Antirassismus

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Antirassismus (mitunter abgekürzt AntiRa oder Antira) ist eine Bezeichnung für Ansätze, die auf die Beseitigung von Verhältnissen und Einstellungen abzielen, die rassistisch (bzw. von Rassismus bestimmt[1]) sind.

Es lassen sich viele Argumentationslinien des Antirassismus unterscheiden:

Dabei sind diese Formen keineswegs getrennt zu verstehen, häufig ergänzen sie sich auch gegenseitig, wobei sie sich auch teilweise entschieden widersprechen.

Widerspruch und Widerstand gegen Rassismus gab es schon immer, zum Beispiel in der Anti-Sklaverei-Bewegung, dem Schutz vor Vertreibung von Minderheiten oder der anti-antisemitischen Bewegung im späten 19. Jahrhundert.

Als Begriff tauchte Antirassismus erstmals nach der Befreiung Europas vom Faschismus auf, genauer in Sartres Vorwort Schwarzer Orpheus zu einer Anthologie von Leopold Senghor 1948. 1969 verabschiedete der Ökumenische Rat der Kirchen ein Antirassismus-Programm gegen die Unterdrückung von Minderheiten und vor allem die Apartheid in Südafrika.

Spätestens 1975 wurde deutlich, dass es keinen Konsens darüber gibt, was als „Rassismus“ gelten muss. Seinerzeit versuchten arabische Staaten in der UN-Resolution 3379, den Zionismus als Rassismus verurteilen zu lassen. Ähnliche Bestrebungen haben die Durchführung der Anti-Rassismus-Konferenz in Durban gefährdet. Dort konnten sich auch die vor allem afrikanischen und afro-amerikanischen Gruppierungen nicht mit ihrer Forderung durchsetzen, den Kolonialismus und die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschheit zu verurteilen.

Bedingt durch die Empörung über einige rechtsextremistisch und ausländerfeindlich motivierte Pogrome wie etwa in Rostock (Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen) oder Mordanschläge wie in Solingen (Brandanschlag von Solingen) und Mölln (Mordanschlag von Mölln) Anfang der 1990er Jahre erhielt die antirassistische Bewegung in Deutschland Zulauf. Die Initiative kein mensch ist illegal ist daraus entstanden. Seit 1998 finden jährlich antirassistische Grenzcamps statt, die staatlichen Rassismus zum Thema zahlreicher Aktivitäten an der deutschen Ostgrenze, an Flughäfen und im Hamburger Hafen machten. Das Konzept ist auch von Aktivisten anderer Länder übernommen worden. So gab es (No-Border) Camps auf Lesbos, in Bulgarien (Siva Reka) oder in Schweden (Stockholm).

Ab 2011 setzte sich die Bewegung immer mehr mit dem, stark akademisch geprägten, Konzept der Critical Whiteness auseinander. Teilweise kam es dabei zu starken Polarisierungswellen.

In Folge der Tötung von George Floyd kam es ab dem Jahr 2020 zu weltweiten Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung, welche sich die Bekämpfung des Rassismus in den Vereinigten Staaten zum Ziel gesetzt hat.

Akademischer Anti-Rassismus

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten führende Anthropologen wie etwa Franz Boas, Marcel Mauss, Bronislaw Malinowski, Pierre Clastres und Claude Lévi-Strauss mit ihren Werken zum Niedergang biologischen Denkens und biologischer Erklärungsansätze innerhalb der Sozialwissenschaften – einschließlich der bis dato vorherrschenden Paradigmen des kulturellen Evolutionismus und Darwinismus – und etablierten den Kulturrelativismus als neues dominantes Paradigma, was das Ende rassistischer Theorien in den Sozialwissenschaften und Humanwissenschaften zur Folge hatte. Im akademischen Diskurs wird teilweise der Begriff Rassismuskritik vorgezogen, weil er anders als der Antirassismus-Begriff darauf verweise, dass es keine rassismusfreien Räume in rassistisch strukturierten Gesellschaften geben könne. Die Rassismuskritik stellt sich auch gegen eine im Antirassismus mitunter vorgenommene Unterscheidung in (rassistische) Täter und Opfer von Rassismus, da alle Mitglieder in einer Gesellschaft von Rassismus betroffen seien.[2]

