Vermutung (Recht)

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Eine gesetzliche Vermutung regelt in der Rechtswissenschaft die Verteilung der Beweislast.

Mittels einer Vermutung wird bei der Rechtsanwendung das Vorliegen einer bestimmten Tatsache nicht im Wege der Beweiserhebung ermittelt, sondern ihr Vorliegen wird kraft gesetzlicher Bestimmung als gegeben unterstellt (vermutet). Ist die Vermutung unwiderleglich oder der Beweis des Gegenteils nicht gelungen, hat der Richter sie seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 292 ZPO).

Außer im Zivilprozess findet diese Regel entsprechende Anwendung im Arbeitsgerichtsverfahren (§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG), in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 173 VwGO) sowie in der Sozialgerichtsbarkeit (§ 202 SGG).

Gesetzliche Vermutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tatsachen- und Rechtsvermutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine gesetzliche Vermutung kann sich auf Tatsachen beziehen (praesumtio facti) oder auf aus einer Tatsache abgeleitete Rechtsvermutungen (praesumtio iuris).

Ist ein Pfand im Besitz des Verpfänders oder des Eigentümers, so wird vermutet, dass das Pfand ihm von dem Pfandgläubiger zurückgegeben worden sei (§ 1253 Abs. 2 Satz 1 BGB). Aus der Tatsache des Besitzes des Pfands wird auf die Tatsache der Rückgabe geschlossen bzw. die Rückgabe vermutet.

Rechtsvermutungen enthalten beispielsweise § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB: „Zugunsten des Besitzers einer beweglichen Sache (Tatsache) wird vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei (Rechtsvermutung).“ oder § 891 Abs. 1 BGB: „Ist im Grundbuch für jemand ein Recht eingetragen (Tatsache), so wird vermutet, dass ihm das Recht zustehe (Rechtsvermutung).“[1]

Widerlegliche und unwiderlegliche Vermutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vermutungen können widerleglich (praesumtio iuris tantum) oder unwiderleglich (praesumtio iuris et de iure) sein. Im Regelfall sind sie widerleglich, wenn nicht gesetzlich die Unwiderleglichkeit angeordnet ist (§ 292 Satz 1 ZPO).

Eine widerlegliche gesetzliche Vermutung kehrt die Beweislast um.[2] Wer auf einem Werk als Urheber bezeichnet ist, wird gem. § 10 UrhG bis zum Beweis des Gegenteils (d. h. widerleglich) als Urheber des Werkes angesehen.[3] Ein Beispiel ist auch § 477 BGB, wenn sich bei einer Kaufsache innerhalb von einem Jahr nach Übergabe ein Sachmangel zeigt. Zugunsten des Käufers wird die Mangelhaftigkeit bei der Übergabe vermutet. Der Verkäufer muss gegebenenfalls den vollen Beweis dafür führen, dass der Mangel bei Übergabe der Sache an den Käufer noch nicht vorgelegen hat.[4][5]

Weil eine widerlegliche gesetzliche Vermutung zu einer Umkehr der Beweislast führt und nicht bloß zu einer Umkehr der Beweisführungslast, ist zu ihrer Widerlegung der Beweis des Gegenteils nötig. Es sind also Beweismittel vorzubringen, die das Gericht voll vom Vorliegen des Gegenteils überzeugen.

Ist eine Vermutung dagegen unwiderleglich, so ist der Beweis des Gegenteils unzulässig. Eine Beweiserhebung und die damit verbundenen Beweisschwierigkeiten sollen ja gerade vermieden werden.

Ein Beispiel für eine unwiderlegliche Vermutung bildet im Ehescheidungsrecht § 1566 Abs. 2 BGB: „Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.“ Es spielt also gar keine Rolle, ob im konkreten Fall die Ehe vielleicht trotz des langen Getrenntlebens nicht gescheitert ist. Es ist vielmehr gerade Zweck des Gesetzes, dass das Gericht solche Mutmaßungen nicht anstellen muss.

