Strategiepapier des Bundesinnenministeriums zur Corona-Pandemie

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Im März 2020 ließ das deutsche Bundesinnenministerium, das von Horst Seehofer (CSU) geleitet wurde, ein vertrauliches Strategiepapier ausarbeiten, das eine Empfehlung an die Bundesregierung zum Umgang mit der Corona-Pandemie umrisshaft darstellen sollte. Es wurde am 1. April 2020 veröffentlicht.

Das Robert Koch-Institut (RKI), das mit Matthias an der Heiden direkt und mit seinem damaligen Präsidenten Lothar H. Wieler indirekt an den Beratungen beteiligt war,[1] wurde mit Beschluss vom 19. Juni 2020 zur Herausgabe der erstellten Papiere und des Mail-Verkehrs zwischen den Beteiligten verpflichtet.

Das Bundesinnenministerium berief eine Kommission ein, die das 17-seitige Dokument unter dem Titel Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen vom 19. bis 22. März verfasste. Es erhielt den Vermerk VS-nur für den Dienstgebrauch.[2][3] Nach Darstellung der Redaktion der Parlamentsnachrichten und der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Uwe Schulz, Joana Cotar, Gottfried Curio und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD (Drucksache 19/27388) wurde es als einzelnes von vielen Diskussionspapieren durch unabhängige und der Absicht nach multidisziplinäre Wissenschaftler auf Anregung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) ohne Zielvorgaben und Einflussnahmen angefertigt, das Ergebnis damit aber weder gebilligt noch umgesetzt. Das Ergebnis der Autoren sei im BMI am 22. März 2020 eingegangen. Dem Bundestagsausschuss für Inneres und Heimat sei es am 8. April 2020 zugestellt worden.[4][5]

Heinz Bude stellte 2022 nach Offenlegung der Dokumente die Interna genauer dar. Alle jeweils zwei- bis dreistündigen Beratungen an insgesamt zehn Tagen seien über verschlüsselte rein akustische Telefonkonferenzen erfolgt. Die Kommission sei von Markus Kerber, Staatssekretär für Grundsatz, Heimatpolitik und Sport „aufgrund seiner ganz persönlichen Einschätzung “zusammen mit Hanna Katharina Müller, Referatsleiterin für Politische Ordnungen und hybride Bedrohungen zu Beginn der Pandemie ins Leben gerufen worden. Aufgaben seien gewesen, wissenschaftlicher Expertise zusammenzufassen, „Szenarien für strategische Alternativen“ zu formulieren und „rhetorische(r) Formeln“ für die Begründung der getroffenen Entscheidungen zu prägen. Die entscheidende Frage sei gewesen, wie man in einer komplexen, modernen Gesellschaft „auf das individuelle Verhalten zugreifen“ könne. Es sei aber auch klar gewesen, dass diese Politik starker Rechtfertigungen bedürfe.

„Mit Gramsci gesprochen: Es ging darum, Zwänge zu verordnen und Zustimmung zu gewinnen und dabei die Deutungshoheit in der Hand zu behalten. Allerdings würde man die Zwänge mit Anreizen und die Zustimmung mit Zielen in Verbindung bringen müssen“

Heinz Bude: Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie[6]

Die beiden Schlagworte Tomas Pueyos Flatten the Curve und Hammer and Dance hätten hier weitergeholfen. Mithilfe von Modellierungen der Pandemieentwicklung habe man sich am worst case scenario orientiert.[7]

Ein Rechercheverbund aus Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR berichtete über das Papier, das auch der taz vorlag.[8] Am 27. März 2020 bestätigte das Ministerium die Existenz des Papiers, gab aber keinen Kommentar ab, weil es „nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“ sei.[8]

Das Partnerprojekt von abgeordnetenwatch.de, FragDenStaat, veröffentlichte den vollständigen Text am 1. April 2020.[9][10]

Am 28. April 2020 veröffentlichte das Bundesinnenministerium das Papier auf seiner Internetseite.[11]

Otto Kölbl wurde in der WELT als „Mao-Fan“ und als Vertreter einer „Kommunikation der Angst“ kritisiert. Er sei einer der führenden Autoren des Strategiepapiers, besonders der Passagen zu Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation, die Maßnahmen zur Schockwirkung und Angsterzeugung beschreiben.[12][13]

Die Aargauer Zeitung beschrieb Mayer als Coautor eines Papiers von Kölbl Von Wuhan lernen – es gibt keine Alternative zur Eindämmung von Covid-19.[15][16] Der Aufsatz „propagiert autoritäre chinesische Methoden im Vorgehen gegen die Ausbreitung des Coronavirus“, so Michael Vosatka im Standard.[17]

