Ausbürgerung Wolf Biermanns

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Die Ausbürgerung Wolf Biermanns erfolgte im November 1976. Sie bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Kulturgeschichte der DDR.

Wolf Biermann war 1953 als Siebzehnjähriger von Hamburg nach Ost-Berlin übergesiedelt. Er wurde dabei maßgeblich von Margot Feist, der späteren Ehefrau von Erich Honecker, unterstützt, die als Mädchen einige Jahre in seiner Familie gelebt hatte. Er wurde Mitglied der FDJ und danach Kandidat der SED. Er verfasste in den folgenden Jahren Lieder und Lyrik, zuerst apolitisch und systemkonform, später zunehmend kritischer.

1964 hatte er seinen ersten Gastauftritt in der Bundesrepublik. 1965 erhielt Wolf Biermann, wie andere Künstler auch, nach dem 11. Plenum des ZK der SED, Auftritts- und Veröffentlichungsverbot in der DDR. Danach veröffentlichte er mehrere Bücher und Schallplatten in der Bundesrepublik.

1971 erhielt Wolf Biermann eine Einladung zur Premiere seines Stückes Der Dra-Dra nach Göteborg. Der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke und weitere Verantwortliche planten, ihm danach die Staatsbürgerschaft der DDR zu entziehen und seine Wiedereinreise zu verhindern.[1][2] Wolf Biermann verzichtete auf die Reise.

Konzert in Köln

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Am 21. September 1976 erhielt Biermann vom Vorstand der IG Metall eine Einladung zu einer Konzertreise in die Bundesrepublik. In Bochum wurden über 10.000 Unterschriften gesammelt, die eine Ausreisegenehmigung für ihn forderten. Diese wurde dann von den DDR-Behörden erteilt.

Über die geplanten Konzerte wurde vorab in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in weiteren westlichen Medien informiert.

Am 13. November 1976 fand das erste Konzert von Wolf Biermann in der Kölner Stadthalle vor etwa 7000 Zuschauern statt. Es wurde vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) in seinem Rundfunkprogramm Radiothek in voller Länge live übertragen.

Politische Reaktionen

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Am 16. November beschloss das Politbüro der SED auf Vorschlag von Erich Honecker die Ausbürgerung Wolf Biermanns.[3] Am Nachmittag wurde dies von der staatlichen Nachrichtenagentur ADN bekanntgegeben und am Abend in der Aktuellen Kamera verlesen. Begründet wurde dies mit „grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten“ nach § 13 des Staatsbürgerschaftsgesetzes der DDR.[4][5] Am 17. November veröffentlichte das Zentralorgan der SED Neues Deutschland dieselbe Meldung sowie einen längeren polemischen Kommentar von Günter Kertzscher (Dr. K.) dazu.[6][7][8] In vielen westlichen Medien wurde ausführlich darüber berichtet.

Das WDR Fernsehen strahlte am 17. November einen etwa zweistündigen Ausschnitt des Konzertes in seinem 3. Programm aus. Am Abend des 19./20. November sendete die ARD in ihrem ersten Programm das Konzert in voller Länge. Dieses war das erste Mal, dass die meisten DDR-Bürger Wolf Biermann in einem Konzert hören und sehen konnten.

Proteste und Zustimmungen

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Der prominenteste Regimekritiker Robert Havemann und der Schriftsteller Jürgen Fuchs erklärten bereits kurz nach Bekanntwerden der ADN-Meldung am 16. November ihren Protest gegen die Ausbürgerung in mehreren Interviews für westliche Medien.[9] Robert Havemann veröffentlichte danach einen offenen Brief an Erich Honecker im Spiegel.[10]

Am 17. November trafen sich die bekannten Schriftsteller Christa und Gerhard Wolf, Günter Kunert, Sarah Kirsch, Heiner Müller, Jurek Becker, Franz Fühmann, Stefan Heym, Rolf Schneider, Volker Braun, Erich Arendt und der Bildhauer Fritz Cremer bei dem Schriftsteller Stephan Hermlin in Ost-Berlin.