Abgrenzung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tatsächliche Vermutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tatsächliche Vermutungen (unechte Vermutungen, praesumtiones facti) fallen nicht unter § 292 ZPO. Sie wurden von der Rechtsprechung entwickelt[6] und werden meist dem Anscheinsbeweis zugerechnet oder nach den Regeln über die freie richterliche Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) behandelt. Beiden Methoden gemeinsam ist, dass sie von bestimmten Erfahrungsgesetzen, Erfahrungsgrundsätzen und einfachen Erfahrungssätzen ausgehen.[7]

Eine tatsächliche Vermutung (eigentlich besser Vermutung über Tatsachen) liegt vor, wenn ein Gericht gestützt auf eigene oder Expertenerfahrungen von bewiesenen Tatsachen (Indizien) im Wege der Induktion auf nicht bewiesene Tatsachen schließen kann.[8] So kann beispielsweise aus der Tatsache, dass die Temperatur zu einem bestimmten Zeitpunkt deutlich über dem Nullpunkt lag, aufgrund der allgemeinen Erfahrung über die Eigenschaften von Wasser geschlossen werden, dass eine bestimmte Person zu diesem Zeitpunkt nicht auf Glatteis ausgerutscht sein kann. Man sagt diesfalls, es bestehe eine tatsächliche Vermutung dafür, dass es am fraglichen Ort kein Glatteis gegeben habe. Wird über einen Internetanschluss eine Rechtsverletzung begangen, ist eine tatsächliche Vermutung für eine Täterschaft des Anschlussinhabers nicht begründet, wenn zum Zeitpunkt der Rechtsverletzung (auch) andere Personen diesen Anschluss benutzen konnten.[9]

Wird das Vorliegen einer tatsächlichen Vermutung bejaht, so führt dies zu einer Umkehr der Beweisführungslast. Es liegt am Beweisgegner, die Überzeugung des Gerichts wieder zu zerstören, indem er weitere Beweismittel vorlegt. Dabei kann es aber nur um ein Erschüttern der Überzeugung gehen (also um das Säen von Zweifeln beim Gericht), nicht aber um den Beweis des Gegenteils (um das Begründen voller Überzeugung vom Gegenteil).

Fiktion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von der Vermutung abzugrenzen ist die rechtliche Fiktion. Die Fiktion nimmt einen Sachverhalt als gegeben an, der in Wirklichkeit nicht besteht. Damit wird die Ableitung sonst nicht gegebener Rechtsfolgen möglich.[10]

Beispiel: Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war (Nasciturus), gilt als vor dem Erbfall geboren und kann damit ausnahmsweise doch Erbe sein (§ 1923 BGB; § 22 i. V. m. § 536 öABGB bzw. flABGB).

Im Unterschied zur Vermutung ist die Fiktion nicht widerleglich. Im Ergebnis ähnelt die Fiktion damit der unwiderleglichen Vermutung. Der Unterschied liegt darin, dass eine unwiderleglich vermutete Tatsache auch in Wirklichkeit vorliegen kann, während die Fiktion anordnet, dass in Wirklichkeit nicht existierende Tatsachen als vorliegend zu betrachten sind.

