Brava-Gente-Mythos

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Italienische Soldaten bei der Geiselerschießung 1942 in Slowenien

Als Brava-Gente-Mythos, im Italienischen unter der Phrase italiani brava gente („Italiener [sind] anständige Leute“) bekannt, wird in der jüngeren historischen Forschung das populäre italienische Narrativ bezeichnet, das eine Beteiligung des faschistischen Italien an Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs oder dem Holocaust in Abrede stellt bzw. systematisch herunterspielt. Die erinnerungskulturelle Position ist jene, dass italienische Soldaten und Offiziere sich im Gegensatz zu ihren ideologisierten, brutalen deutschen Verbündeten durch Menschlichkeit und Mitgefühl ausgezeichnet hätten, somit eben „anständige Leute“ geblieben seien. Im weiteren Sinne umfasst der Mythos auch vergleichbare geschichtsrevisionistische Einstellungen, die in Diskursen zur italienischen Kolonialherrschaft in Afrika und zu weiteren Konflikten mit italienischer Beteiligung anzutreffen sind.

Die nach den Schwarzhemden bezeichneten „zwanzig schwarzen Jahre“ der faschistischen Diktatur von 1922 bis 1943 (ventennio nero[1], ventennio fascista oder nur ventennio[2]) wurden im kollektiven Gedächtnis durch die Erfahrung der zwei Jahre deutscher Besatzung von 1943 bis 1945 (biennio) mit der Erinnerung an Partisanenkrieg, Internierung und Deportation zur Zwangsarbeit marginalisiert. Die Verfolgung politischer Gegner des Regimes, die Unterdrückung der Slowenen und Kroaten in den nordöstlichen Grenzgebieten, die begangenen Kriegsverbrechen in den Kolonien (Italienisch-Ostafrika und Italienisch-Libyen), in Griechenland, der Sowjetunion[3] und Jugoslawien[4] sowie die Beteiligung der Italienischen Sozialrepublik am Holocaust[5] blieben infolgedessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ungesühnt und lange Zeit auch unbeachtet.

Daneben führte der von der großen antifaschistischen Koalition der Parteien des Verfassungsbogens gepflegte Resistenza-Mythos als Gründungsmythos des neuen italienischen Staates mit der Konzentration auf den Befreiungskrieg der Jahre 1943 bis 1945 ebenfalls zu einer Vernachlässigung der schwarzen zwei Jahrzehnte in der Forschung und Geschichtsdidaktik.[6]

In seinem 2005 erschienenen Buch Italiani, brava gente? Un mito duro da morire weitete der italienische Historiker Angelo Del Boca den Brava-Gente-Mythos über die Zeit des italienischen Faschismus hinaus aus. Als Beispiele, in denen dieser Mythos zum Tragen kommt, nannte Del Boca die Zeit der Brigantenbekämpfung in Süditalien während des Risorgimento, den Ersten Italienisch-Äthiopischen Krieg, das Gefangenenlager auf Nocra, die Niederschlagung des Boxeraufstands und den Libyenfeldzug im Königreich Italien.

  • Tom Bentley: Empires of Remorse: Narrative, postcolonialism and apologies for colonial atrocity. Routledge, Abingdon (Oxon)/New York 2016, ISBN 978-1-138-81538-4. Kapitel The Italian apology for colonialism in Libya, S. 145–167.
  • Angelo Del Boca: Faschismus und Kolonialismus – Der Mythos von den anständigen Italienern. In: Irmtrud Wojak, Susanne Meinl (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Campus, Frankfurt a. M. 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 193–202.
  • Angelo Del Boca: Italiani, brava gente? Un mito duro da morire. Neri Pozza, Vicenza 2005, ISBN 978-88-545-0495-0.
  • Isabelle Bosch: Bravo italiano e cattivo tedesco?: Darstellung der nationalsozialistischen und faschistischen Diktaturen in italienischen Schulgeschichtsbüchern. Eckert. Beiträge 2016/2
  • Davide Conti: L’occupazione italiana dei Balcani. Crimini di guerra e mito della «brava gente» (1940-1943). Odradek, Rom 2008, ISBN 978-88-86973-92-2.
  • Filippo Focardi: Il cattivo tedesco e il bravo italiano. La rimozione delle colpe della Seconda Guerra Mondiale. Editori Laterza, Rom/Bari 2013.
  • Filippo Focardi: Italy’s Amnesia over War Guilt. The “Evil Germans” Alibi. In: Mediterranean Quarterly, Band 25, Nr. 4 (Januar 2015), S. 5–26.
  • Claudio Fogu: Italiani brava gente. The legacy of fascist historical culture on Italian politics of memory. In: Richard Ned Lebow u. a.: The Politics of Memory in Postwar Europe. Duke University Press, Durham (NC)/London 2006, S. 147–176.
  • Alexis Herr: The Holocaust and Compensated Compliance in Italy. Fossoli di Carpi, 1942–1952. Palgrave Macmillan, Basingstoke (Hants)/New York 2016, ISBN 978-1-137-59898-1. Kapitel The Politics of Blame, S. 93–112.
  • Aram Mattioli: «Viva Mussolini!». Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Schöningh, Paderborn 2010, ISBN 350676912X.
  • Paolo Fonzi: Beyond the Myth of the “Good Italian”. Recent Trends in the Study of the Italian Occupation of Southeastern Europe during the Second World War. In: Südosteuropa, Band 65 (2017), Nr. 2, S. 239–259 (PDF).
  • Davide Rodogno: Italiani brava gente? Fascist Italy’s policy toward the jews in the Balkans, April 1941–July 1943. In: European History Quarterly. Band 35 (2005), Nr. 2, S. 213–240 (Digitalisat).

Einzelnachweise

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  1. Claudio Fogu: Italiani brava gente. The legacy of fascist historical culture on Italian politics of memory. In: Richard Ned Lebow u. a.: The Politics of Memory in Postwar Europe. Duke University Press, Durham (NC)/London 2006, S. 147–176, hier S. 147.
  2. Christiane Liermann: Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Der Faschismus in der italienischen politischen Kultur der Gegenwart. In: Patrick Ostermann, Claudia Müller, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa. Bielefeld 2012, S. 43–62, hier S. 50.
  3. Thomas Schlemmer: Das königlich-italienische Heer im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. In: Faschismus in Italien und Deutschland: Studien zu Transfer und Vergleich. Hrsg.: Sven Reichardt, Wallstein 2012, ISBN 9783835322059, S. 148 ff.
  4. Frank Vollmer: Die politische Kultur des Faschismus: Stätten totalitärer Diktatur in Italien. Böhlau 2007, ISBN 978-3-412-23106-4, S. 699 ff.
  5. Ruth Nattermann: Von der Erinnerung der Überlebenden zur kritischen Forschung – Das Gedenken an die Shoah in Italien. In: Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Hrsg.: Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg, transcript Verlag 2015, ISBN 978-3-8376-2794-7, S. 28.
  6. Lutz Klinkhammer: Novecento statt Storia contemporanea? In: Zeitgeschichte als Problem: Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa. Hrsg.: Alexander Nützenadel und Wolfgang Schieder, Vandenhoeck&Ruprecht 2004, ISBN 3-525-36420-2, S. 113 ff.