Sozialfaschismusthese

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Der Begriff Sozialfaschismus wurde 1924 von Grigori Sinowjew kreiert und von der Kommunistischen Internationale (Komintern) bis 1935 propagiert.[1] Der Sozialfaschismusthese (weniger häufig auch Sozialfaschismustheorie) zufolge stellte die Sozialdemokratie die eigentliche Stütze des bürgerlich-kapitalistischen Systems dar. Daher habe jede kommunistische Partei gegen sie den Hauptstoß des Proletariats zu lenken. Als „linker Flügel des Faschismus“ verhindere die Sozialdemokratie eine geschlossene Gegenbewegung gegen die Nationalsozialisten, die „Einheitsfront von unten“, die die Komintern propagierte.[2] Zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung in Deutschland verwarf 1935 die Komintern die Sozialfaschismusthese und strebte gegen den Faschismus stattdessen eine Volksfront an.

Entstehung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die These wurde erstmals im Zuge eines Linksschwenks der Kommunistischen Internationale Anfang 1924 von Sinowjew propagiert. Im September 1924 folgte ihm Josef Stalin und bezeichnete die Sozialdemokratie und den Faschismus als „Zwillingsbrüder“:[3]

„Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. […] Diese Organisationen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder.“[4]

Als jedoch rund ein Jahr später, im Herbst 1925, die „Einheitsfront von unten und oben“ ausgerufen wurde, waren diese Worte Sinowjews und Stalins zunächst wieder obsolet. 1928 erfolgte sowohl in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) als auch in der Komintern eine abermalige Radikalisierung, die zur Reaktivierung der Sozialfaschismustheorie führte. Hintergrund des Schwenks der KPdSU war die Kollektivierung und Entkulakisierung in der Sowjetunion. „Rechter“ Widerstand gegen diese Politik sollte beiseite geräumt werden, sowohl in der UdSSR als auch auf internationaler Ebene. Transmissionsriemen dieser Politik war die Komintern. Ihr führender Vertreter Otto Wille Kuusinen lieferte zentrale Versatzstücke der Sozialfaschismus-Theorie:

„Die Faschisten sind Nationalisten, Imperialisten, Kriegshetzer, Feinde des Sozialismus, Feinde der Demokratie, Würger der selbständigen Arbeiterbewegung, Arbeitermörder usw. […] Die Sozialfaschisten handeln in der Regel wie die Faschisten, aber sie tun ihr faschistisches Werk nicht mit offenem Visier, sondern arbeiten hinter einem Nebelrideau, wie man es im Krieg anwendet. Das gehört zum Wesen des Sozialfaschismus: Imperialistische Politik im Namen des Internationalismus, kapitalistische Politik im Namen des Sozialismus, Abbau der demokratischen Rechte der Werktätigen im Namen der Demokratie, Abbau der Reformen im Namen des Reformismus, Arbeitermörderpartei im Namen der Arbeiterpolitik usw. […] Die Ziele der Faschisten und Sozialfaschisten sind dieselben, der Unterschied besteht in den Losungen und teilweise auch in den Methoden.“[5]

Vertreter der KPdSU und der Komintern behaupteten 1929, die Phase der „relativen Stabilität“ des Kapitalismus, die sich an die revolutionären Nachkriegsjahre angeschlossen habe, sei beendet. Die kommende Phase sei eine von scharfen Klassenkämpfen und imperialistischen Kriegen, vor allem drohe ein Krieg gegen die Sowjetunion und die Errichtung faschistischer Diktaturen. Dies verheiße aber zugleich die Chance einer revolutionären Radikalisierung unzufriedener Massen.[6]

Vom 10. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) im Juli 1929 formell bestätigt, war die Sozialdemokratie dementsprechend eine bloße Variante des Faschismus und jegliche Einheitsfront der kommunistischen Parteien mit den sozialdemokratischen unzulässig. Auf ihrem 12. Parteitag (9. bis 16. Juni 1929) schloss sich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) dieser These an. Die Ereignisse des so genannten Blutmais (1929) dienten dem Parteiführer Ernst Thälmann als schlagender Beweis für die „Wandlung der Sozialdemokratie zum Sozialfaschismus“.[7] Auch in der britischen Labour Party – sie regierte ab Mitte 1929, geführt von Ramsay MacDonald – machte Thälmann eine solche Wandlung aus.[8] Der Historiker Hermann Weber sieht eine „Stalinisierung der KPD“ mit diesem Parteitag als abgeschlossen an.[9]

Auswirkungen und Ende[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Deutschland trug die an der Sozialfaschismusthese orientierte Politik der KPD, die in allen Funktionsträgern der Freien Gewerkschaften und der SPD erklärte Feinde sah,[10] erheblich dazu bei, die Spaltung und Schwächung der Arbeiterbewegung zu vertiefen, was eine frühe und geschlossene Einheitsfront gegen die Nationalsozialisten verhinderte. Margarete Buber-Neumann, damals Mitglied der KPD, berichtete in ihren Erinnerungen, das Schlagwort sei ab Mitte 1929 „sogar von den gemäßigteren Elementen übernommen“ worden.[11] Zwischen 1929 und 1934 bildete das Konzept des Sozialfaschismus die ideologische Konstante der KPD.[12]

