die Harmonik bis an ihre Grenzen auszureizen, ohne dass die tonalen Zusammenhänge verloren gingen. Karg-Elert komponierte überwiegend für kleinere Besetzungen, bevorzugt für Orgel, Harmonium und Klavier, auch Kammermusik, Lieder und Chorwerke. Obwohl er kaum Orchestermusik hinterlassen hat, zeigt sich aber an den übrigen Kompositionen, insbesondere den Orgelwerken, dass er ausgeprägt sinfonische Klangvorstellungen hegte.

Musiktheoretisches Schaffen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Karg-Elert gilt als einer der Hauptvertreter der von Hugo Riemann begründeten polaren Dur-Moll-Auffassung, nach welcher die Untertonreihe das spiegelsymmetrische Gegenstück zur Obertonreihe darstellt. Dur ist aus der Obertonreihe, Moll aus der Untertonreihe entwickelt. Somit ist nach Karg-Elert der Mollakkord die Spiegelung des Durakkordes und baut sich nach unten hin über Unterterz und Unterquinte auf (bei Grundton c’’ ist as’ Unterterz, f’ Unterquinte), woraus für Moll umgekehrte Funktionsbezeichnungen resultieren. Ausgehend davon entwickelte Karg-Elert ein musiktheoretisches System, nach dem jeder Klang innerhalb einer tonalen Ordnung funktional erklärbar ist. Weitergeführt wurden Karg-Elerts Theorien vor allem von seinen Schülern Fritz Reuter und Paul Schenk.

Karg-Elert[2] vertritt die These, dass eine siebenstufige Tonleiter, welche die harmonisch-reine Intonation der Hauptfunktionen T, S und D erlaubt, melodisch unsauber wirkt, da die jeweiligen Terzen – in C-Dur beispielsweise ,e / ,a und ,h – im melodischen Zusammenhang als zu niedrig empfunden werden können.

„In didymischer Auffassung ist ,cis tiefer als 'des; ,gis tiefer als 'as; ,dis tiefer als ,es; usw. Eine Bewertung, die dem melodischen Schrittempfinden des instinktiven Musikers durchaus widerspricht! Und in der Tat ist die naturgewollte primäre Terz gar kein melodisches, sondern ein harmonisches Intervall. […] Die griechische, mathematisch orientierte Musiktheorie zählte die pythagoreische Terz den Dissonanzen zu. Sie hatte in dem Sinne recht, als der Begriff der Konsonanz und Dissonanz ja durchaus eine harmonische Wertung ist. […] Die Linearität der Melodie hat nichts mit großen und kleinen Ganztönen, mit Kommadifferenzen und dergleichen zu schaffen.“[3]

Werke (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Orgelwerke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 66 Choral-Improvisationen op. 65
  • Trois Impressions op. 72
  • Chaconne und Fugentrilogie mit Choral op. 73
  • Sonatine a-Moll op. 74. Möseler, Wolfenbüttel 1977
  • 20 Präludien und Postludien op. 78
  • 3 Symphonische Kanzonen für Orgel op. 85
  • 10 Charakteristische Tonstücke op. 86
  • Symphonischer Choral „Ach bleib mit deiner Gnade“ op. 87, 1
  • Symphonischer Choral „Jesu meine Freude“ op. 87, 2
  • Symphonischer Choral „Nun ruhen alle Wälder“ op. 87, 3
  • 3 Pastelle op. 92
  • Seven Pastels from the Lake of Constance op. 96
  • Partita in E-Dur op. 100
  • Cathedral Windows op. 106
  • Drei Impressionen op. 108
  • Triptych op. 141
  • Sempre semplice op. 142, 1
  • Drei neue Impressionen op. 142, 2
  • Sinfonie fis-Moll op. 143
  • Kaleidoskop op. 144
  • Musik für Orgel op. 145
  • Introduktion, Passacaglia und Fuge über B-A-C-H op. 150 (Originalfassung verschollen). Neufassung von Wolfgang Stockmeier. Möseler, Wolfenbüttel 2000
  • Partita retrospettiva III op. 151
  • Acht kurze Stücke op. 154
  • Rondo alla campanella op. 156. Möseler, Wolfenbüttel 1986

