Takfīr

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Etymologie der arabischen Wörter Kufr, Kāfir und Takfīr

Takfīr oder Takfir[1] (arabisch تكفير) bedeutet in der islamischen Rechtswissenschaft und Theologie die Praxis, einen Muslim oder eine Gruppe von Muslimen der Apostasie (Ridda) zu bezichtigen, zum bzw. zu Ungläubigen („Heiden“), also Kāfir (Plural: Kuffar), zu erklären.[2] In den meisten Fällen wird eine entsprechende Fatwa von einem Gericht oder einem islamischen Gelehrten ausgesprochen.[3] Im Laufe der islamischen Geschichte ist es immer wieder dazu gekommen, dass Muslime aufgrund ihrer Lehren oder Verhaltensweisen von anderen Muslimen zum Kāfir erklärt wurden, weil die Ankläger darin Schirk oder eine andere schwerwiegende Form des Kufr erblickten. Für die Beschuldigten konnten sich aus dem ihnen erklärten Takfīr verschiedene Strafen ergeben, etwa soziale Ausgrenzung (wie bei der Exkommunikation) oder die Todesstrafe. Auch ein militanter Dschihad kann eine Folge des Takfīr sein (Dschihadismus).

Eine Person, die den Takfīr praktiziert, wird xenonym auch als Takfiri bezeichnet. Die entsprechende Ideologie wird Takfirismus genannt. Im Wahhabismus nimmt die Praxis des Takfīr aufgrund der dort bestehende Verständnisse von Tauhīd, Bidʿa und Taqlīd sowie der daraus resultierenden Ausweitung von Tatbeständen des Kufr eine relativ bedeutende Rolle ein. Das wahhabitische Konzept des Takfīr fußt maßgeblich auf Diskursen des hanbalitischen Gelehrten Ibn Taimīya.

Der Takfirismus, ein jahrhundertealtes, ursprünglich charidschitisches Konzept zur Legitimation der militanten Bekämpfung religiöser und politischer Gegner, erhielt nach dem Sechstagekrieg neue Anhänger unter Islamisten, besonders unter den Anhängern der Schriften von Sayyid Qutb (Qutbismus),[4][5][6] etwa den Anhängern der ägyptischen militant-islamistischen Gruppierung at-Takfir wa-l-Higra, für die der Takfīr namengebend war. Viele von ihnen sahen amtierende Politiker als Ungläubige an, weil sie es unterließen, das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten (Hisba) sowie die Scharia und einen islamischen Staat durchzusetzen, und sprachen den Takfīr auf sie aus. In den 1970er und 1980er Jahren lebte das Konzept unter isolierten Gruppen in der arabischen Welt und unter den Mudschaheddin in Afghanistan fort. Der Ägypter Aiman az-Zawahiri und andere spätere Führungsfiguren von Al-Qaida gehörten in dieser Zeit zu seinen Protagonisten, später auch Abū Musʿab az-Zarqāwī. Während des Irakkriegs fand der Takfirismus in Al-Qaidas mittleren Führungsebenen großen Zuspruch. Dort wurde er insbesondere durch die Vorstellung genährt, dass Ungläubige in der muslimischen Gesellschaft den Feinden des Islam geholfen hätten und daher eliminiert werden müssten.[7]

Der Takfirismus gilt heute als eines der zentralen und wachsenden Konflikt- und Handlungsfelder einiger Gruppierungen des Salafismus.[8][9][10] Als Kettentakfīr bezeichnen einige Salafisten den Umstand, dass eine Person bereits zum Ungläubigen wird, indem sie es wissentlich unterlässt, Ungläubige als Ungläubige zu bezeichnen und den Takfīr auf sie zu sprechen.[11]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Saodah Bt. Abd. Rahman: The concept of Takfir (accusing of disbelief) among some contemporary Islamic movements with special reference to Egypt. Dissertation, University of Birmingham, Department of Theology, 1994
  • Elhakam Sukhni: Die islamisch-koranische Sicht auf Blasphemie und Häresie, in: Interreligiöse Toleranz: Von der Notwendigkeit des christlich-islamischen Dialogs; Philipp Thull (Hrsg.), Hamid Reza Yousefi (Hrsg.), Darmstadt 2014
  • Mohammed M. Hafez: Takfir and violence against Muslims. In: Assaf Moghadam, Brian Fishman (Hrsg.): Fault Lines in Global Jihad. Organizational, strategic, and ideological fissures. Routledge, London, New York 2011, ISBN 978-0-415-58624-5, S. 25 ff. (Google Books, Digitalisat im Portal academia.edu)
  • Mansour Salim H. Alshammari: Takfīr and Terrorism: Historical Roots, Contemporary Challenges and Dynamic Solutions. With special reference to al-Qaida and the Kingdom of Saudi Arabia. Dissertation, University of Leeds, Department of Arabic & Middle Eastern Studies, April 2013 (PDF)
  • V. G. Julie Rajan: Al Qaeda’s Global Crisis. The Islamic State, takfir, and the genocide of Muslims. Routledge, London, New York 2015, ISBN 978-1-138-78997-5 (Google Books)
  • Sabine Schmidtke et al. (Hrsg.): Accusations of Unbelief in Islam: A Diachronic Perspective on Takfīr. Brill, Leiden & Boston 2015, ISBN 978-90-04-30473-4

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Takfiri – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. www.hamburg.de (Innenbehörde): Takfir-Ideologie.
  2. Vgl. J. O. Hunwick: Takfīr. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. X, S. 122.
  3. Mathieu Guidère: Historical Dictionary of Islamic Fundamentalism, Scarecrow Press, 2012, S. 338
  4. Omar Ashour: The De-Radicalization of Jihadists. Transforming armed Islamist movements. Routledge, London und New York/NY 2009, ISBN 978-0-415-48545-6, S. 9 (Google Books)
  5. Ahmad S. Moussalli: Sayyid Qutb. Founder of radical Islamic political ideology. In: Shahram Akbarzadeh (Hrsg.): Routledge Handbook of Political Islam. New York/NY 2012, S. 9, 25 (Google Books)
  6. Abdel Azim Ramadan: Fundamentalist Influence in Egypt: The Strategies of the Muslim Brotherhood and the Takfir Groups. In: Marin E. Marty, R. Scott Appleby (Hrsg.): Fundamentalism and the State. Remaking Polities, Economies, and Militance. The University of Chicago Press, Chicago 1993, ISBN 0-226-50883-8, S. 157 (Google Books)
  7. Syed Saleem Shahzad: Takfirism: a messianic ideology. In: Le Monde diplomatique. English edition, Juli 2007 (online)
  8. Armin Pfahl-Traughber: Salafismus – was ist das überhaupt? Definitionen – Ideologiemerkmale – Typologisierungen. Artikel vom 9. September 2015 im Portal bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung), abgerufen am 30. April 2016
  9. Philipp Holtmann: salafismus.de – Internetaktivitäten deutscher Salafisten. In: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung. transcript Verlag, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-8376-2711-4, S. 252, 269, 270, 273 (Google Books)
  10. Jeroen De Keyser: Een schadelijke sektarische bedreiging ondersocht: Takfirisme. In: Marc Cools et al. (Hrsg.): Cahiers Inlichtingenstudies. Nr. 4, Antwerpen 2014, ISBN 978-90-466-0736-7, S. 37 ff. (Google Books)
  11. Lamya Kaddor: Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen. Piper Verlag, München/Berlin 2015, ISBN 978-3-492-97055-6 (Google Books)