Gesellschaftskritik

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Die Begriffe Gesellschaftskritik und Sozialkritik bezeichnen das Ausüben von Kritik an der Gesellschaft, an gesellschaftlichen Teilsystemen oder an als Missstand empfundenen gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen. Gesellschaftskritik kann darauf abzielen, das Kritisierte zu verbessern oder abzuschaffen (siehe Reform, Revolution).

Gesellschaftskritik ist oft verbunden mit weltanschaulichen (ideologischen) Meinungen bzw. Überzeugungen; es gibt daher keine allgemeingültige Ansicht darüber, was „die“ Gesellschaftskritik beinhalten muss.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Ursprünge der modernen Gesellschaftskritik reichen wenigstens bis in die Zeit der Aufklärung zurück. Radikale Aufklärer wie Jean Meslier gaben sich jedoch nicht mit der damaligen, im Kern als Religionskritik anzusehende Gesellschaftskritik allein zufrieden. Im Zentrum seiner Kritik stand das Leid der Bauern. Daneben gab es auch eine Zivilisationskritik aus religiösen Gründen wie die, welche von den Quäkern in England ausging und sich z. B. in den Grundsätzen der moralischen Behandlung zeigte. Jean-Jacques Rousseau entfaltete eine Gesellschaftskritik in seiner politischen Philosophie und seiner Pädagogik, die durch die französische Revolution Verbreitung fand.

Akademische Gesellschaftskritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im „Positivismusstreit“ zwischen Kritischem Rationalismus (Karl Popper, Hans Albert und anderen) und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule spiegelt sich die grundsätzliche Frage, ob Wissenschaft nur die Aufgabe hat, empirisch das wahrzunehmen, was ist, und es zu optimieren, oder ob sie auch grundsätzliche Kritik an der Gesellschaft üben und Werturteile fällen soll und auf welchen Grundlagen dies denn geschehen solle.

Gesellschaftskritische Werke sind klassischerweise sozialphilosophische, sozioökonomische, soziologische oder sozialpsychologische Werke, doch zählen auch Arbeiten anderer sozialwissenschaftlicher Richtungen wie etwa der Sozialmedizin dazu. Daneben sind auch Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler mit kritischen Werken hervorgetreten, wie zum Beispiel die Biologin Rachel Carson, deren Buch Der stumme Frühling in den USA zu einem Katalysator der Umweltschutzbewegung wurde.

Die Sozialethik versteht sich explizit oder zumindest implizit auch als Gesellschaftskritik, insofern sie danach fragt, wie bestimmte soziale Strukturen zu humanisieren sind (Strukturreform), was nur dann wirksam und dauerhaft gelingen könne, wenn auch die Gesinnung der dafür verantwortlichen Menschen sich ändere (Gesinnungsreform). Diesem Ziel dient vor allem eine entsprechende Erziehung und Bildung, die man darum als gesellschaftskritischen oder als gesellschaftsstabilisierenden Faktor ansehen kann.

Akademische Gesellschaftskritik nach gesellschaftlichem Teilsystem[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kulturelle Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gesellschaftskritik in Literatur, Kunst und Musik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zur Gesellschaftskritik in der Literatur zählen antikapitalistische revolutionäre Romane wie Jack Londons The Iron Heel (1908) und dystopische Romane wie Aldous Huxleys Schöne Neue Welt (engl. Titel Brave New World) von 1932, George Orwells 1984 (Nineteen Eighty-Four) von 1949 oder Ray Bradburys Fahrenheit 451 von 1953 und Kinderbücher wie Michael Endes Momo. Großangelegte Auseinandersetzungen mit dem sowjetischen Totalitarismus erschienen von Alexander Issajewitsch Solschenizyn (Der Archipel Gulag) und Wassili Semjonowitsch Grossman (Leben und Schicksal).

Im Bereich des Theaters gibt es im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition gesellschaftskritischer Stücke (Jakob Michael Reinhold Lenz, Der Hofmeister; Georg Büchner, Woyzeck; Bertolt Brecht, Heiner Müller, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek). International markiert die Aufführung von Die Stützen der Gesellschaft von Henrik Ibsen 1877 aus heutiger Sicht die Geburt einer neuen dramaturgischen Gattung, des naturalistischen Gesellschaftsdramas, welches als Ausgangspunkt des modernen Dramas gilt. Im Zwanzigsten Jahrhundert überschreitet das Politische Theater den engen Rahmen des bürgerlichen Theaterbetriebs.