Die Priorität der Kommunisten für den Kampf gegen die als „sozialfaschistisch“ geschmähte SPD führte 1931 dazu, dass der vom republikfeindlichen Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten initiierte Volksentscheid zur Auflösung des preußischen Landtages gegen die von Otto Braun geführte sozialdemokratische Regierung Preußens neben den Rechtsparteien und der NSDAP auch von der KPD unterstützt wurde.[13] Selbst nach Errichtung der NS-Diktatur hielt die Komintern, die „die politische Linie und die organisatorische Politik“ der KPD „mit dem Genossen Thälmann an der Spitze“ für „vollständig richtig“ erklärte, an dieser These fest. Noch im Mai 1933 erklärte die KPD:

„Die völlige Ausschaltung der Sozialfaschisten aus dem Staatsapparat, die brutale Unterdrückung auch der sozialdemokratischen Organisation und ihrer Presse ändern nichts an der Tatsache, dass sie nach wie vor die soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur darstellen.“[14]

Ende 1933 forderte der KPD-Politiker Fritz Heckert, der Kampf gegen die „faschistische Bourgeoisie“ müsse „nicht gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Partei, sondern gegen sie“ geführt werden.[14]

In Frankreich wurde der Sozialfaschismus-Vorwurf vom Parti communiste français (PCF) gegen die Section française de l’Internationale ouvrière erhoben, bis die Unruhen vom 6. Februar 1934, die von der Linken als faschistischer Putschversuch wahrgenommen wurden, eine Zusammenarbeit der beiden Parteien einleitete.[15] Nach den Wahlen vom Mai 1936 tolerierte die PCF die Volksfrontregierung unter dem Sozialisten Léon Blum.

Auf dem 1935 stattfindenden VII. Weltkongress der Komintern wurde die „Sozialfaschismustheorie“ verworfen und die Volksfront (Einheitsfront) gegen den Faschismus propagiert. Dort definierte Georgi Dimitrow den Faschismus als „die offene terroristische Diktatur der am meisten imperialistischen Kreise des Finanzkapitals“ – ein Modell, das ganz eigene Probleme mit sich bringen sollte und die Sowjetunion nicht von der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes im Jahre 1939 abhielt.

Von oppositionellen Kommunisten wurde die Sozialfaschismusthese scharf kritisiert. Trotzkis Kampf gegen die „Sozialfaschismus“-Linie der KPD und sein Eintreten für eine Einheitsfront der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus etwa schien seinem Biographen Isaac Deutscher seine „größte politische Tat im Exil“.[16]

Weitere Faschismus-Vorwürfe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auch die Sozialdemokraten sahen in den Kommunisten meist nicht mögliche Verbündete gegen den Faschismus, sondern weitere Feinde neben den Nationalsozialisten. Häufig wurden beide politische Richtungen als Verwandte bezeichnet, so beispielsweise durch Kurt Schumacher, der die Kommunisten 1930 eine „rotlackierte Doppelausgabe der Nationalsozialisten“ nannte.[17]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Ulla Plener: „Sozialdemokratismus“ – Instrument der SED-Führung im Kalten Krieg gegen Teile der Arbeiterbewegung (1948–1953) (online; PDF; 72 kB)
  2. Arnulf Scriba: Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Lebendiges Museum Online, 8. September 2014, abgerufen am 9. Juli 2020.
  3. J. W. Stalin. Werke. Band 6, Berlin 1952, S. 147. Siehe hierzu Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, S. 679.
  4. Stalin: Zur internationalen Lage; Werke, Band 6; S. 251–269, hier S. 253.
  5. Kuusinen auf dem 10. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (3. bis 19. Juli 1929 in Moskau), zitiert nach Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, S. 689.
  6. Hierzu Klaus Schönhoven, Reformismus und Radikalismus, S. 133 f.
  7. Zitiert nach Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, S. 681.
  8. Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, S. 681.
  9. Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, S. 685.
  10. Hierzu Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, S. 682 f.
  11. Margarete Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrweges, Stuttgart 1957 (2. Aufl. 1958), S. 153.
  12. Siehe Klaus Schönhoven, Reformismus und Radikalismus, S. 134.
  13. Heinrich August Winkler: Streitfragen der deutschen Geschichte: Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, C. H. Beck, München 1997, S. 110, ISBN 3406427847, ISBN 9783406427848.
  14. a b Zitiert nach Hermann Weber, Der „Antifaschismus“-Mythos der SED. Kommunistischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Leistung, Problematik, Instrumentalisierung. (Memento des Originals vom 17. August 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bwv-bayern.org
  15. Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. Oldenbourg, München 1999, ISBN 3-486-56357-2, S. 548 f. und 557–561 (abgerufen über De Gruyter Online).
  16. Isaac Deutscher: Trotzki, Bd. 3, Der verstoßene Prophet. 1929–1940, Kohlhammer, Stuttgart [u. a.], 1963 S. 129.
  17. Zitiert nach Heinrich Potthoff, Kurt Schumacher – Sozialdemokraten und Kommunisten. Weitere Beispiele für solche Gleichsetzungen bei Josef Schleifstein, Die „Sozialfaschismus“-These – Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Frankfurt 1980 (Online-Auszug).