Sie einigten sich auf einen Offenen Brief, dessen Entwurf der Gastgeber verfasst hatte.[11][12] Dieser war auf Bitten von Fritz Cremer etwas abgemildert worden.[13][14] Im Text des Offenen Briefs hieß es, ein sozialistisches Staatswesen müsse einen unbequemen Dichter wie Biermann gelassen ertragen können. Sie beriefen sich dabei auf einen klassischen Text von Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in dem es heißt: „Proletarische Revolutionen … kritisieren sich ständig selbst“.[15] Man distanziere sich von „Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen“. Biermann selbst habe nie einen Zweifel daran gelassen, „für welchen der beiden deutschen Staaten er, bei aller Kritik, eintritt“. Im Schlusssatz formulierten die Autoren deutlich: „Wir protestieren gegen die Ausbürgerung“ und fügten hinzu, sie bäten darum, diese Maßnahme zu „überdenken“. Das Verb „bitten“ war nach den Aussagen etwa des Zeitzeugen Karl-Heinz Jakobs auf Cremers Anregung in den Text gerückt anstelle des ursprünglichen „fordern“.[16]

Der Text wurde an das Neue Deutschland überbracht, mit Bitte um Veröffentlichung. Gleichzeitig erhielten ihn die britische Nachrichtenagentur Reuters und die französische AFP mit einer Sperrfrist bis 17 Uhr. Danach wurde die Erklärung durch viele westliche Medien verbreitet. In den nächsten Tagen erklärten sich über 100 weitere Künstler mit ihr solidarisch. Auch in der Bevölkerung gab es zahlreiche Proteste.

Im Neuen Deutschland und weiteren DDR-Tageszeitungen erschienen dagegen in den nächsten Tagen einige Erklärungen von SED-Kulturfunktionären, Künstlern, Wissenschaftlern, Arbeitern und weiteren Personen, die die Ausbürgerung begrüßten oder billigten.[17] Darunter waren bekannte Persönlichkeiten wie der Regisseur Konrad Wolf, die Theaterintendantin Ruth Berghaus, die Schauspieler Vera Oelschlegel, Hans-Peter Minetti, Wolfgang Heinz, die Schriftsteller Hermann Kant, Gerhard Holtz-Baumert, Günter Görlich, der Maler und Präsident des Verbandes Bildender Künstler Willi Sitte und der Komponist Paul Dessau[18], ebenso der Sänger Ernst Busch. Die Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR Anna Seghers erklärte, sie habe die Protestresolution entgegen anderslautenden Meldungen nicht unterschrieben.[19]

Heiner Müller, der zu den Erstunterzeichnern des Offenen Briefs gehört hatte, schrieb der SED-Bezirksleitung Berlin später, er distanziere sich „von der Umfälschung der Meinungsverschiedenheit über die Lösung eines ideologischen Problems in eine Konfrontation durch die kapitalistischen Medien“.[20]

Auch in der Bundesrepublik gab es Proteste. Mehrere Dutzend DKP-Mitglieder (der Schwesterpartei der SED) unterzeichneten eine Protesterklärung gegen die Ausbürgerung.[21]

Für die meisten Unterzeichner der Protesterklärung gab es bald danach erhebliche Konsequenzen.

Fritz Cremer wurde genötigt, seine Unterschrift wieder zurückzuziehen, ebenso Uschi Brüning.[22] Der Schriftsteller Jürgen Fuchs und die Musiker Gerulf Pannach und Christian Kunert von der bekannten Rockgruppe Renft wurden schon am 19. bzw. 21. November verhaftet und erst ein knappes Jahr später in die Bundesrepublik entlassen. Robert Havemann und seine Familie wurden am 26. November 1976 unter Hausarrest gestellt und durften ihr Grundstück erst wieder im Mai 1979 verlassen. Gerhard Wolf und weitere Unterzeichner wurden aus der SED ausgeschlossen, gegen weitere wurden Parteistrafen verhängt.[23] Einige Schauspieler erhielten Aufführungsverbote oder wurden von ihren Theatern entlassen.

Einige unbekanntere Personen, die gegen die Ausbürgerung protestiert hatten, wurden inhaftiert oder mit Strafverfahren verfolgt.

Über hundert Künstler und Schriftsteller verließen danach die DDR, darunter Günter Kunert, Thomas Brasch, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner, Sarah Kirsch, Kurt Bartsch, Katharina Thalbach, sowie etwas später Manfred Krug, Eva-Maria Hagen, Nina Hagen, Armin Mueller-Stahl, Angelica Domröse und Hilmar Thate. 1979 kam es nach den Strafverfahren gegen Stefan Heym zu weiteren Ausreisen von Künstlern.

Monographien
Artikel
  • Johannes Hürter: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Künstler und Intellektuelle zwischen den Stühlen. In: Udo Wengst, Hermann Wentker (Hrsg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz. Berlin 2008, S. 283–305;
  • Stefan Wolle: Lanzelot und der Drache. Skandal und Öffentlichkeit in der geschlossenen Gesellschaft der DDR am Beispiel der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im November 1976. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen 2004, S. 212–230.
  • Gunnar Decker: Der preußische Ikarus. Vor dreißig Jahren wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. In nd vom 15. November 2006 Text.

