Staunen

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Staunende Mädchen in Nepal

Staunen ist eine Emotion beim Erleben von unerwarteten Wendungen oder von unbekanntem Schönem und Großem.

Wesen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Staunen wird begleitet von einem neurobiologischen Zustand der Erregung, einem inneren Unruhezustand, der sich motivationsfördernd auswirkt, bisher Unbekanntes zu erforschen und zu lernen. Das bereitgestellte Erregungspotential ermöglicht, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen, das durch die Konfrontation mit dem „unpassenden“ Neuen verloren ging. Das entspricht dem Staunen als Auslöser für einen „Konflikt durch Überraschung“ nach Berlyne (1960). Staunen ist der Neugier verwandt.[1]

Durch Staunen initiiertes Lernen ist von innen heraus/intrinsisch motiviert, weil der Mensch inneres Gleichgewicht anstrebt.[2]

Erstaunen wird häufig durch eine Interjektion ausgedrückt zum Beispiel oh, booah oder alter Schwede!.

Philosophie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aristoteles sieht im Staunen (griechisch θαυμάζειν „thaumazein“) den Beginn des Philosophierens, das einen starken Akzent auf die Verwunderung legt. Die Philosophie würdigt Dinge kritischer Betrachtung, die zunächst als selbstverständlich erscheinen. Selbstverständlichkeiten werden bezeichnet als „bloße Meinung“ (dóxa). Bei genauem Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten zeigen sich erstaunliche, bisher unberücksichtigte und neue Wahrheiten (alétheia).

Für Platon war das Staunen der Anfang aller Philosophie:

„Μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν: οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη. –
Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Platon: Theaitetos 155 d

Die Dissonanz zwischen bloßer Meinung und neuer Wahrheit fördert das Streben nach Wissen. Indem das philosophische Staunen die bisher wenig bedachten Dinge hinterfragt, bringt es die Wissenschaft voran. Staunen erzeugt eine innere Bewegung und Anspannung, die in einer aktiven eigenständigen Auseinandersetzung mit einer Sache mündet (Aristoteles, Schreier, Schiefele). Die Neugier wird angeregt. Dieses Unerwartete soll verstanden werden, zu etwas Bekanntem gemacht und verinnerlicht werden. Auf diese Weise wird Staunen zu einer Fragestellung und erzeugt die Motivation, etwas Neues zu lernen.

Psychologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der italienische Gestaltpsychologe Giuseppe Galli (1933–2016) zählte das Staunen zu den sozialen Tugenden: Sie sind jeweils durch eine spezifische Struktur des Beziehungsfeldes gekennzeichnet. Das Ich tritt im Staunen zurück und das wahrgenommene Objekt kann in seiner Einzigartigkeit um seiner selbst willen zur Geltung kommen, ohne vereinnahmt zu werden.[3]

Ausprägung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Art des Staunens kann unterschiedlich gefärbt sein, je nachdem, ob das Unerwartete, Verwunderliche eher ein „gläubiges“ oder ein „ungläubiges“ Staunen hervorruft. Entsprechend wird es von unterschiedlichen Emotionen begleitet wie Bewunderung, Respekt, Verehrung oder Befremden, Irritation, Argwohn.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Aristoteles: Metaphysik, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-499-55544-1.
  • Doris Daurer: Staunen – Zweifeln – Betroffensein. Mit Kindern philosophieren, Beltz, Weinheim/Basel, 1999.
  • Giuseppe Galli: Psychologie der sozialen Tugenden, Böhlau, Wien 1999, 2005 (2. erw. Auflage), ISBN 3-205-77308-X.
  • Nicola Gess: Staunen. Eine Poetik, Wallstein, Göttingen, 2019, ISBN 978-3-8353-3311-6.
  • Anselm Grün: Staunen – Die Wunder im Alltag entdecken, Herder, Freiburg im Breisgau, 2018, ISBN 978-3-451-00657-9
  • Ute Guzzoni: Das Erstaunliche und die Philosophie. Freiburger Abschiedsvorlesung, in: Information Philosophie, Heft 02/2001.
  • Jeanne Hersch: Das philosophische Staunen. Einblicke in die Geschichte des Denkens, Piper, München 1981, ISBN 3-492-11059-2.
  • Ekkehard Martens: Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier, Reclam, Ditzingen 2003, ISBN 3-379-20057-3.
  • Reihe: Poetik und Ästhetik des Staunens, hg. v. Nicola Gess und Mireille Schnyder, Wilhelm Fink, Paderborn:
    • Bd. 1: Mireille Schnyder, Nicola Gess, Johannes Bartuschat, Hugues Marchal (Hg.): Staunen als Grenzphänomen, 2011, ISBN 978-3-8467-6091-8.
    • Bd. 2: Reinhard M. Möller: Situationen des Fremden. Ästhetik und Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert, 2016, ISBN 978-3-8467-6094-9.
    • Bd. 3: Natascha Adamowsky: Ozeanische Wunder. Entdeckung und Eroberung des Meeres in der Moderne, 2017, ISBN 978-3-8467-6075-8.
    • Bd. 4: Mireille Schnyder, Nicola Gess, Johannes Bartuschat, Hugues Marchal, Natascha Adamowsky (Hg.): Archäologie der Spezialeffekte, 2018, ISBN 978-3-8467-6266-0.
    • Bd. 5: Mireille Schnyder, Nicola Gess, Johannes Bartuschat, Hugues Marchal (Hg.): Poetiken des Staunens. Narratologische und dichtungstheoretische Perspektiven, 2019, ISBN 978-3-8467-6339-1.
    • Bd. 6: Timo Kehren, Carolin Krahn, Georg Oswald, Christoph Poetsch (Hg.): Staunen. Perspektiven eines Phänomens zwischen Natur und Kultur, 2019, ISBN 978-3-7705-6414-9.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wikiquote: Staunen – Zitate
Wiktionary: staunen – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Daniel Berlyne (1974): Konflikt, Erregung, Neugier. Zur Psychologie der kognitiven Motivation. Klett-Verlag Stuttgart (Original 1960)
  2. Uni Köln, A. Schulte-Jantzen 2002: Staunen-Lernen@1@2Vorlage:Toter Link/www.uni-koeln.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2019. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  3. Giuseppe Galli: Psychologie der sozialen Tugenden. Böhlau, Wien 1999, S. 82–93.