Seit der Konjunktur des Critical Whiteness Diskurses in den 2010er Jahren werden vermehrt identitätspolitische Fragen im rassismuskritischen Diskurs verhandelt. Dabei stehen insbesondere die Grenzen der Critical Whiteness Perspektive sowie intersektionale Ansätze in der Kritik, da sie rassifizierende Kategorisierungen reproduzierten und antirassistische Kämpfe in erster Linie an Identitätsfragen verhandelt würden.[3][4][5] In dieser Kritik stehen auch antirassistische Bewegungen, die sich nach den Black-Lives-Matter Protesten etabliert haben.[6] Zugespitzend lässt sich festhalten, dass sich kulturelle und marxistische Antirassismusansätze gegenüberstehen. Erstere befassen sich insbesondere mit Fragen der Repräsentation und letztere mit materialistischen Fragen, wobei es auch Überschneidungen der beiden Positionen gibt.

Abwehr des Rassismus-Vorwurfs

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Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung hat kritisiert, dass von Staatsorganen in Deutschland der Rassismusbegriff zu eng gefasst werde.[7] Dadurch ließen viele Gerichte Äußerungen, die im Ausland als „rassistisch“ bewertet würden, als legitime freie Meinungsäußerung gelten, die nicht bestraft werden dürfe. Dass der Begriff vielfach gemieden wird, liegt unter anderem daran, dass mit Rassismus vor allem die Verbrechen des Nationalsozialismus assoziiert werden. Auf gegenwärtige Zustände angewendet erscheint der Begriff daher häufig als unpassend und emotional zu aufgeladen. Stattdessen werden Ausdrücke wie Xenophobie, Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit verwendet. Diese Bezeichnungen sind jedoch aus mehreren Gründen problematisch: „Ausländerfeindlichkeit“ blendet aus, dass sich die „Feindlichkeit“ nicht nur gegen „Ausländer“ richtet, sondern auch gegen bestimmte „Inländer“ beziehungsweise deutsche Staatsbürger, denen aufgrund ihres Aussehens ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Mit dem Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ wird den Betroffenen unterstellt, sie seien „Fremde“. Sie werden mit dieser Bezeichnung als „Andere“ einem gesellschaftlichen „Wir“ gegenübergestellt. Ihre vermeintliche Andersheit erscheint dann als quasi natürliche Ursache beziehungsweise Voraussetzung von Feindlichkeit, die darüber zugleich als ein primär individuelles Einstellungsproblem verharmlost wird.[8]

John McWhorter legt dar, „der ideologische Antirassismus ist [...] das Gegenteil von echtem Antirassismus. Es gehe seinen Anhängern nicht um Solidarität mit Außenseitern, sondern um die Zurschaustellung der eigenen Moral. McWhorter nennt ihn sogar eine Form des Rassismus, der schwarzen Menschen mehr schade als nutze. Er dränge sie in die Rolle des passiven Opfers einer rassistischen Gesellschaft und rede ihnen jede Initiative und Verantwortungsbereitschaft aus. [...] McWhorter schreibt, dass bei der Zurschaustellung des eigenen Opferstatus oft übertrieben werde. Selbst dunkelhäutig, schöpft er dabei aus eigener Erfahrung.“[9]