Harmoniumwerke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Passacaglia, es, op. 25, 1903–5, rev. als op. 25b, org, 1905–1907
  • 6 Skizzen, op. 10, 1904
  • Improvisation (Ostinato und Fughetta), E, op. 34, 1905, arr. Org
  • 5 Monologe, op. 33, 1905, no.4 arr. org
  • Partita, D, op. 37, 1905, movts 1, 3, 4, arr. Org, 1906–11
  • Phantasie and Fugue, D, op. 39, 1905, arr. Org
  • 5 Aquarellen, op. 27, 1905, arr. Org, Kunstharmonium
  • 8 Konzertstücke, op. 26, 1905–6, nos.1, 4, 6, 7 arr. hmn, pf, Kunstharmonium
  • Sonata no. 1, b, op. 36, 1905, 2nd movt arr. Org, Kunstharmonium
  • 3 Sonatinas, G, e, a, op. 14, 1906, Kunstharmonium
  • Scènes Pittoresques, op. 31, 1906; nos. 1 and 6 arr. hmn/pf, Kunstharmonium
  • Silhouetten, op. 29, hmn/pf, 1906
  • Leichte Duos (T. v. Obendorff), c, woo 7, hmn/pf, 1906, Kunstharmonium
  • Poesien, op. 35, hmn/pf, 1907, Kunstharmonium
  • Renaissance, op. 57, 1907, Kunstharmonium
  • 5 Miniaturen, op. 9, 1908, Kunstharmonium
  • Sonata no. 2, b, op. 46, 1909–12, 2 movt arr. Org, 1911, Kunstharmonium
  • 2 Tondichtungen, op. 70, 1910, Kunstharmonium
  • Intarsien, op. 76, 1911, Kunstharmonium
  • Schule für Harmonium, op. 99
  • Portraits von „Palestrina bis Schönberg“, op. 101, 1913–1923
  • Die hohe Schule des Ligatospiels, op. 94, hmn/pf, 1912
  • Erste grundlegende Studien, op. 93, 1913
  • Gradus ad Parnassum, op. 95, 1913–1914
  • 12 Impressionen, op. 102, 1914
  • Romantische Stücke (Impressionen aus dem Riesengebirge), op. 103, 1914
  • 7 Idyllen, op. 104, 1914
  • Tröstungen (8 religiöse Stimmungsbilder), op. 47, 1918
  • Innere Stimmen, op. 58, 1918–1919

Klavierwerke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Reisebilder. Eine Suite von acht Klavierstücken op. 7
  • Drei Walzer-Capricen. Für Klavier zu vier Händen op. 16
  • Aus dem Norden. Sechs lyrische Stücke op. 18
  • Scandinavische Weisen. Sieben Vortragsstücke op. 28
  • Walzerszenen op. 45
  • Sonate Nr. 1 fis-moll op. 50
  • Patina. Zehn Miniaturen im Stile des XVIII. Jahrhunderts op. 64 [I]
  • Drei Sonatinen op. 67
  • Dekameron. Eine Suite (a-Moll) von zehn leichten, instruktiven Charakterskizzen op. 69
  • Poetische Bagatellen op. 77
  • Sonate Nr. 2 op. 80 (gilt heute als verschollen)
  • Sonate (Patetica) Nr. 3 cis-Moll op 105
  • Partita (g-Moll) op. 113
  • Exotische Rhapsodie (Dschungel Impressionen) op. 118
  • Heidebilder. Zehn kleine Impressionen op. 128
  • Mosaik. 29 kleine, instruktive Stücke op. 146

