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Der grüne Heinrich, Erstdruck 1854/55

Der grüne Heinrich ist ein Roman des Schweizer Dichters Gottfried Keller mit stark autobiographischen Zügen. Das vierbändige Werk existiert in zwei Fassungen: Die erste schrieb Keller 1850–55 in Berlin, sie erschien 1853 (Bände I-III) und 1855 (Band IV) im Vieweg Verlag. Die zweite entstand mehr als zwanzig Jahre später in Zürich und wurde 1879/80 bei Göschen verlegt. Obwohl Keller die späte zur maßgeblichen erklärte, wird heute auch die frühe Fassung noch wertgeschätzt, nachgedruckt und von manchen Kritikern der späteren Neuausgabe vorgezogen. Der Roman spielt zur Zeit von Restauration und Vormärz. Sein Titelheld ist ein junger Künstler, Schweizer, der zur Ausbildung nach Deutschland reist, dort aber feststellt, dass er zur Malerei nicht berufen ist. Die erste Fassung endet tragisch mit seinem Tod, in der zweiten überlebt er und findet eine ihm gemäße Lebensaufgabe.

Kellers Grüner Heinrich gilt als eines der bedeutendsten Erzählwerke des deutschsprachigen Realismus. Als Dichtung gehört er mit Wielands Agathon, Goethes Wilhelm Meister, Jean Pauls Titan und Stifters Nachsommer zur Gattung des Bildungsromans, als teilweise Autobiographie – viele Kindheitserlebnisse Kellers, seine abgebrochene Schulbildung und Malerlaufbahn sind darin verarbeitet – steht er mit Rousseaus Confessions und Goethes Dichtung und Wahrheit in der Tradition der Bekenntnis- und Selbstprüfungsschriften.

Allgemeiner Überblick

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Titel und Thema

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Der Protagonist des Romans, Heinrich Lee, wird nach der Farbe seiner Knabenanzüge, die aus den Schützenuniformen seines verstorbenen Vaters angefertigt sind, „grüner Heinrich“ genannt.[1] Er ist das einzige Kind der Handwerkerswitwe Lee, die nach dem frühen Tode ihres Mannes in eingeschränkten Verhältnissen lebt. Ein altes Stadthaus in einem volkreichen Viertel bildet ihre Unterhaltsquelle. Hier wächst Heinrich auf. Frau Lee hält ihren Sohn knapp, erzieht ihn jedoch im Sinne seines Vaters frei, mehr durch Gespräch und Vertrauen als durch Verbot und Strafe. Als er mit vierzehn wegen Beteiligung an einem Schüleraufruhr von der höheren Schulbildung ausgeschlossen wird, unterstützt sie trotz Bedenken ihrer Ratgeber seine Entscheidung, die Künstlerlaufbahn einzuschlagen und Landschaftsmaler zu werden. Thema des Romans ist das Schicksal von Mutter und Sohn als Folge dieser Berufswahl.

Die Jugendgeschichte

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Was für ein Mensch Heinrich ist, erfährt der Leser in beiden Fassungen von ihm selbst. An der Schwelle zu den Mannesjahren – so die Fiktion – greift der junge Künstler zur Feder, um sich sein Werden und Wesen einmal recht anschaulich zu machen.[2] In Ich-Form erzählend, durchlebt er noch einmal Kindheit, Schulzeit, Berufswahl, Künstlerlehre und erste Liebe, eine Doppelliebe, die ihn zur selben Zeit mit der gleichaltrigen, mädchenhaft-zarten Anna und der älteren, fraulich-geheimnisvollen Judith verbindet. Die Erinnerung erfüllt den Schreiber bald mit glückseligen, bald mit reumütigen Empfindungen und lässt ihn den Zweck seiner Tätigkeit, die selbstkritische Rechenschaft vergessen.[2]

Zürich 1835, Schauplatz der Jugendgeschichte des grünen Heinrich

Heinrichs Vaterstadt – als Zürich erkennbar[3] – bietet mit ihren belebten Gassen und Winkeln der Schau- und Nachahmungslust des Knaben reichlich Stoff. Die Schönheit ihrer Lage wirkt früh auf sein Gemüt und seine bildliche Vorstellungskraft:

