Benutzer:Costafoonix/Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen

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Das Studium der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen (Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Sehens, Blindenpädagogik und Sehbehindertenpädagogik) befasst sich mit den Lebensbedingungen von Menschen mit Blindheit, Sehbehinderung oder Sehmehrfachbeeinträchtigung (eine Sehbeeinträchtigung in Verbindung mit einer weiteren Beeinträchtigung). Eine solche Einschränkung des Sehvermögens liegt vor, wenn die über den visuellen Sinneskanal gewonnenen und über andere Sinneskanäle ergänzten verwertbaren Reize nicht ausreichen, um mindestens alle handlungsrelevanten visuellen Informationen zu rekonstruieren.[1] Mögliche Folgen sind Beeinträchtigungen der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft, die sich in der Wechselwirkung aus der Einschränkung des Sehvermögens und den einstellungs- und umweltbedingten Barrieren ergeben.

Kategorien „Blindenpädagogik“ und „Sehbehindertenpädagogik“

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Getrieben vom Geist der Aufklärung versuchten die Pioniere der „frühen Blindenpädagogik“ bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts systematisch die Bildungsfähigkeit blinder Kinder nachzuweisen und gründeten erste „Blindenschulen“. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass diese Bildungseinrichtungen auch von sehbehinderten Lernenden – also von sehbeeinträchtigten Lernenden mit verwertbarem Sehvermögen – besucht wurden, kam es erst Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer expliziten didaktischen Differenzierung zwischen „nicht-Sehen“ und „wenig-Sehen“, die in der fachlichen Abspaltung der „Sehbehindertenpädagogik“ mündete. Erst in den 1990er Jahren wurde diese institutionelle Spaltung auf den Ebenen der Schulorganisation (Schularten) und der akademischen Ausbildung der Lehrkräfte allmählich überwunden und schließlich mit der Einführung des „Förderschwerpunkts Sehen“ durch die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 1998 beendet.[2]

Die durch die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) angestoßenen Veränderungen im Umgang mit Behinderung führten in allen sonderpädagogischen Fachrichtungen zu einer kritischen Revision der Selbstbezeichnungen. Behinderungen und Beeinträchtigungen sollten nicht länger substantiviert verwendet werden, um das Individuum in all seiner Komplexität nicht auf diese eine zugeschriebene Eigenschaft zu reduzieren. Demgemäß soll fortan nicht mehr von „Behinderten“, sondern von „Menschen mit Behinderung“ und von „blinden Menschen“ oder „Menschen mit Sehbeeinträchtigung“ anstatt von „Blinden“ gesprochen werden. Insbesondere im pädagogischen Kontext wurde auch die Verwendung sozialrechtlicher Zuschreibungskategorien kritisch bewertet, wenn sich ihr Zweck in einer reinen Diagnostik ohne konkreten pädagogischen Nutzen erschöpfte.

Da nun aber genau sozialrechtliche Zuschreibungskategorien wie Blindheit, Hochgradige Sehbehinderung und Sehbehinderung vor allem zur Begründung von Ansprüchen auf Sozialleistungen und Privilegien (Blindengeld, steuerliche Freibeträge, zusätzliche Urlaubstage etc.) dienen und nicht didaktisch motiviert sind, haben inzwischen einige sonderpädagogische Forschungs- und Lehreinrichtungen ihre Fachrichtungsbezeichnungen geändert. Mit den Bezeichnungen „Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen“ oder „Pädagogik bei Beeinträchtigung(en) des Sehens“ wird den beschriebenen Paradigmenwechseln Rechnung getragen, die situative und relative Wirkung von Beeinträchtigungen jenseits des Sozialrechts betont und die Überwindung der fachinternen Kategorienbildung im Anschluss an die KMK vollendet.