Fünf dieser Wissenschaftler wurden vom BMI direkt angesprochen, der Kreis erweiterte sich daraufhin selbst.[18]

Heinz Bude erwähnt noch den Epidemiologen Matthias an der Heiden vom RKI, die Wirtschaftsjuristin und Wissenschaftsmanagerin Denise Feldner und den Managementexperten Andreas Poensgen. Zeitweise seien auch der Leiter der Grundsatzabteilung Thomas Binder und der Staatssekretär Klaus Vitt vom Innenministerium dabei gewesen.[19]

Seitenauszug aus dem Original-Strategiepapier des BMI (2020)

Das Papier warnt davor, die Lage zu unterschätzen, da dies zu immensen, irreversiblen Schäden führen könnte. Im Worst-Case-Szenario geht das Papier von einer Million Todesopfer schon für 2020 aus. Daher wird es als oberste strategische Priorität betrachtet, dieses Szenario zu vermeiden.[20]

Kontrovers erschien vor allem die Ausführung des Strategiepapiers, Behörden müssten eine „Schockwirkung“ erzielen. Bei einer Infizierung mit dem COVID-19-Virus könne Tod auch durch qualvolles Ersticken erfolgen. Kinder könnten Opfer des Virus werden; bleibende Folgeschäden seien nicht ausgeschlossen (vgl. Long Covid). Kindern sollte Angst gemacht werden. Es solle außerdem „historisch argumentiert“ werden, etwa durch die Gleichsetzung 2019 = 1919 + 1929. Schlimmste Folge einer nichtbewältigten Pandemie sei möglicherweise, dass die Gemeinschaft „in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie“ verändert würde.[21]

Das Papier nimmt Bezug auf den Artikel The Hammer and the Dance von Tomas Pueyo.[22] Massentestungen und Isolation könnten den Verlauf der Pandemie deutlich abmildern.

Empfohlen wurden nach Darstellung des Focus auch Kommunikationsstrategien. Einem Vertrauensverlust in die Institutionen müsse man durch größtmögliche Transparenz entgegenwirken.

Die Bundesregierung kommentierte, der Abschnitt des Szenarienpapiers zur Schockwirkung spiegele die Ansicht des verantwortlichen Mitautors und nicht die der Bundesregierung wider. Auch die dargestellte Denkweise eines Teils der Bevölkerung („Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher“) sei ebenso wie der Vorschlag zum Einsatz von Big Data und Location Tracking lediglich eine Autorenmeinung, die Corona-Warn-App habe einen anderen Charakter.[14]

In den Medien wurde das Strategiepapier anders dargestellt. Die taz ging mit der Überschrift der ersten Mitteilung davon aus, dass sich die Regierung weitgehend von den Empfehlungen für das worst-case scenario leiten ließ: Schockwirkung erwünscht. Im Kampf gegen Corona setzt das Ministerium Horst Seehofers auf Massentests und Tracking. Und auf eine härtere Kommunikationsstrategie.[8]

Heinz Bude wurde für seine soziologischen Auffassungen hinsichtlich der Strategien zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie teilweise kritisiert. In einem Gespräch an der Universität Graz erläuterte Bude am 24. Januar 2024, sie hätten gesagt, sie hätten „ein Modell finden müssen, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist.“ Und das sei diese Formel „Flatten the curve“ gewesen. „Wir sagen denen, es sieht so nach Wissenschaft aus, ne?“[23][24]

In dem Aufsatz Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie stellte er 2022 seine teilnehmenden Beobachtungen bei der Pandemieberatung dar.[25]

Laut Svenja Flaßpöhler (Philosophin), Elisa Hoven (Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig), Frauke Rostalski (Rechtswissenschaftlerin und Philosophin) sowie Juli Zeh (ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg) offenbaren die RKI-Protokolle und das Strategiepapier „ein äußerst zweifelhaftes Verständnis der Politik von ihrer Rolle und ihrem Verhältnis zu den Bürgern“.[26][27]