[…] den duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hinter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist, hielt ich, da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah, lange Zeit für eins mit den Wolken. Als ich später zum ersten Male rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen, ungeheuerlichen Daches saß und die ganze ausgebreitete Pracht des Sees übersah, aus welchem die Berge in festen Gestalten, mit grünen Füßen aufstiegen, da kannte ich freilich ihre Natur schon von ausgedehnteren Streifzügen im Freien; für jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große Berge und mächtige Zeugen von Gottes Allmacht, ich vermochte sie darum nicht besser von den Wolken zu unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte, deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war, wie das Wort Berg.[4]

Charakteristisch für Heinrichs Erzählweise ist der Ernst, mit dem er das kindliche Gefühls- und Gedankenleben behandelt. Aufmerksam verfolgt er die Entstehung seiner Vorstellungen von Gott, der ihm als Schöpfer und Erhalter dieser Welt bezeichnet wird. Im Schöpferischen, in der Erfindung erkennt er die eigene Stärke, zugleich aber auch eine Gefahr für sich: Seine Phantasie, angespornt durch Gehörtes und Gelesenes, geht öfters mit ihm durch und verstrickt ihn in prahlerische Lügengeschichten. Spielgefährten nützen dies aus, verleiten ihn zur Plünderung seines Sparkästchens und zum Schuldenmachen. In der entstehenden Krise bewährt sich seine Mutter und ihr Erziehungsgrundsatz, dem Sohn Wahrhaftigkeit als Grundlage der Selbstachtung einzupflanzen.[5] Heinrich liebt sie dafür und macht sich ihre Maßstäbe zu eigen. Der Erzähler legt von dieser Erziehung Zeugnis ab: Mit geschärftem Gewissen betrachtet er sein eigenes Leben, entdeckt darin Unrecht, das er verübt hat, ohne es zu büßen, aber auch Unrecht, das unterm Schein des Rechts an ihm verübt wurde, wie beim Ausschluss aus der höheren Schule. Über diesen urteilt er: ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen, heißt nichts Anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen. [6]

Heinrich Bilanz verzeichnet nicht wenige Verluste: Den Vater, einen künstlerisch begabten Menschen, Steinmetz von Beruf und Vertreter der geistig und politisch regen Handwerkerschaft seiner Zeit, kennt er fast nur aus Erzählungen; den Maler Römer, dem er nach sinnlos bei einem Pfuscher verbrachten Jahren sein ganzes Können verdankt, verliert er, als bei diesem eine Geisteskrankheit ausbricht; die liebliche Anna, kaum erblüht, wird lungenkrank und stirbt; die resolute Judith wandert aus, als er sich, durch Annas Tod verstört, von ihr lossagt. Dennoch ist der Grundton der Erzählung nicht klagend, geschweige denn anklagend. Dem Erzählenden erscheint die erlebte Zeit schön, gehaltreich und trotz der Entbehrungen glücklich. Er blickt auf das entstandene dicke Manuskript Eine Jugendgeschichte[7] wie auf einen Schatz und lässt es binden.[2]

Stellung der Jugendgeschichte im Roman

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In der ersten Fassung sind der Erzähler der Jugendgeschichte und der Autor des eigentlichen Romans[8] verschiedene Personen. Der Romanautor berichtet in Er-Form vom Schicksal des erwachsenen Künstlers und verantwortlichen Menschen. An passender Stelle fügt er seinem Bericht das Manuskript der Jugendgeschichte hinzu (Herausgeberfiktion). Da dieses gut die Hälfte des Romanumfangs ausmacht, erfährt der Leser die Vorgeschichte des Helden in Form einer weit ausholenden Rückblende.[9] In der zweiten Fassung beginnt der Roman mit der Jugendgeschichte. An der Schwelle zum Alter – so die neue Fiktion – greift Heinrich noch einmal zur Feder und bringt den zweiten Teil seiner Geschichte zu Papier, wie den ersten in Ich-Form (fiktive Autobiographie in zwei Etappen).