Inhalte des Studiums

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Die Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen als Fachwissenschaft importiert zum einen Inhalte und Methoden aus der allgemeinen Pädagogik, den allgemeinen Fachdidaktiken, der Medizin, der Psychologie, der Soziologie und diversen anderen Bezugswissenschaften und generiert daraus einen eigenen Methodenkanon zur Individualisierung von Lern- und Beratungsprozessen für Lernende mit Sehbeeinträchtigung. Dieser Methodenkanon stellt einen wesentlichen Teil des Studiums dar. Auf der anderen Seite verfügt die Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen über diverse substanzielle Forschungsgegenstände wie eigene Kulturtechniken (Brailleschrift, taktile Kunst, Hilfsmittel etc.), Kompensations- und Substitutionskonzepte zur Realisierung von Zugänglichkeit und Barrierefreiheit, ein gewachsenes historisches Fundament sowie komplexe Sozialisations- und Institutionalisierungsprozesse („Blind culture“, Komplexeinrichtungen für blinde Menschen etc.), die der partikulären wissenschaftlichen Aufmerksamkeit bedürfen. Diese Aspekte bieten ausreichend Raum für Vertiefung und lernendes Forschen und unterstützen die Studierenden die notwendige Außensicht und Distanz zu den praktischen pädagogischen Handlungsfeldern zu generieren. Die Inhalte des Studiums der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen lassen sich konkret auf ganz unterschiedliche Art und Weise gliedern.

Aus der Perspektive der akademischen Sonderpädagogik können die Inhalte wie bei allen anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen in folgende Bereiche gegliedert werden: Allgemeinen Heil-, Sonder- und Inklusionspädagogik, Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen und Bezugswissenschaften, Didaktik im Förderschwerpunkt Sehen sowie Psychologie im Förderschwerpunkt Sehen einschließlich Förderdiagnostik (§ 98a LPO I Bayern).

Eine weitere Gliederung ergibt sich entlang der Schwerpunkte des Spezifischen Curriculums für Bildung, Erziehung und Rehabilitation blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher in einer inklusiven Schule in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, das vom Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V. (VBS) 2011 veröffentlicht wurde: Förderung des Sehens; Wahrnehmung und Lernen; Orientierung und Mobilität, Lebens- bzw. alltagspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, Bewegung; Technische Hilfsmittel; Lebensplanung, Berufsorientierung, Freizeitgestaltung; Soziale Kompetenz.

Schließlich könnte eine Gliederung auch entlang der unterschiedlichen institutionalisierten pädagogischen Handlungsfelder im Kontext Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen erfolgen, die naturgemäß unabgeschlossen bleiben muss: Frühförderung, Schule und Bildung, Berufliche Teilhabe, Berufliche Rehabilitation, Sehen im Alter, Organisierte Selbsthilfe, „Blindenseelsorge“, Medien und Technologien, Forschung, Kunst und Kultur (Sport, Reisen, Hunde, Computerspiele, Kochen etc.) etc.

Didaktische Kategorien „primär visuelle Orientierung“ und „primär taktile Orientierung“

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Während die institutionelle Spaltung der Fachrichtung inzwischen überwunden wurde, bleiben die Überlegungen die zu dieser Spaltung geführt haben, naturgemäß wirksam. Die Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen vereint demgemäß nach wie vor eine ganze Reihe didaktischer und diagnostischer Ansätze, welche sowohl intentional, inhaltlich als auch methodisch deutliche Unterschiede aufweisen.

In Bezug auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten liefert das Sehen im Vergleich zu anderen Sinnessystemen quantitativ mehr und qualitativ nicht ersetzbare Reize. Eine Kompensation dieser fehlenden Reize ist daher nur mit Zeit- oder Informationsverlust möglich. Zudem besteht die Schwierigkeit, dass sich die kognitive Entwicklung lediglich an den wahrgenommenen Reizen orientieren kann. Sehen ist also nicht nur bei der Gewinnung von Informationen von Bedeutung, sondern auch für die Entwicklung der Hirn- und Denkstrukturen. Eine Sehbeeinträchtigung wirkt sich daher besonders negativ in den ersten Lebensjahren aus, da genau in dieser Zeit wesentliche Hirn- und Denkstrukturen entstehen. Vor diesem Hintergrund lassen sich Sehbeeinträchtigungen grob in folgende Unterkategorien einteilen.

Die erste Unterscheidung ergibt sich hinsichtlich des Vorhandenseins eines tatsächlich verwertbaren Sehvermögens. Beispielsweise können bereits minimale Hell-Dunkel-Seheindrücke erhebliche Vorteile in der Organisation des Alltags bieten: Das Erkennen der Konturen von Türen und Fenstern in einem Raum ermöglicht eine grobe Orientierung und Einschätzung der Raumverhältnisse. Das Erkennen einer Gehsteigkante oder der Ecken eines Zebrastreifens kann das Halten der Laufrichtung oder das Überqueren einer Straße erleichtern. Kochen kann durch ein marginales Sehvermögen, insbesondere durch die Verwendung kontrastreicher Küchenutensilien, vereinfacht werden. Hierdurch wird deutlich, dass zwischen dem verwertbaren Sehvermögen und dem sich daraus ergebenden alltagspraktischen Nutzen kein linearer Zusammenhang besteht. Mit zunehmendem Sehvermögen potenziert sich der alltagspraktische Nutzen, was also eine möglichst frühe und nachhaltige Wahrnehmungsförderung zu einer Kernaufgabe der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen macht.