Eine weitere Tradition der Gesellschaftskritik besteht aus Sozialreportagen, die auf teilnehmender Beobachtung des Autors beruhen. Bekannte Beispiele sind Orwells Erledigt in Paris und London (1933), Günter Wallraffs Reportagen und verdeckte Erkundungen (investigativer Journalismus) linker Autoren im rechtsextremen Milieu (Anne Tristan).

Die Bildende Kunst setzt sich in allen ihren Genres – Malerei, Bildhauerei, Grafik und anderen – in vielen Epochen, bis heute, immer wieder mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Herrschaftsstrukturen auseinander. Künstler gerieten wegen ihrer zeitkritischen bildnerischen Aussagen häufig in Konflikt mit dem System, in dem sie lebten und arbeiteten. Als Beispiele seien genannt Francisco de Goya mit seinen Radierungen Desastres de la Guerra und John Heartfield mit seinen politischen Fotomontagen gegen die Politik des Dritten Reichs. Oft mussten Künstler als Folge ihrer oppositionellen Haltung ins Exil gehen.

Auch in musikalischer Form kann Gesellschaftskritik ausgedrückt werden; dies geschieht traditionell in Protestliedern. Neuere Formen der Gesellschaftskritik in der Musik finden sich im Punk, im Metal und in der Hip-Hop-Musik, im Reggae oder im Spoken Word.

Darüber hinaus kann Musik auch ohne entsprechenden Texte gesellschaftskritisch sein. Als Beispiel kann die 5. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch genannt werden, in der die Feierlichkeiten von Parteigremien und ihrem zeitlich exakt vorausgeplanten Unterhaltungsprogramm karikiert werden.

Gesellschaftskritik in Fotografie und Film[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Seit den Anfängen der Fotografie haben immer wieder Fotografen, insbesondere in der Dokumentarfotografie, auf gesellschaftskritische Weise die soziale Realität dargestellt. Zu den Klassikern zählen die Dokumentation der Armut in den USA durch Lewis Hine sowie der Entfremdung durch Robert Frank (Les américains. 1957)[1] und Diane Arbus. Geradezu ikonischen Status erlangte das Bild einer erschöpften Frau von Dorothea Lange.

Im Film kann sich die Gesellschaftskritik direkt mit der Aufforderung zur Veränderung verbinden (wie zum Beispiel in Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?) oder der Akzent liegt mehr auf der Dokumentation der Lebens- und Arbeitsbedingungen wie es häufig in Dokumentarfilmen der Fall ist (zum Beispiel in Louis Malles Film über die Fabrikarbeit bei Citroën (Humain trop humain, Frankreich 1974)).

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Klassische Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wichtige zeitgenössische Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Carla Lonzi: Die Lust Frau zu sein, Berlin: Merve, 1975
  • John H. Bodley: Victims of Progress (1975), dt. Der Weg der Zerstörung. Stammesvölker und die industrielle Zivilsation, München: Trickster, 1983
  • Susan George: How the Other Half Dies, 1976, dt. Wie die andern sterben. Die wahren Ursachen des Welthungers, Berlin: Rotbuch Verlag, 1980
  • Konrad Lorenz: Der Abbau des Menschlichen. 1983
  • Audre Lorde: Sister Outsider, 1984, dt. Sister Outsider. Essays, Berlin: Hanser, 2021
  • Michel Henry: La barbarie. Bernard Grasset, Paris 1987 (dt. Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München: Alber, 1994)
  • Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität: Realismus als Krankheit. Eine Theorie zur menschlichen Destruktivität. München: Kösel, 1987, ISBN 3-466-34178-7.
  • Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? in: Cary Nelson & Lawrence Grossberg (Hgg.): Marxism and the Interpretation of Culture, University of Illinois Press, Chicago 1988, dt. Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Einl. Hito Steyerl. Wien: Turia + Kant, 2007
  • Judith Butler: Gender Trouble. 1989, dt. Das Unbehagen der Geschlechter
  • Monique Wittig: The Straight Mind and other Essays, 1992
  • Raewyn Connell: Masculinities. 1995, dt. Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten
  • Joachim Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. 1995
  • Richard Sennett: Der flexible Mensch. 1998
  • Noam Chomsky und Edward S. Herman: Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media. 1988.
    • deutschsprachige Ausgabe: Die Konsensfabrik. Die politische Ökonomie der Massenmedien. Übersetzt von Michael Schiffmann, Westend, Frankfurt 2023, ISBN 978-3-86489-391-9.
  • Noam Chomsky: Profit over people. 2000
  • Gruppe Krisis (Hrsg.): Manifest gegen die Arbeit Erlangen: Gruppe Krisis, 1999
  • Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. 1999
  • Antonio Negri: Michael Hardt: Empire – die neue Weltordnung. 2003
  • Gilbert Rist: Le développement, Histoire d’une croyance occidentale. Presses de Sciences Po, Paris 1996 – engl. The History of Development: From Western Origins to Global Faith. Erweiterte Auflage. London: Zed Books, 2003
  • Wulf D. Hund: Negative Vergesellschaftung. Dimensionen der Rassismusanalyse, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 2. Erw. Aufl. 2014.
  • Eike Geisel: Die Gleichschaltung der Erinnerung. Kommentare zur Zeit, Berlin: Edition Tiamat 2019.
  • Autorinnenkollektiv Meuterei: Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende, Hamburg und Berlin 2022