Die Jugendgeschichte selbst wird von dieser Veränderung kaum berührt. In beiden Fassungen bildet sie als grün eingebundenes „Buch im Buche“ ein symbolträchtiges Requisit, das den Helden leitmotivisch auf seiner Reise begleitet,[10] von anderen Romanfiguren gelesen wird und indirekt zur Handlung beiträgt.[11] Heinrichs Leibfarbe Grün entfaltet so auch während seines Erwachsenenlebens ihr breites Bedeutungsspektrum: Grün steht für Natur, Pflanzenwuchs, Liebe, Leben, Jugend, Hoffnung, aber auch für Unreife, Narrheit, Vergänglichkeit. Ein recht frisches und grünes Gras wächst in der ersten Fassung auf dem Grab des Helden. Am Ende der zweiten Fassung wandelt Heinrich spät im Leben noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung.

Erwachsenengeschichte und Romanschluss

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1854/55 war der tragische Untergang des Helden für Keller beschlossene Sache: Der gescheiterte Künstler vernachlässigt über seiner Suche nach einem alternativen Lebensziel die Pflichten gegenüber seiner Mutter. Sie stirbt in Ungewissheit über sein Schicksal. Er erkennt seine Schuld, vermag sie nicht zu ertragen und geht daran zugrunde. Dieser Romanschluss verlangte einen Er-Erzähler – ein Ich-Erzähler kann nicht den eigenen Tod melden.

München 1842, Schauplatz der Künstlergeschichte des grünen Heinrichs [12]

Die Romanhandlung beginnt in der Urfassung mit dem Aufbruch des kaum zwanzigjährigen, halbfertigen Künstlers aus seiner Vaterstadt. Geschildert wird seine Reise nach Deutschland, seine erste Bekanntschaft mit Deutschen und – durch die Mitteilung der Jugendgeschichte überlang unterbrochen – sein Eintauchen ins Leben einer großen Stadt mit königlicher Akademie und Universität, leicht als München erkennbar. Der Kunstschüler erweitert seinen Horizont im Verkehr mit befreundeten Malern und nimmt mit ihnen an einem großen Maskenzug und Kostümball teil. Dieses Künstlerfest hat ein schlimmes Nachspiel: Heinrich, noch im grünen Narrenkleid, duelliert sich mit einem Freund und fügt ihm eine schwere Verletzung zu. Tief beunruhigt kehrt er an seine Staffelei zurück. Dort wird ihm klar, dass er kein Landschaftsmaler, ja überhaupt kein Künstler ist, sich viel mehr für die Stellung des Menschen in Natur und Gesellschaft, für Geschichte, Staat und Recht interessiert. Abermals weitet sich sein Horizont, begierig auf Kenntnisse mischt er sich unter die studierende Jugend und besucht Vorlesungen.

Doch seine Mittel sind verbraucht und die kargen Ersparnisse, die ihm seine Mutter zuwendet, reichen gerade hin, die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen. Der Erzähler schildert Heinrichs Bemühen um Erwerb; sein Missgeschick beim Versuch, Ideenreichtum in verkäufliche Bilder umzusetzen; seine Bekanntschaft mit dem Hunger, welcher ihn zwingt, alles was er an Naturstudien besitzt, die Arbeit vieler Jahre, stückweise an einen Trödler zu verschleudern; seine vom Heimweh diktierten Tag- und Nachtträume; seine Scham über die anhaltende Erfolglosigkeit, seine Furcht vor einer demütigenden Rückkehr und seine Scheu, der Mutter, die ihn sehnlich erwartet, Nachricht von sich und seinen Umständen zu geben. Zuletzt, in aussichtsloser Lage, macht der Gescheiterte sich fluchtartig auf die Heimreise.