Auslegungsregeln[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auslegungsregeln wie § 154 Abs. 1 BGB, § 329 BGB oder § 2304 BGB legen "im Zweifel" den Sinn einer Willenserklärung in einer bestimmten Richtung fest, wenn im Wege der Beweisaufnahme kein entgegenstehender Wille ermittelt werden kann. Wird ein anderer Wille ermittelt, ist die Auslegungsregel nicht widerlegt, sondern unanwendbar.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Leo Rosenberg, Karl-Heinz Schwab, Peter Gottwald: Zivilprozessrecht, 15. Aufl. München 1993, 660 ff.
  • Hanns Prütting: Gegenwartsprobleme der Beweislast. Eine Untersuchung moderner Beweislasttheorien und ihrer Anwendung insbesondere im Arbeitsrecht, München 1983, 23 ff.
  • Heribert M. Anzinger: Anscheinsbeweis und tatsächliche Vermutung im Ertragsteuerrecht. Baden-Baden, 2006. ISBN 978-3-8329-2298-6
  • Christian Wohlfahrt: Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts. Ein Plädoyer für die Aufgabe der Kriterien hinreichender Genauigkeit und Unbedingtheit. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2016. ISBN 978-3-662-48980-2
  • Kathrin Klett: Richterliche Prüfungspflicht und Beweiserleichterung, AJP 11/2001, 1293 ff.
  • Peter Liver, Arthur Meier-Hayoz, Hans Merz, Peter Jäggi, Hans Huber, Hans-Peter Friedrich, Max Kummer: Berner Kommentar zum Zivilgesetzbuch, Einleitung, Art. 1 – 10 ZGB, Bern 1962, N 317 f., 362, 368 zu Art. 8 ZGB
  • Isaak Meier: Das Beweismass – ein aktuelles Problem des schweizerischen Zivilprozessrechts, BJM 2/1989, 57 ff., 65
  • Oscar Vogel, Karl Spühler: Grundriss des Zivilprozessrechts und des internationalen Zivilprozessrechts der Schweiz, 7. Aufl. Bern 2001, 10 N 50

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Vermutung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. OLG München, Beschluss vom 21. Dezember 2015 – 34 Wx 245/15 (Memento des Originals vom 18. April 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.gesetze-bayern.de
  2. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2016 – AnwZ (Brfg) 59/15
  3. Arno Lampmann: BGH: Vermutung der Urheberschaft nach § 10 UrhG gilt auch im Internet 11. Februar 2015 zu BGH, Urteil vom 18. September 2014, Az. I ZR 76/13
  4. Peter Trettin: Widerlegung der Vermutung des § 476 BGB durch den Kfz-Verkäufer zu OLG Koblenz, Urteil vom 24. Februar 2011 – 2 U 261/10
  5. Christian Deckenbrock: EuGH zur Beweislastumkehr im Verbrauchsgüterkauf: De-Facto-Haltbarkeitsgarantie. Legal Tribune Online, 5. Juni 2015
  6. BGH 17. November 2010 – VIII ZR 112/10, NJW 2011, 598 (tatsächliche Vermutung für die Richtigkeit der Werte bei einem geeichten Messgerät); BGH 8. Juli 2010 – III ZR 249/09, NJW 2010, 3292, 3294 (tatsächliche Vermutung für Kausalität zwischen fehlerhafter Beratung und Anlageentscheidung); BGH 22. März 2010 – II ZR 203/08 (tatsächliche Vermutung der Ursächlichkeit fehlerhafter Prospektdarstellungen für die Anlageentscheidung); BVerwG 27. Oktober 1998 – C 38/97, BVerwGE 107, 304, 310f. = ZIP 1999, 202, 204 (tatsächliche Vermutung für Nutzungsziehung); BAG 19. Juni 1973 – 1 AZR 521/72, BAGE 25, 226, 233 = AP Nr. 47 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (tatsächliche Vermutung für die Verfolgung legaler Ziele beim Streik); OLG Saarbrücken 4. Juni 1993 – U 109/92, NJW 1993, 3077, 3078 (widerlegbare Vermutung der Kausalität)
  7. Hainmüller: Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeitstat im heutigen Schadensersatzprozess. 1966, S. 26ff.
  8. Dänzer: Die tatsächliche Vermutung. 1914
  9. Filesharing-Entscheidung BGH: Keine tatsächliche Vermutung für Täterschaft, wenn Zugriff durch Dritte möglich. 3. Juni 2014 zu BGH, Urteil vom 8. Januar 2014 – I ZR 169/12
  10. Carl Creifelds: Rechtswörterbuch. 21. Aufl. 2014. ISBN 978-3-406-63871-8