Stieltjesintegral
In der Integralrechnung bezeichnet das Stieltjesintegral eine wesentliche Verallgemeinerung des Riemannintegrals oder eine Konkretisierung des Integralbegriffs von Lebesgue. Benannt wurde es nach dem niederländischen Mathematiker Thomas Jean Stieltjes (1856–1894). Das Stieltjesintegral, für den der Begriff des Integrators grundlegend ist, findet in einigen Gebieten der Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastik Anwendung.
Das Riemann-Stieltjes-Integral für monotone Integratoren
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Es seien mit und zwei Funktionen. Dabei wird vorausgesetzt, dass , der Integrand, beschränkt ist und , der Integrator, (nicht notwendigerweise streng) monoton wächst. Das dazugehörige Riemann-Stieltjes-Integral von bezüglich auf dem Intervall wird wie das Riemannintegral über feine Zerlegungen des Intervalls oder über Ober- und Untersummen (siehe dort) definiert. Jedoch lauten die Formeln für die Ober- und Untersumme bei Stieltjes-Integralen statt
- (Obersumme) und
- (Untersumme)
nun
- (Stieltjes-Obersumme) und
- (Stieltjes-Untersumme).
Konvergieren Ober- und Untersumme gegen denselben Wert, so heißt bezüglich auf Riemann-Stieltjes-integrierbar, und der gemeinsame Grenzwert wird als Wert des Integrals bezeichnet. Die Schreibweise hierfür ist
Der Integrator regelt also, wie stark an verschiedenen Stellen gewichtet wird. Statt Integrator ist deshalb auch die Bezeichnung Gewichtsfunktion üblich. Offensichtlich kann das gewöhnliche Riemannintegral als Spezialfall des Riemann-Stieltjes-Integrals mit für alle (Identität) aufgefasst werden. Im Unterschied zum Riemann-Integral setzt man zwar standardmäßig voraus, dass die Integrandenfunktion stetig ist, die Integratorfunktion kann aber komplizierter sein:
Das Riemann-Stieltjes-Integral existiert z. B. bei stetiger Funktion selbst mit der Cantor-Funktion als Integrator (das ist eine monoton von 0 auf 1 wachsende stetige Funktion, deren Ableitung fast überall 0 ist, nämlich bis auf eine überabzählbare Nullmenge). Es existiert sogar mit einer unstetigen, aber monotonen Sprungfunktion etwa für für alle , aber für (Heaviside-Funktion).
Das Lebesgue-Stieltjes-Integral
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Lebesgue-Stieltjes-Integral ist ein Spezialfall des Lebesgue-Integrals. Hierbei wird über ein Borel-Maß integriert, das im Fall des Lebesgue-Stieltjes-Integrals durch die monotone Funktion definiert wird und im Folgenden mit bezeichnet wird. Das Maß ist festgelegt durch seine Werte auf Intervallen:
Hier bezeichnet den linksseitigen und den rechtsseitigen Grenzwert der Funktion an der Stelle . Ist die Identität, so handelt es sich um das Lebesgue-Maß. Ist bezüglich dieses Maßes Lebesgue-integrierbar, so definiert man das zugehörige Lebesgue-Stieltjes-Integral als
wobei die rechte Seite als gewöhnliches Lebesgue-Integral aufzufassen ist.
Nicht-monotone Integratoren
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Für eine eingeschränkte Menge nicht monoton wachsender Integratoren kann das Stieltjes-Integral ebenfalls sinnvoll definiert werden, nämlich für solche mit endlicher Variation auf . Funktionen endlicher Variation können nämlich stets als Differenz zweier monoton wachsender Funktionen dargestellt werden, also , wobei monoton wachsend sind. Das zugehörige Stieltjes-Integral (wahlweise im Riemannschen oder Lebesgueschen Sinne) ist dann definiert als
- .
Es kann gezeigt werden, dass diese Definition sinnvoll, d. h. wohldefiniert (also unabhängig von der speziellen Wahl der Zerlegung) ist.
Eigenschaften
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Wie das Riemann- und das Lebesgue-Integral ist auch das Stieltjes-Integral linear im Integranden:
- für Konstanten , falls die betrachteten Integrale existieren.
- Weiterhin ist das Stieltjes-Integral auch linear im Integrator, also
- für Konstanten und Funktionen endlicher Variation.
- Das Integral ist invariant unter Translationen des Integrators, also
- für Konstanten .
- Treppenfunktionen als Integratoren: Ist stetig und eine Treppenfunktion, die in den Punkten Sprünge der Höhe besitzt, so gilt
- Ist stetig differenzierbar, so gilt
- (Im Lebesgueschen Sinne: ist die Dichte von .)
- Ist absolut stetig, so ist fast überall differenzierbar, die Ableitung ist integrierbar und es gilt auch hier:
- Für das Riemann-Stieltjes-Integral gilt folgende Regel zur partiellen Integration:[1]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Isidor P. Natanson: Theorie der Funktionen einer reellen Veränderlichen. Unveränderter Nachdruck der 4. Auflage. Harri Deutsch, Thun u. a. 1981, ISBN 3-87-144-217-8.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Wolfgang Walter: Analysis. Band 2. 5., erweiterte Auflage. Springer, Berlin u. a. 2002, ISBN 3-540-42953-0, S. 193 f.