Wanderer vor drohendem Regenschauer. Aquarell von Gottfried Keller (1842)[13]

Da scheint sich sein Glück zu wenden. Unterwegs wird der durchnässte und erschöpfte Fußwanderer von den Bewohnern eines Schlosses aufgenommen. Man erkennt in ihm den Urheber des Bilderschatzes, den der kunst- und menschenfreundliche Schlossherr, ein deutscher Graf, beim Trödler erworben und gesammelt hat. Man erinnert sich, ihm schon einmal begegnet zu sein, als er vor Jahren hoffnungsvoll nach der Kunststadt reiste, nimmt Anteil an seinem Schicksal, liest sein grünes Buch und gewinnt ihn dafür lieb. Um ihn im Guten mit der Malerei abschließen zu lassen, erteilt der Graf ihm einen Auftrag. Die Arbeit an den bestellten Bildern, die geistreiche Geselligkeit der Schlossbewohner, Gespräche über die Philosophie Ludwig Feuerbachs, die seinen Glauben an Gott und Unsterblichkeit erschüttern, mehr aber noch die aussichtslose Liebe zu Dorothea, der Pflegetochter des Grafen, halten Heinrich länger fest, als er es seiner Mutter gegenüber verantworten kann. Endlich reißt er sich los und kehrt, reich mit Mitteln versehen, nach siebenjähriger Abwesenheit in die Schweiz zurück, just zum Zeitpunkt, als dort die politischen Verhältnisse in Bewegung geraten. Die Aussicht, als Spiegel seines Volkes an der staatlichen Umgestaltung seiner Heimat mitzuwirken,[14] begeistert ihn. In der Überzeugung, endlich seinen wahren Beruf gefunden zu haben, nähert er sich der Vaterstadt.

Dort aber begegnet ihm als Erstes ein Leichenzug. Er erfährt, dass es seine Mutter ist, die man zu Grabe trägt. Sie ist im Elend gestorben. Der Verlust ihres Hauses, das Ausbleiben von Heinrichs Lebenszeichen und Zweifel, ob sie Unrecht getan, alles an die Ausbildung und gemächliche Selbstbestimmung ihres Sohnes zu setzen,[15] haben ihre Lebenskraft gebrochen. Heinrich muss erkennen, dass er bei seinem aufrichtigen Streben nach Bildung und Selbstfindung grundlegende menschliche Pflichten versäumt und ihr trostloses Ende verschuldet hat. So war nun der schöne Spiegel, welcher sein Volk widerspiegeln wollte, zerschlagen.[16] Das Gefühl, sein Leben vertan, seine Zukunft verspielt und sein Recht auf Glück verloren zu haben, reibt ihn auf und er stirbt. – Keller über diesen Schluss an seinen Verleger:

„Da er im Grunde ein ehrenhafter und nobler Charakter ist, so wird es ihm nun unmöglich, auf den Trümmern des von ihm zerstörten Familienlebens eine glückliche und wirkungsreiche Stellung im bürgerlichen Leben einzunehmen. Das Band das ihn nach rückwärts an die Menschheit knüpft, scheint ihm blutig und frevelhaft abgeschnitten, und er kann deswegen auch das lose halbe Ende desselben, das nach vorwärts führt, nicht in die Hände fassen, und dies führt seinen Tod herbei.“[17]

Hauptunterschiede zur zweiten Fassung

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Druckvorlage zum Titelblatt von 1879. Eintrag „Neue Ausgabe“ und Streichungen von Kellers Hand

Die Tragik des Romanschlusses ist in der Zweitfassung gemildert: Die Mutter erblickt auf dem Sterbebett noch einmal den verloren geglaubten Sohn, für Heinrich ein Trost, der ihm hilft, die unvermindert schwer empfundene Schuld zu ertragen. Er bewirbt sich um ein öffentliches Amt, bewährt sich darin, wird seines Lebens jedoch erst wieder froh, als Judith aus Amerika zurückkehrt. An ihrer Seite findet er ein spätes Glück. Er schenkt ihr das grüne Buch, erhält es nach ihrem Tode zurück und fügt ihm die Fortsetzung seiner Geschichte hinzu.