  • Ulrich Bielefeld (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Junius, Hamburg 1991.
  • Ljubomir Bratić (Hrsg.): Landschaften der Tat. Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa. SozAKTIV, St. Pölten 2002, ISBN 3-901847-06-5
  • T. Geisen: Antirassistisches Geschichtsbuch. Quellen des Rassismus im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. IKO, Frankfurt am Main 1996.
  • I. Geiss: Geschichte des Rassismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988.
  • Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Hanser, München 2019, ISBN 978-3446264250.
  • Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Überarb. und erw. Neuauflage, [Westfälisches Dampfboot/WVB] 1999/2004, ISBN 3-86573-009-4
  • W.-F. Haug: Politisch richtig oder richtig politisch, Linke Politik im transnationalen High-Tech-Kapitalismus. Argument, Hamburg 1999.
  • M. Heinemann, A. Schobert, C. Wahjudi: Handbuch Antirassismus. Projekte und Initiativen gegen Rassismus und Antisemitismus in Deutschland. Kokerei Zollverein, Essen 2002
  • S. Hess, A. Linder: Antirassistische Identitäten in Bewegung. edition diskord, Tübingen 1997.
  • Interface (Hrsg.): Widerstandsbewegungen. Antirassismus zwischen Alltag und Aktion. Assoziation A, Berlin 2005, ISBN 3-935936-34-6
  • jour fixe initiative berlin (Hrsg.): Wie wird man fremd? Unrast Verlag, ISBN 3-89771-405-1
  • S. Jäger (Hrsg.): Aus der Werkstatt: Antirassistische Praxen. Konzepte – Erfahrungen – Forschung, DISS, Duisburg 1994, ISBN 3-927388-45-9
  • A. Kalpaka, N. Räthzel (Hrsg.): Die Schwierigkeit nicht rassistisch zu sein. Mundo, Leer 1990, ISBN 3-87322-034-2.
  • Ibram X. Kendi: How to be an Antiracist. Aus dem amerikanischen Englisch von Alina Schmidt, btb, München 2020, ISBN 978-3-442-75868-5.
  • M. Lange, M. Weber-Becker: Rassismus, Antirassismus und interkulturelle Kompetenz. Institut für berufliche Bildung und Weiterbildung, Göttingen 1998.
  • John McWhorter: Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America. Portfolio, New York 2021, ISBN 978-0-593-42306-6.
    • Die Erwählten: Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Übersetzung Kirsten Riesselmann. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, ISBN 978-3-455-01297-2.
  • A. Magiros: Kritik der Identität. 'Bio-Macht' und 'Dialektik der Aufklärung' – Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. Unrast Verlag, 2004, ISBN 3-89771-734-4
  • Tupoka Ogette: exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen. Unrast Verlag, 2019, ISBN 978-3897712300.
  • B. Roß (Hrsg.): Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft. Perspektiven für eine antirassistische und feministische Politik und Politikwissenschaft. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004
  • N. Seibert: Vergessene Proteste: Internationalismus und Antirassismus 1964–1983. Münster 2008. ISBN 978-3-89771-032-0
  • Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag, 2003, ISBN 3-89771-425-6
  • Noah Sow: Deutschland Schwarz weiß: der alltägliche Rassismus, 2008, 2018, ISBN 978-3-7460-0681-9.
  • P.-A. Taguieff: Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double. Hamburger Edition, Hamburg 2000.
Commons: Anti-racism – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. www.dwds.de.
  2. Karim Fereidooni: Rassismuskritische Theorie und Praxis der sozialwissenschaftlichen Lehrer_innenbildung. In: Praxishandbuch Habitussensibilität und Diversität in der Hochschullehre (= Prekarisierung und soziale Entkopplung – transdisziplinäre Studien). Springer Fachmedien, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-22400-4, S. 293–318, doi:10.1007/978-3-658-22400-4_14.
  3. Serhat Karakayalı: Die Camera Obscura der Identität: Zur Reichweite des Critical-Whiteness-Ansatzes. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Band 45, Nr. 178, 1. Januar 2015, ISSN 2700-0311, S. 117–134, doi:10.32387/prokla.v45i178.232 (prokla.de [abgerufen am 5. September 2023]).
  4. Isabell Lorey: Kritik und Kategorie. Zur Begrenzung politischer Praxis durch neuere Theoreme der Intersektionalität, Interdependenz und Kritischen Weißseinsforschung. In: Alex Demirović (Hrsg.): Kritik und Materialität, Reihe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Band 1. Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, S. 132–148.
  5. Decolorise it! 21. September 2012, abgerufen am 5. September 2023.
  6. Die Diversität der Ausbeutung: zur Kritik des herrschenden Antirassismus (= Analysen). 4. Auflage. Dietz, Berlin 2023, ISBN 978-3-320-02397-3.
  7. Thomas Hummitzsch: UN-Antirassismus-Ausschuss rügt Deutschland (Memento vom 20. Februar 2016 im Internet Archive). „Netzwerk Migration in Europa“ / Bundeszentrale für politische Bildung. 15. Juni 2013
  8. Ellen Kollender: Wenn die Vereinten Nationen von Rassismus sprechen – und Deutschland nicht (Memento vom 20. Februar 2016 im Internet Archive). „Netzwerk Migration in Europa“ / Bundeszentrale für politische Bildung. 11. Juni 2015
  9. Thomas Thiel: Antirassismus als Religion: Es geht um die Zurschaustellung der eigenen Moral. Rezension von John McWhorter: Die Erwählten: Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Übersetzung Kirsten Riesselmann. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, ISBN 978-3-455-01297-2. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 2022 [1].