Kammermusik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 2 Stücke für Violine und Orgel op. 48b
  • Trio für Oboe, Klarinette und Englischhorn op. 49/1
  • Sonate für Violoncello und Klavier A-Dur op. 71
  • Zehn Charakterstudien für zwei Violinen op. 90
  • Sonate für Flöte und Klavier B-Dur op. 121
  • Sonate für Klarinette solo op. 110
  • Suite pointilistique op. 135 für Flöte und Klavier
  • Sonate für Klarinette (Viola) und Klavier H-Dur op. 139b
  • 25 Capricen und Sonate für Saxophon solo op. 153
  • Sinfonische Kanzone für Flöte und Klavier op. 114
  • Sonata Appassionata fis-moll op.140
  • Impressions exotiques für Flöte und Klavier op.134
  • 30 Caprices für Flöte allein op. 107

Vokalmusik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Die Grablegung Christi op. 84
  • 2 Gesänge mit Orgel op. 98
  • Requiem op. 109

Sonstige Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Etüden-Schule für Oboe oder Englisch Horn op. 41

Schriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tondokument[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Feierlicher Zug zum Münster aus „Lohengrin“ (Richard Wagner). Kunstharmonium, gespielt von Sigfried Karg-Ehlert. Polyphon Nr. 15 452 (Matr. 26 087), aufgenommen um 1914, anzuhören auf YouTube

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Hermann F. Bergmann: Harmonie und Funktion in den Klavierwerken von Sigfrid Karg-Elert (1877–1933). Münster 1991.
  • Sonja Gerlach: Sigfrid Karg-Elert: Verzeichnis sämtlicher Werke. Zimmermann, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-921729-23-8.
  • Günter Hartmann: Sigfrid Karg-Elert und seine Musik für Orgel. 2 Bände. Bonn 2002.
  • Oliver Hilmes, Johannes Matthias Michel (Hrsg.): Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft 10. Strube, München 2005.
  • Oliver Hilmes, Johannes Matthias Michel (Hrsg.): Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft 11. Strube, München 2009, ISBN 978-3-89912-133-9.
  • Thomas Lipski (Hrsg.): Sigfrid Karg-Elert – Die theoretischen Werke. Verlag Peter Ewers, Paderborn 2005, ISBN 978-3-928243-16-2.
  • Johannes Matthias Michel: Karg-Elert-Artikel. In: Handbuch Orgelmusik. Bärenreiter/Metzler 2002, ISBN 3-476-01877-6
  • Johannes Matthias Michel: Karg-Elert-Bibliographie – Discographie – Nachträge zum Werkverzeichnis. Strube, München 2001, ISBN 3-921946-59-X
  • Johannes Matthias Michel (Hrsg.): Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft. Jahrgänge 1–8. Heidelberg 1986–1996
  • Dirk Mühlenhaus (Hrsg.): Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft. 12. Strube, München 2015, ISBN 978-3-89912-185-8.
  • Dirk Mühlenhaus (Hrsg.): Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft. 13. Strube, München 2022, ISBN 978-3-89912-233-6
  • Stanley Sadie: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Macmillan Publishers, London.
  • Thomas Schinköth: Sigfrid Karg-Elert und seine Leipziger Schüler. Bockel, Hamburg 1999, ISBN 3-928770-85-3
  • Anton WürzKarg-Elert, Sigfrid Theodor. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977, ISBN 3-428-00192-3, S. 154–156 (Digitalisat).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Sigfrid Karg-Elert – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Christa Maria Rock, Hans Brückner: Musikalisches Juden-ABC. Brückner-Verlag, München 1935. Die 2. Auflage erschien 1936 unter dem Titel Judentum und Musik. Mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener.
  2. Bei Sigfrid Karg-Elert: Polaristische Klang- und Tonalitätslehre. Leipzig, 1930, S. 6f
  3. Zur Bezeichnung ,cis ("Tiefkomma cis) und 'des (Hochkomma des) siehe Eulersches Tonnetz