Die zweite Unterscheidung bezieht sich auf den Zeitpunkt der Entfaltung der Sehbeeinträchtigung, der beispielsweise auch aus sozialer Perspektive von Bedeutung ist. Besteht die Zuschreibung der Sehbeeinträchtigung bereits von Geburt an, reift im heranwachsenden Kind erst allmählich die Erkenntnis, dass es anders ist. Das Kind muss erst mühsam die Behinderung in das eigene Gefühl der Normalität integrieren (akkommodieren), um so das merkwürdige Verhalten des Umfelds sich selbst zu erklären. Demgegenüber stehen Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens die Zuschreibung erfahren haben und somit ursprünglich als unbehinderter Mensch sozialisiert wurden. Hier besteht der psychische Anpassungsprozess vor allem in der Verhandlung der eigenen Einstellungen, Vorstellungen und Vorurteile mit den neuen äußeren Umständen (Assimilation).

Wird nun das vollständige Fehlen von verwertbarem Sehvermögen mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Sehbeeinträchtigung kombiniert (umgangssprachlich Geburtsblindheit), ergibt sich die aus didaktischer Perspektive wichtigste Unterscheidung. Menschen, die ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten ohne verwertbares Sehvermögen ausbilden und auch nicht in ihren Erinnerungen auf Seheindrücke zurückgreifen können, entwickeln abweichende Vorstellungen von Konzepten wie Raum, Zeit, Ursache und Substanz, insbesondere von räumlichen Dimensionen, von Farben und bestimmten Bewegungsabläufen oder auch gegenständlichen Dingen wie dem Himmel oder Landschaften.[3] Zahlreiche dieser Konzepte erfordern sehr spezifische und zeitaufwendige Lernwege und führen im Ergebnis häufig nicht zum alltagsüblichen Verständnis, sondern lediglich zu bestimmtem Faktenwissen, um „mitreden“ zu können. Abhängig davon wie erfolgreich diese Wege beschritten werden, können sich erhebliche Einschränkungen im Zugang zum Verständnis der Welt ergeben. Beispielsweise können Eigenschaften wie Transparenz oder Reflexion ohne erinnerbare Seheindrücke vermutlich überhaupt nicht erschlossen werden, weshalb gelernt werden muss, dass es Materialien gibt, durch die Menschen trotz haptischer Barriere hindurchsehen können und dass die glatten, tastbaren Wände des eigenen Bürokubus zuerst hinsichtlich dieser Eigenschaft geprüft werden sollten, bevor die Beine hochgelegt werden.

Neben dem verfügbaren Sehvermögen beeinflussen eine ganze Reihe weiterer Faktoren die effektiven Beeinträchtigungen, die nicht unmittelbar mit der Sehbeeinträchtigung in Beziehung stehen müssen. Ein mächtiger indirekter Faktor sind mögliche andere Behinderungen, die in Kombination mit einer Sehbeeinträchtigung auftreten. Beispielsweise können eine Sehbeeinträchtigung und eine Geistige Behinderung zusammenwirken, wodurch ein eigenes didaktisches Aufgabenfeld entsteht, welches die Schnittmenge der Bedürfnisse beider Beeinträchtigungen, sowie eine ganze Reihe spezifischer sekundärer Bedürfnisse vereint. Eine weitere Kombination stellt die Taubblindheit (Hör-/Sehbeeinträchtigung) dar, bei der neben dem Seh- auch das Hörvermögen beeinträchtigt ist. Innerhalb dieses didaktischen Aufgabenfelds gibt es beispielsweise in Ermangelung von Alternativen eigene Kommunikationsformen (z. B. Lormen) die so spezifisch sind, dass sie nicht nur von unbehinderten Menschen, sondern auch von Menschen mit ausschließlicher Seh- oder Hörbeeinträchtigung isolieren können.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aus didaktischer und diagnostischer Sicht zwischen einer primär visuellen und einer primär taktilen Orientierung unterschieden werden muss. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, ob ein Person einen Schlüsselbund durch das Heranführen an die Augen oder ausschließlich mithilfe der tastenden Finger erkundet. Primär taktil orientierte Lernende werden im englischsprachigen Raum manchmal als "educationally blind" betrachtet, was mögliche pädagogische Implikationen durchaus treffend auf den Punkt bringt. Im zweiten Fall bedarf es dann der zusätzlichen Unterscheidung, ob verwertbare Seheindrücke aus der Erinnerung abgerufen werden können oder ob sich die Wahrnehmung ohne verwertbare Seheindrücke entwickelt.