Primärliteratur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einführungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In die ältere Gesellschaftskritik (vor 1968) führt Werner Hofmann ein. Für die neuere Kritik gibt es –, entsprechend der Zersplitterung der Kritik –, kein ähnlich breit angelegtes Werk, daher sind mehrere Titel für verschiedene Richtungen angegeben:

  • Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie: Eine Einführung. 5. Auflage. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-89657-593-7.
  • Werner Hofmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung. 6. erweiterte Auflage, de Gruyter, Berlin/New York 1979.
  • Gisela Hermes, Eckhard Rohrmann: Nichts über uns – ohne uns!: Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. AG Spak, Neu-Ulm 2006, ISBN 3-930830-71-X.
  • Michaela Karl: Die Geschichte der Frauenbewegung, Reclam, Stuttgart, Aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2023[2]
  • Marcel van der Linden: Workers of the World: Eine Globalgeschichte der Arbeit (Globalgeschichte, 23), Frankfurt am Main: Campus, 2017
  • María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript 3. aktual. Aufl. 2020 (UTB)
  • Andrea Trumann: Feministische Theorie: Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-89657-580-5.

Nachschlagewerke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Daniela Gottschlich / Sarah Hackfort / Tobias Schmitt / Uta von Winterfeld (Hg.): Handbuch Politische Ökologie. Theorien, Konflikte, Begriffe, Methode, Bielefeld: transcript, 2022 (Open access)
  • Alastair Hemmens, Gabriel Zacarias (Hrsg.): The Situationist International: A Critical Handbook, London: Pluto Press, 2020
  • Axel Honneth (Hrsg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 3-531-14108-2.
  • Patricia D. Netzley: Social Protest Literature. An Encyclopedia of Works, Characters, Authors and Themes. ABC-Clio, Santa Barbara, Denver, Oxford 1999.
  • Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus

Sonstige Sekundärliteratur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Stephan Moebius, Gerhard Schäfer (Hrsg.): Soziologie als Gesellschaftskritik. Wider den Verlust einer aktuellen Tradition. VSA, Hamburg 2006.
  • Lothar Peter: Neue soziale Bewegungen, soziale Frage und Krise der Arbeit: Sozialkritik in der französischen Soziologie heute. In: Sozial.Geschichte. Zs. für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts. Peter Lang, Bern 2006, ISSN 1660-2870, Teil I: Heft 1, S. 9–32; Teil II: Heft 2, S. 34–51.
  • Joseph Heath, Andrew Potter: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur. Rogner & Bernhard, Berlin 2005. (Kritik an Gesellschafts- und Konsumkritik)
  • Gerhard Henschel: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes. Eichborn, Frankfurt 2010, ISBN 978-3-8218-6210-1. (Reihe Die Andere Bibliothek)
    • Teil-Abdruck: Isoliert nebeneinander herlaufende Klempner. Zs. Dschungel, Beilage zu jungle world. Nr. 10, 11. März 2010, S. 19–23.

Filme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

deutsch

englisch

  • Gary Werskey: The Marxist Critique of Capitalist Science: A History in Three Movements? In: human-nature.com. 1. März 2007, archiviert vom Original am 16. September 2007; (englisch).

französisch

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Neuausgabe: Robert Frank: Die Amerikaner. Steidl, Göttingen 2008.
  2. Karl stellt die Entwicklung in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland dar und berücksichtigt auch bereits die 4. Welle.