Diese Veränderungen ermöglichten es Keller, den Erzählfluss einheitlich und natürlich zu gestalten. Alle Geschehnisse sind nun aus der Perspektive der Hauptfigur in Ich-Form wiedergegeben. Der Roman beginnt ohne Vorwort mit der Jugendgeschichte. Deren Niederschrift, sorgfältig motiviert, findet erst statt, als Heinrich nach längerem Aufenthalt in der Kunststadt sich durch die Not veranlasst sieht, über sein bisheriges Leben nachzudenken.[2] Trotz vieler Korrekturen (und Streichung mancher Schönheiten)[18] blieb die Substanz der Jugendgeschichte erhalten, ebenso ihre Funktion als handlungsförderndes Requisit. Der Dichter hat diese noch unterstrichen, indem er dem Buch im Reisegepäck seines Helden einen Totenschädel zugesellte. Beide Gegenstände zusammen ergeben ein vielgebrauchtes malerisches Sinnbild der Vergänglichkeit.

Vanitas-Allegorie, Adriaen van Utrecht 1642

Auch sonst zeugt die Neugestaltung des zweiten Teils von ungebrochener Erfindungskraft. Die einheitliche Ich-Erzählung löst den Leser vom Gängelband des auktorialen, „allwissenden“ Erzählers. Urteile des Romanautors über Heinrichs Charakter und seine Malerei relativierte Keller, indem er sie dessen Künstlerfreunden in den Mund legte. Die Duellszene nimmt eine überraschende, unblutige Wendung. In neuen Episoden begegnen neue Figuren, an den Totenschädel knüpfte der Dichter eine Novelle, von der aus Licht auf Heinrichs Zwiespalt in Liebesangelegenheiten fällt. Jedes der nunmehr 70 Kapitel trägt eine einprägsame Überschrift. Der Roman erschien 1879/80 gleichwohl unter dem alten Titel,[19] doch trug Keller Sorge, dass auf dem Titelblatt der Vermerk Neue Ausgabe gedruckt wurde.

Entstehung und Bedeutung des Romans

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„Die Moral meines Buches ist, daß derjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen.“[17] So der dreißigjährige Keller an seinen Verleger. Mit der Entscheidung, den grünen Heinrich weiterleben und seine unter so großen Nöten gefundene Bestimmung erfüllen zu lassen, gab der sechzigjährige Keller einem alten Wunsch seiner Leser und Freunde nach.[20] Zugleich vollzog er die Anpassung des Romanschlusses an die ihm zugewachsen Lebenserfahrung, welche der rigorosen Moral der Urfassung widersprach: 1861 hatte die Zürcher Regierung den mit über vierzig immer noch mittellosen Schriftsteller in das Amt des Staatsschreibers berufen und ihn durch diese „wirksame und ehrenvolle Stellung“ erstmals befähigt, seiner Familie – Mutter und Schwester – die jahrzehntelang gewährte Unterstützung zu vergelten. 15 Jahre widmete Keller seine Arbeitskraft fast ausschließlich seinem Dienstverhältnis.( → Keller als Staatschreiber).

Das „Fegefeuer“ der ersten Niederschrift

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Das Schicksal des grünen Heinrich hätte Keller selbst zustoßen können; in der Absicht, es von sich abzuwenden, bannte er es zwischen Buchdeckel:

„Ich habe bei diesem Unglücklichen das gewagte Manöver gemacht, daß ich meine eigene Jugendgeschichte zum Inhalt des ersten Theiles machte, um dann darauf den weiteren Verlauf des Romanes zu gründen, und zwar so, wie er mir selbst auch hätte passiren können, wenn ich mich nicht zusammengenommen hätte.“[21]

