Otto Marloh

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Otto Marloh (* 1. August 1893 in Hildesheim; † 20. März 1964 ebenda) war ein deutscher Offizier und Staatsbeamter. Allgemein bekannt wurde er als Angeklagter wegen Massenerschießung republikanischer Matrosen (1919) und wegen Beteiligung am Holocaust (1949).

Leben und Tätigkeit

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Marloh, Sohn eines Hildesheimer Studienrats,[1] entschied sich nach seinem Abitur 1912, Berufssoldat zu werden und trat als Fahnenjunker in das kaiserliche Heer ein.[2] Von 1914 bis 1917 nahm er am Ersten Weltkrieg teil, in dem er mehrfach verwundet wurde. Nach dem Krieg schloss er sich dem Freikorps Reinhard an.[3] Während der Novemberrevolution im Berlin der ersten Nachkriegsmonate wurde Oberleutnant Marloh im Gefolge des Schießbefehls des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) vom 9. März 1919 von Oberst Wilhelm Reinhard damit beauftragt, einen Löhnungsappell der republikanischen, in Auflösung befindlichen Volksmarinedivision zu verhindern. Maßgabe dabei war, „in ausgiebigstem Maße von der Waffe Gebrauch zu machen“. Daraufhin wählte Marloh nach Augenschein jeden zehnten der zusammengekommenen Soldaten zur Erschießung aus, von denen einer das Massaker überlebte.[4][5] „Es wurde minutenlang auf sie gefeuert, und das Schreien und Jammern, das zu uns heraufdrang, war entsetzlich. Selbst einem Feldwebel der Regierungstruppen … traten die Tränen in die Augen. Er sagte, dass er an allen Frontteilen gekämpft und viel Fürchterliches erlebt habe, aber zu einer derartigen Henkersarbeit würde er sich nicht hergeben.“[6]

Marloh berief sich erfolgreich auf den Noske-Schießbefehl und wurde vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Mord hatte das Gericht als Tatbestand im Vorfeld abgewiesen. Das Urteil zum „Matrosenmord in der Französischen Straße 32“ wurde von den demokratischen Medien scharf kritisiert.[7] In der Urteilsbegründung wurde festgestellt, dass die Erschießungen „objektiv unberechtigt“ gewesen seien, die Opfer, die mit Waffen gekommen waren, gültige Waffenscheine besessen hätten, „keine Plünderer dabei“ gewesen seien und die Lage Marlohs ihn nicht zum Waffengebrauch berechtigt habe. Das Gericht nahm ihm ab, dass er geglaubt habe, mit der Noske-Anweisung einen gültigen Dienstbefehl vor sich zu haben.[8]

Zur Resonanz auf Prozess und Urteil gehörten bekannte Stimmen wie die von Kurt Tucholsky, George Grosz, Harry Graf Kessler oder Erich Mühsam (siehe unten).

1925 trat Marloh in den Stahlhelm ein. Seit 1930 gehörte er der NSDAP als Mitglied an. Zu einem zeitlich bisher nicht bestimmten Zeitpunkt schloss er sich auch der Sturmabteilung (SA), der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP an, in der er mindestens von 1932 bis 1934 – als er den Posten eines Stabsführers für eine Formation in Unterholstein bekleidete – auch Funktionärsaufgaben übernahm.[9]

Im Gefolge des Röhm-Putsches vom Sommer 1934, der auch Marlohs Komplize bei den konterrevolutionären Erschießungen von 1919, Eugen von Kessel, zum Opfer fiel, wurde auch Marloh im Ausland verschiedentlich irrtümlich als im Rahmen der Aktion ermordet gemeldet.[10]

Tatsächlich blieb Marloh unbehelligt und wurde im Jahr 1934 zum Leiter des Zuchthauses in Celle ernannt, was er bis 1939 blieb. 1941 übernahm er die Leitung des Zuchthauses in Gollnow.