Einzelnachweise

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  1. Schreiben von Erich Mielke vom 12. November 1971 Eva-Maria Hagen, Allerhand, dieses Schreiben wurde auch an Kurt Hager weitergeleitet
  2. Brief von Kulturminister Klaus Gysi an das MfS vom 15. November 1971 Stasi-Mediathek (lies auch Transkript), Klaus Gysi empfahl, einer Reise nur zuzustimmen, wenn Wolf Biermann nicht mehr zurückkäme
  3. Roland Berbig (Hrsg.): In Sachen Biermann: Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Links, 1994, S. 60–63, besonders S. 62 zur Politbürositzung
  4. Pressemeldung von ADN am 16. November 1976 (Memento vom 11. Januar 2009 im Internet Archive)
  5. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns Ost Kunst West; mit Video der Aktuelle Kamera- Meldung vom 16. November 1976
  6. Zur Ausbürgerung von Wolf Biermann, in Berlinische Monatsschrift, 2001/6, S. 175–178 Text; nach Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Ch. Links, 1997; mit den beiden ND-Artikeln, dem Offenen Brief und einer Erklärung des Philosophen Wolfgang Heise, der die Ausbürgerung ebenfalls kritisierte.
  7. ND-Texte Jugendopposition mit beiden Artikeln
  8. Gunnar Decker, Der preußische Ikarus. Vor dreißig Jahren wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert, in nd vom 15. November 2006 Text, mit einigen Hintergrundinformationen; Günter Kertzscher war NSDAP-Mitglied von 1937 bis zu seiner Kriegsgefangenschaft 1941 gewesen; Wolf Biermann hatte seinen jüdischen Vater durch die Nationalsozialisten verloren.
  9. Erste Reaktionen auf Ausbürgerung von Wolf Biermann Bundesarchiv, MfS-Unterlagen, Information 796/76, mit Angaben über erste Reaktionen am 16. und 17. November; Robert Havemann gab Telephoninterviews für die ARD (Lothar Loewe), die Süddeutsche Zeitung, DPA und den Springer-Inlandsdienst (Wagner), Jürgen Fuchs für DPA und SFB
  10. Spiegel 49/1976, vom 22. November 1976
  11. Offener Brief 1000 Dokumente, mit transkribiertem Text (siehe auch Leiste mit Faksimile und PDF)
  12. Offener Brief Jugendopposition, mit Foto des Briefes
  13. Rolf-Bernhard Essig u. a. (Hrsg.): „Wer schweigt, wird schuldig!“ Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Wallstein, 2007, ISBN 978-3-8353-0217-4, S. 219–225; mit Details zu den Umständen der Entstehung und Verbreitung
  14. Stefan Heym: Der Winter unsers Mißvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant. München 1996, ISBN 3-442-72366-3, mit seinen Erinnerungen aus dieser Zeit
  15. Siehe etwa Stefan Bollinger: Mit der DDR zum Sozialismus des 221. Jahrhunderts. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, September 2009 (zeitschrift-marxistische-erneuerung.de).
  16. Karl-Heinz-Jakobs: „Wir werden ihre Schnauzen nicht vergessen.“ In: Der Spiegel, 22. Dezember 1981 (spiegel.de).
  17. Artikel über Wolf Biermann im "Neuen Deutschland" und "Unsere Zeit" (DKP) nd-Archiv, mit Artikeln vom 17. und 22. November 1976
  18. Junge Welt vom 22. November 1976, S. 3, mit Erklärung von Konrad Wolf, Ruth Berghaus, Wolfgang Heinz und Paul Dessau
  19. Märkische Volksstimme vom 22. November 1976, S. 3; mit dieser kurzen Erklärung
  20. Richard Herzinger: Ich bin kein Biermann. In: Die Zeit, 24. März 1995 (https://www.zeit.de/1995/13/Ich_bin_kein_Biermann zeit.de).
  21. War auf dem ersten Cover der LP Das geht sein' sozialistischen Gang vom Kölner Konzert abgedruckt
  22. Janko Tietz: Jazzsängerin Uschi Brüning: „Die Menschen im Westen interessieren sich nicht für uns“. Interview in: Der Spiegel, 2. März 2019 (spiegel.de).
  23. Ausbürgerung von Wolf Biermann 1000 Dokumente, mit einigen Angaben