Bereits 1843 nach seiner Rückkehr aus München, wo er sich zwei Jahre lang ohne äußeren Erfolg als Maler versucht hatte ( → Zu einem Gemälde Kellers), fasste er den Vorsatz, einen traurigen kleinen Roman zu schreiben über den Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn, an welcher Mutter und Sohn zugrunde gingen.[22] Bis zur Ausführung verging über ein Jahrzehnt. Noch einmal täuschte sich Keller über die Richtung seiner Begabung: er wollte Dramatiker werden und zog deshalb in die Theaterstadt Berlin. Den Grünen Heinrich hoffte er, nebenbei schreiben zu können, und schloss in Geldnot einen Verlagsvertrag, ohne viel mehr ausgearbeitet zu haben als die Anfangskapitel. Doch der Roman wollte sich nicht zu der gewünschten elegisch-lyrischen Miniatur gestalten, mit heiteren Episoden und einem cypressendunkeln Schlusse, wo alles begraben wurde.[22] Unter der schreibenden Hand entwickelte er sich zu einem epischen Gebilde mit ganz eigenen Gesetzen und vom Mehrfachen des geplanten Umfangs. Er brachte seinen Urheber damit in schwere Bedrängnis.

Kellers Berliner Aufenthalt war geprägt durch einen ständigen, brieflich ausgefochtenen Krieg mit seinem Braunschweiger Verleger, bei dem es um Manuskriptlieferungen und Honorarvorschüsse ging. Der Verleger wartete oft monatelang vergeblich auf Manuskript, der Autor auf Geld, um die zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes eingegangenen Schulden zurückzahlen zu können. ( → Kellers Lebensumstände in Berlin). Da mit dem Satz und Druck des Romans auf seinen dringenden Wunsch bereits begonnen hatten, – Keller lebte zeitweilig in der Illusion, ein Wettlauf mit dem Setzer würde seine Produktion steigern –, blieb für Änderungen keine Möglichkeit:

„Könnte ich das Buch noch einmal umschreiben, so wollte ich jetzt etwas Dauerhaftes und Tüchtiges daraus machen. Es sind ein Menge unerträglicher Geziert- und Flachheiten, auch große Formfehler darin; dies alles schon vor dem Erscheinen einzusehen, mit diesem gemischten Bewußtsein auch noch daran schreiben zu müssen, während gedruckte Bände lange vorlagen, war ein Fegefeuer, welches nicht jedem zugute kommen dürfte heutzutage.“[23].

… … …


Die Furcht vor dem Scheitern ist dem Gehalt des Grünen Heinrich so tief eingeschrieben, dass sie auch der endgültigen, gemildert-tragischen Fassung Bedeutung verleiht. Auf den kürzesten Nenner gebracht lautet die Botschaft des Romans an die bildungsbeflissenen Zeitgenossen und die gebildete Nachwelt: Derjenige, der nach Bildung, allseitiger Entfaltung seiner Talente, Selbstverwirklichung strebt, ist in Gefahr, darüber die Gebote einfacher Menschlichkeit außer Acht zu lassen. Sei sein Streben auch so aufrichtig wie das des Heinrich Lee, – wenn er diese Gebote verletzt, droht ihm die persönliche Katastrophe und der Selbstverlust.