Von 1942 bis zum Zusammenbruch des Nationalsozialismus war er kommissarisch Landrat des Kreises Wittgenstein.[11][12] In dieser Funktion bemühte er sich um die Deportation der als „Zigeuner“ kategorisierten Bewohner des Kreises. Anfang März 1943 leitete er die Selektionskonferenz in der Kreisstadt Berleburg, mit der der letzte Schritt zur lokalen Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vorbereitet wurde. Die Konferenz setzte sich dabei exzessiv über den zugrundeliegenden Auschwitz-Erlass hinweg. 134 Menschen, etwa die Hälfte Kinder, das jüngste drei Monate alt, wurden deportiert. Neun von ihnen überlebten.[13]

In den letzten Kriegstagen erteilte Marloh den Befehl zur Tötung eines abgesprungenen US-Fliegers (der von dem damit Beauftragten nicht ausgeführt wurde), bevor er sich in einen sicheren und gut ausgestatteten Schlupfwinkel begab, um sich dort mit anderen führenden regionalen Nationalsozialisten von der Front überrollen zu lassen.[14]

Nach dem Ende des NS-Regimes wurde Marloh von der Britischen Militärregierung als nationalsozialistisch belastet festgenommen und interniert. Überliefert ist, dass er während der Internierung ständig die Bemerkung im Mund führte: „Wir lassen uns nicht unterkriegen, was sie auch immer mit uns tun!“[15] 1949 wurde er im Zuge des Berleburger Zigeunerprozesses des Anklagepunktes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, für schuldig befunden und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Zu einer Strafverbüßung kam es aus gesundheitlichen Gründen nicht. Die Prozesskosten wurden Marloh wegen angeblicher Armut erlassen. Gegen die Verfahren gegen ihn und seine Mitangeklagten hatte es in der Region eine starke Bewegung gegeben, an deren Spitze sich die evangelisch-reformierte Kirchengemeinde gestellt hatte. Sie forderten Freisprüche, da sie die Angeklagten als unschuldig sahen. Etwaige Verurteilungen betrachteten diese Stimmen als Unrecht.[16] Zu den Entlastungserklärungen, die Marloh in den Prozess einbrachte, gehörte ein Schreiben des völkisch-nationalsozialistischen bildenden Künstlers Erich Klahn, eines Celler Freundes. Er begründete seine Unterstützung für Marloh mit dessen „ausserordentlich lauterer Gesinnung und seiner hervorragenden männlichen Haltung“. M. habe einen „unbestechlichen Charakter“ und strebe „bewusst eine klare und kompromisslose Ordnung unter den Menschen, zwischen den Völkergemeinschaften und Staaten“ an. Er habe „Vorbildliches für sein Vaterland geleistet“ und sei „als Mensch unantastbar“.[17]

Marloh starb 1964 in seiner Geburtsstadt Hildesheim.

Zeitgenössische Stimmen zu dem Verfahren 1919

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  • George Grosz in Bildtiteln zu M.: „Was ein Hakenkreuzritter werden will, … übt sich bei Zeiten“ (1919/20)[18]
  • Harry Graf Kessler: M. sei eine „mörderische Gliederpuppe“ und „grauenhafte Karikatur des preußischen Militarismus“, die Tat eine „widernatürliche Unmenschlichkeit, die nur den äußersten Abscheu wecken kann“. (Tagebuch, 1919[19])
  • Erich Mühsam: „Nachdem man die Mörder Liebknechts und Luxemburgs in einer Gerichtsfarce teils freigesprochen, teils scheinbestraft hat, nachdem Herr Vogel mit Hilfe seiner „Richter“ nach Holland durchgebrannt ist, hat man nun auch noch den Hauptschuldigen bei der Ermordung der 32 Matrosen in der Französischen Straße, nachdem man ihn monatelang sich seiner Freiheit hatte erfreuen lassen, entkommen lassen.“ (Tagebücher, Zuchthaus Ebrach, 12. Juni 1919)
„Die Opfer des weißen Schreckens haben sich im Laufe des Jahres noch ungeheuer vermehrt, ohne daß den Mördern irgendetwas Böses passiert wäre. Die Prozesse gegen Marloh und seine paar Mordkumpane, die man überhaupt vor Gericht stellte, um durch Freisprüche oder alberne Scheinurteile das Volk zu provozieren, sind in frischer Erinnerung.“ (Tagebücher, 14. Januar 1920)
  • Kurt Tucholsky, Prozessbeobachter/Sitzungsteilnehmer: „unfassbare Rohheit“ (siehe auch: „Weihnachten“, [1], „Prozeß Marloh“, [2])[17]
  • Heinrich Hannover: Politische Justiz 1916-1933, Frankfurt am Main 1966
  • Friedrich Karl Kaul, Justiz wird zum Verbrechen. Der Pitaval der Weimarer Republik, Berlin (DDR) 1953, S. 11–49
  • Dieter Noll, Neunundzwanzig rote Matrosen. Leutnant Marloh, in: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift, Bd. 10, H. 1, S. 253–260
  • Ulrich Friedrich Opfermann: Siegerland und Wittgenstein im Nationalsozialismus. Personen, Daten, Literatur. Ein Handbuch zur regionalen Zeitgeschichte (= Siegener Beiträge, Sonderband 2001), Siegen 2000
  • Rikarde Riedesel/Johannes Burkardt/Ulf Lückel (Hrsg.): Bad Berleburg – Die Stadtgeschichte, Bad Berleburg 2009
  • LG Siegen, 9. März 1949. In: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. IV, bearbeitet von Adelheid L Rüter-Ehlermann, C. F. Rüter. Amsterdam : University Press, 1970, Nr. 127, S. 309–327 Prozess gegen Otto Marloh wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Vier Jahre Gefängnis.