Alleinstellungsmerkmale gegenüber anderen Förderschwerpunkten

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Sehbeeinträchtigungen sind nicht milieuspezifisch. Menschen mit Sehbeeinträchtigung bilden in den Industriestaaten im Prinzip eine Miniaturabbildung der Gesellschaft mit all ihren Eigenheiten und Einfältigkeiten, mit ihren unterschiedlichen familiären, sozialen, kulturellen, religiösen und finanziellen Hintergründen und dem vollen Spektrum an sympathischen, erträglichen und unerträglichen Charakteren.

Innerhalb der Gruppe sehbeeinträchtigter Menschen findet sich außerdem die volle Bandbreite an allgemeinen kognitiven und physischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dies ist beispielsweise bedeutsam, da entgegen der Alltagsvorstellung Menschen mit Sehbeeinträchtigungen nicht a priori über ein besseres Gehör, einen ausgeprägten Tastsinn oder ein leistungsstarkes Kurzzeitgedächtnis verfügen,[4] durch die viele Kompensationsleistungen erst möglich werden. Da die Effektivität dieser Kompensationsleistungen in hohem Maße von fortwährender Übung und gezielter Förderung abhängt, sind Menschen mit ausgeprägten allgemeinen kognitiven und physischen Fähigkeiten und Fertigkeiten klar im Vorteil, da Übung und Förderung besser wirken wird.

Auch hinsichtlich der Effektivität der didaktischen Ansätze ergeben sich im Vergleich zu anderen Förderschwerpunkten Besonderheiten. Häufig lässt sich die Wirkung einer Sehbeeinträchtigung situativ erstaunlich gut kompensieren und das obwohl die Herangehensweise vollkommen verschieden vom üblichen Vorgehen unbehinderter Menschen ist. Geübte Braille-Lesende können ihren Kindern genauso wie unbehinderte Menschen eine lebhafte Gutenachtgeschichte vorlesen – sogar bei ausgeschaltetem Licht. Mithilfe der passenden Hilfsmittel und einem Online-Banking Account kann eine versierte, blinde Person im Ergebnis genauso gut das Vereinskonto des Fußballfanclubs oder das ingame-Konto einer MMORPG-Gilde führen wie alle anderen, die dazu in der Lage wären. Durch eine sehende Begleitung gibt es faktisch keine architektonischen Barrieren und auch alpines Skifahren oder Bergsteigen funktioniert bei ausreichendem Wagemut.

Das Spektrum der Art und Wirksamkeit pädagogischer Möglichkeiten ist dementsprechend in der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen breit und häufig auch effektiv. Damit sich pädagogische Fachkräfte in diesem Spektrum bewegen können, benötigen sie ein hohes Maß an situativer Kreativität, Spontaneität, Mut für Neues, Empathie und natürlich auch viel Frustrationstoleranz. Daraus ergibt sich aber auch ein breites Spektrum an möglichen Erfolgserlebnissen, welches die gute pädagogische Arbeit spiegelt: Vertrauen und gemeinsames Wachsen, die spürbare Wirkung der geplanten und durchgeführten Interventionen, deutliche Erweiterungen der Handlungsspielräume, schulische und berufliche Spitzenleistungen etc. und manchmal sogar das belebende Gefühl, eine andere Person mit dem eigenen Tun zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Art und Weise unterstützt zu haben.

Eine letzte Besonderheit, die in dieser naturgemäß nicht vollständigen Charakterisierung genannt werden soll, ist die Tatsache, dass sich Sehbeeinträchtigungen in vielen sozialen Situationen relativ gut verbergen lassen. Während ein Rollstuhl, fehlende Körperteile oder behinderungsspezifische Gesichtszüge unmittelbar für sich sprechen und viele Sprach-, Sprech- und Hörbeeinträchtigungen genau in den überwiegenden Sprechphasen der sozialen Situationen kaum zu verbergen sind, müssen sehbeeinträchtigte Menschen vor allem in den Situationen dazwischen Informationskontrolle (Formulierung von Erving Goffman) betreiben, da Sprechphasen relativ gut beherrschbar sind.