Einzelnachweise

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  1. laut Heinz Bude, in: Bude_SOZIOLOGIE_Heft3_2022.pdf
  2. Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen. (fragdenstaat.de) Abgerufen am 3. März 2024.
  3. Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen. (PDF) abgeordnetenwatch.de, abgerufen am 8. März 2024.
  4. STO: Covid-19-Szenarienpapier vom Frühjahr 2020. Abgerufen am 3. März 2024.
  5. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Jörg Schneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/27388 – Internes Corona-Papier des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat aus dem Jahr 2020. (PDF) dserver.bundestag.de, 29. März 2021, abgerufen am 8. März 2024.
  6. https://soziologie.de/fileadmin/user_upload/zeitschrift/volltext
  7. Heinz Bude: Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie SOZIOLOGIE, 51. JG. HEFT 3, 2022, S. 245–255 https://soziologie.de/fileadmin/user_upload/zeitschrift/volltexte/Bude_SOZIOLOGIE_Heft3_2022.pdf
  8. a b c Malte Kreutzfeldt: Strategiepapier des Innenministeriums: Schockwirkung erwünscht. In: Die Tageszeitung: taz. 28. März 2020, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 7. März 2024]).
  9. Das interne Strategiepapier des Innenministeriums zur Corona-Pandemie | abgeordnetenwatch.de. Abgerufen am 7. März 2024.
  10. Corona-Strategie des Innenministeriums: Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen. 1. April 2020, abgerufen am 7. März 2024.
  11. Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen. Bundesministerium des Innern und für Heimat, 28. April 2020, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. November 2020; abgerufen am 11. August 2024.
  12. Tim Röhn: Corona-Expertenrat: Das Innenministerium und der Germanist - WELT. 23. Februar 2021, abgerufen am 1. April 2024.
  13. https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/corona-strategiepapier-auf-twitter-preist-er-mao-an-wie-fachfremder-china-fan-zum-deutschen-pandemie-berater-wurde_id_13008614.html
  14. a b Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Uwe Schulz, Joana Cotar, Dr. Gottfried Curio, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/19742 – Strategiepapier des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“. (PDF) dserver.bundestag.de, 23. Juni 2020, abgerufen am 8. März 2024.
  15. https://www.researchgate.net/publication/339721905_Learning_from_Wuhan_-_there_is_no_Alternative_to_the_Containment_of_COVID-19
  16. Christoph Bernet: «Schockwirkung erzielen» - Wie ein Germanistik-Doktorand und Mao-Bewunderer aus Lausanne zum Corona-Berater der deutschen Regierung wurde. 22. Februar 2021, abgerufen am 1. April 2024.
  17. Michael Vosatka: Mao-Fan verfasste radikale Corona-Strategie für deutsches Innenministerium. In: Der Standard. Abgerufen am 1. April 2024 (österreichisches Deutsch).
  18. STO: Covid-19-Szenarienpapier vom Frühjahr 2020. Abgerufen am 3. März 2024.
  19. https://soziologie.de/fileadmin/user_upload/zeitschrift/volltexte/Bude_SOZIOLOGIE_Heft3_2022.pdf, S. 250
  20. Christoph Prantner: Corona: Die Szenarien des deutschen Innenministeriums. In: Neue Zürcher Zeitung. 5. April 2020, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 3. März 2024]).
  21. Florian Reiter: „Wie bekommen wir Corona in den Griff?“ | Internes Papier aus Innenministerium empfahl, den Deutschen Corona-Angst zu machen. focus.de, 11. April 2020, abgerufen am 8. März 2024.
  22. Tomas Pueyo: Coronavirus: The Hammer and the Dance. In: Medium. 28. Mai 2020, abgerufen am 6. März 2024 (englisch).
  23. Corona-Aufarbeitung: Einblicke in die zynische Welt der „Angstkommunikation“ - WELT. 22. März 2024, abgerufen am 5. Mai 2024.
  24. "Gesellschaft im Ausnahmezustand - Was lernen wir aus der Coronakrise?" Abgerufen am 5. Mai 2024 (deutsch).
  25. Heinz Bude: Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie, Soziologie, 51, H 3, 2022, S. 245–255. Mit Erwiderung von: Klaus Kraemer: Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten? Eine Entgegnung auf Heinz Bude, 52, H 1, 2023, S. 7–25.
  26. epd, BLZ: Juli Zeh fordert Aufarbeitung der Corona-Politik: „Einschüchterung, Manipulation, falsches Framing“. In: Berliner Zeitung. Berliner Verlag, 8. August 2024, abgerufen am 11. August 2024.
  27. Svenja Flaßpöhler, Elisa Hoven, Frauke Rostalski, Juli Zeh: RKI-Protokolle | Wir müssen die Corona-Jahre endlich aufarbeiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 7. August 2024, abgerufen am 11. August 2024.