… … … →


5 Aspekte des Grünen Heinrich:

Erziehungsroman

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Erotischer Roman

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Politischer Roman

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Philosophischer Roman

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Einzelnachweise

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  1. 1. Fassung Bd. 1 Kap. 7, 2. Fassung Kap. Schuldämmerung. Kapitelüberschriften und wörtliche Zitate (kursiv) nach dem Text der kritischen Keller-Ausgabe von Jonas Fränkel (siehe Literaturverzeichnis). Als Link formatierte Stellennachweise führen zur Paralleltextausgabe von Walter Morgenthaler (Der grüne Heinrich – zwei Fassungen).
  2. a b c d 2. Fassung Kap. Das Flötenwunder. In der 1. Fassung bleibt Heinrichs Motiv undeutlich: er schreibt, um sich vor seiner Reise nach Deutschland die Stunden zu verkürzen (Bd. 3 Kap. 3 Schluss).
  3. Keller verhüllt diese Identität, wenn er in der 1. Fassung Zürich neben Genf und Luzern zwar erwähnt, dann aber fortfährt: Die Zahl dieser Städte aber um eine eingebildete zu vermehren, um in diese, wie in einen Blumenscherben, das grüne Reis einer Dichtung zu pflanzen, möchte tunlich sein (Bd. 1 Kap. 1). In der 2. Fassung bleibt Zürich unerwähnt.
  4. 2. Fassung Kindheit / Erste Theologie / Schulbänklein, fast gleichlautend 1. Fassung Bd. 1 Kap. 5.
  5. 1. Fassung Bd. 1 Kap. 8. In der zweiten Fassung ist die Schatzkästlein-Episode samt Nachspiel auf vier Kapitel verteilt: Die Lesefamilie / Lügenzeit, Waffenfrühling / Frühes Verschulden, Prahler, Schulden, Philister unter den Kindern, Frieden in der Stille / Der erste Widersacher und sein Untergang.
  6. 1. Fassung Bd. 1 Kap. 9, 2. Fassung Kap. Ungeschickte Lehrer, schlimme Schüler.
  7. Zwischentitel (nur in der 1. Fassung Bd. 1 Kap. 4.)
  8. So Keller im Vorwort.
  9. Die Jugendgeschichte beginnt in Bd. 1 Kap.4 Mitte und endet Bd. 3 Kap. 3.
  10. In der zweiten Fassung nur auf der Heimreise; das Manuskript entsteht dort erst während Heinrichs Aufenthalt in der „Kunststadt“ (vgl. Kap. Das Flötenwunder), in der ersten Fassung dagegen schon vor Antritt seiner Wanderschaft (vgl. Bd. 3 Kap. 3 Schluss).
  11. Vgl. 1. Fassung Bd. 3 Kap. 6, Bd. 4 Kap. 10, 2. Fassung Kap. Glückswandel und Dortchen Schönfund.
  12. Anlass der Beflaggung ist eine Fürstenhochzeit. Die mit einer blau-weißen Spirale verzierten Fahnenstangen spielen im Roman eine bedeutende Rolle: 1. Fasssung Bd. 4 Kap. 6, 2. Fassung Kap. Geheimnisse der Arbeit.
  13. Nach Baechtold drückt das Bild die Stimmung des grünen Heinrich auf seiner Fußreise aus (Gottfried Kellers Leben Bd. 1 S. 119).
  14. 1. Fassung Bd. 4 Kap. 14, 2. Fassung Kap. Die Rückkehr und ein Ave Caesar. Der Zeitpunkt vom Heinrichs Heimkehr lässt sich genau datieren: In der ersten Fassung verweilt er sich auf einem politischen Volksfest, der 400-Jahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs, die 1844 in Basel stattfand. In der zweiten Fassung ist stattdessen von einer Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen die Rede, den Freischarenzügen 1844–45, an denen Keller selbst teilnahm.
  15. 1. Fassung Bd. 4 Kap 15.
  16. 1. Fassung Bd. 4 Kap. 15, 2. Fassung Kap. Der Lauf der Welt.
  17. a b An Eduard Vieweg am 3. Mai 1850, In: Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling, Bern 1950–54, Bd. 3.2, S. 15 f.
  18. Über die Auslassung der Szene, in der Judith sich Heinrich nackt zeigt (1. Fassung Bd. 3 Kap. 3), die bereits Theodor Storm bedauerte, weiß sich die Germanistik bis heute nicht zu fassen.
  19. Zeitweilig erwog Keller als neuen Titel „Heinrich Lee“, und „Das Leben des grünen Heinrich“ (Editorische Anmerkungen zur 2. Fassung, Bd. 6, S. 332 der Fränkelschen Ausgabe).
  20. Schon während der Berliner Entstehungszeit hatte ihn der Verleger gebeten, den Helden am Leben zu lassen, ebenso nach dem Erscheinen des Romans Berthold Auerbach, Hermann Hettner und in den 1870er Jahren Emil Kuh, Friedrich Theodor Vischer, Paul Heyse und Theodor Storm. (Vgl. Editorische Anmerkungen zur 2. Fassung, Bd. 6, S. 329–333 der Fränkelschen Ausgabe).
  21. An Hermann Hettner, 4. März 1851, Gesammelte Briefe, Bd. 1., S. 356.
  22. a b Keller 1876 in: Autobiographisches, S. 18.
  23. An Hermann Hettner, 3. August 1853, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 375.