Einfach sind dabei Situationen mit relativ engen und eindeutigen Verhaltensnormen, die systematisch erlernt werden können. Beispielsweise stellen bereits passende Körperhaltungen, eingeübte Bewegungsroutinen und eine beherrschte Gestik und Mimik beim Sitzen im Bus, in der Kirche oder am Konferenztisch einen behaglichen Mantel der Normalität dar. Schwieriger sind hingegen Situationen, die durch Normen mit relativ großem Spielraum der persönlichen Ausgestaltung strukturiert sind.[5] Hierzu gehören beispielsweise Situationen des Kennenlernens, der Selbstbedienung an einem Buffet, des Wiedererkennens anderer Personen auf der Straße, des Orientierens in fremden Umgebungen etc. Hier wird ein fallweise situationsangemessenes Verhalten notwendig, bei dem gewonnene Informationen unmittelbar in das weitere Verhalten eingebaut werden müssen, die aber in der Regel nicht beschafft werden können.

Wie aufwendig und kompliziert solche Strategien sind, zeigt folgendes Beispiel: Helium hat Neon auf einer Dating-Plattform kennengelernt und seine Sehbeeinträchtigung listig verschwiegen. Vor dem ersten Date gilt es nun für Helium noch einige Schwierigkeiten zu lösen. Er muss den Bildern auf der Dating-Plattform möglichst ähnlich sehen, damit er von Neon erkannt wird, weil er Neon sicher nicht erkennen wird. Er muss mindestens 30 Minuten vorher da sein, damit Neon zu ihm an den Tisch kommen muss und er nicht an ihr vorbeiläuft. Er muss bereits am Tag vorher oder im Internet die Speisekarte ausführlich studieren, damit er dies nicht im Beisein von Neon tun muss. Früher hat Helium einfach immer das gleiche wie das Date bestellt, was nun aber seit seiner Entscheidung vegan zu leben nicht mehr funktioniert. Ebenfalls am Tag vorher hat er sich schon mal angeschaut wo die Toiletten sind, da er Neon ja schlecht bitten kann, ihn dorthin zu begleiten. Schließlich schaltet er vorsorglich das Smartphone aus, weil das gut ankommt und er somit die Gefahr reduziert, sich versehentlich durch die überdurchschnittlich hohe Annäherung mit seiner Sehbeeinträchtigung zu outen.

Solche sozialen Spiele, die fester Bestandteil der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen sind, bieten offenkundig nicht nur einen weiten Fundes für Anekdoten, sondern schaffen für pädagogische Fachkräfte einen einzigartigen Zugang zum weiten Feld der Komplexität und Individualität einer behinderten oder unbehinderten Persönlichkeit die im sozialen Gefüge zwischen Normalität und Anderssein zum Subjekt wird.

Studienorte im deutschsprachigen Raum

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Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen kann im deutschsprachigem Raum an sieben Studienstandorten studiert werden. Die Angebote der jeweiligen Studienstandorte unterscheiden sich durch Vorgaben der Bundesländer und die lokale Organisation der Forschungs- und Lehreinrichtungen deutlich. Die folgende Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Aktualität, weshalb ausdrücklich auf die weiterführenden Links zu den Angeboten vor Ort verwiesen wird.

Einzelnachweise

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  1. Capovilla, D. & Eulitz, E. (2018) Spielerische haptische Wahrnehmungsförderung bei Kindern mit Blindheit oder einer Beeinträchtigung des Sehens. In Zeitschrift für Heilpädagogik (ZfH), (69) 1/2018. S. 77–83.
  2. Degenhardt, Sven (2020). Die institutionalisierte Bildung blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher: Wurzeln – Höhepunkte – Neuausrichtungen. In A. Leonhardt (Hrsg.) Hören und Sehen: 3. Beiheft Sonderpädagogische Förderung heute, 3, S. 148–167.
  3. Walthes, R. (2014). Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung (3. Aufl.). Basel: Reinhardt UTB.
  4. Röder, B. & Rösler, F. (2004). Kompensatorische Plastizität bei blinden Menschen. Zeitschrift für Neuropsychologie, 15(4), S. 243–264.
  5. Thimm, W. (2006). Behinderung und Gesellschaft: Texte zur Entwicklung einer Soziologie der Behinderten. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Kategorie:Sonderpädagogik Kategorie:Blindheit Kategorie:Sehbehinderung