Einzelnachweise

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  1. Dieter Noll: Neunundzwanzig rote Matrosen. Leutnant Marloh, in: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift, Bd. 10, H. 1, S. 253–260, hier: S. 253.
  2. Friedrich Karl Kaul: Justiz wird zum Verbrechen, Berlin (DDR) 1953, S. 17.
  3. Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39, München 1999, S. 130. Ganz überwiegend in der Literatur als eine „Brigade“, davon abweichend der - im Übrigen apologetische - Artikel im Munzinger-Archiv: „Regiment“, siehe: Wilhelm Reinhard im Munzinger-Archiv, abgerufen am 2. Februar 2024 (Artikelanfang frei abrufbar)
  4. Gustav Radbruch: Reichstagsreden, Bd. 19, bearbeitet von Volkmar Schöneburg, Julius Gumbel, Heidelberg 1998, S. 150f.
  5. Emil Julius Gumbel: Vier Jahre Mord, Berlin 1922, S. 21.
  6. Volker Ullrich: Die Revolution 1918/19 (Beck’sche Reihe), München 2009.
  7. Heinrich Hannover: Politische Justiz 1916-1933. Frankfurt (Main) 1966, S. 43ff.
  8. Zit. nach: Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922, S. 22. Siehe auch: PDF.
  9. Ulrich Friedrich Opfermann: Siegerland und Wittgenstein im Nationalsozialismus. Personen, Daten, Literatur. Ein Handbuch zur regionalen Zeitgeschichte, Siegen 2000, S. 239.
  10. So im Weißbuch über die Erschießungen vom 30. Juni 1934, 1934, S. 87 und in Zeitungsmeldungen.
  11. Neuer Landrat in Wittgenstein. Artikel zum Dienstantritt: National Zeitung, Ausgabe Wittgenstein, 25. Juli 1942.
  12. Amtseinführung des neuen Landrats. National Zeitung, Ausgabe Wittgenstein, 28. Juli 1942.
  13. Ulrich Friedrich Opfermann: Berleburg im Nationalsozialismus, in: Rikarde Riedesel, Johannes Burkardt, Ulf Lückel (Hrsg.): Bad Berleburg – Die Stadtgeschichte, Bad Berleburg 2009, S. 215–246, hier: S. 223–226.
  14. Ulrich Friedrich Opfermann: Berleburg im Nationalsozialismus, in: Rikarde Riedesel, Johannes Burkardt, Ulf Lückel (Hrsg.): Bad Berleburg – Die Stadtgeschichte, Bad Berleburg 2009, S. 215–246, hier: S. 238, 246.
  15. Heinz Strickhausen: Berleburg. Eine Kleinstadt in der Nachkriegszeit, Bad Berleburg 2002, S. 123.
  16. Ulrich Friedrich Opfermann: Berleburg im Nationalsozialismus, in: Rikarde Riedesel, Johannes Burkardt, Ulf Lückel (Hrsg.): Bad Berleburg – Die Stadtgeschichte, Bad Berleburg 2009, S. 215–246, hier: S. 238.
  17. a b Regionales Personenlexikon zum Nationalsozialismus in den Altkreisen Siegen und Wittgenstein, Artikel Otto Marloh (Memento vom 6. April 2022 im Internet Archive)
  18. Die Zeichnungen sind abgedruckt in: Ulrich Friedrich Opfermann: Genozid und Justiz. Schlussstrich als „staatspolitische Zielsetzung“ in: Karola Fings/ders. (Hrsg.): Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung, Paderborn 2012, S. 315–326, hier: S. 323.
  19. Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Siebter Band. 1919–1923, Stuttgart 2007, S. 283.
VorgängerAmtNachfolger
Heinrich JansenLandrat des Kreises Wittgenstein
1942–1945
Schläper