Benutzer:Nescio*/LSR-Projekt
Das LSR-Projekt ist ein ideenhistorisches Projekt, das der Autor Bernd A. Laska 1985 begründete. [1] Es entstand im Gefolge der Theoriediskussionen der 68er über eine Zusammenführung der aufklärerischen Großtheorien von Karl Marx und Sigmund Freud im sog. Freudomarxismus, die in den 1920er Jahren von Wilhelm Reich (1897-1957) begonnen und „1968“, modifiziert vor allem durch Herbert Marcuse, wiederbelebt worden war. In den 1970er Jahren wurde das Interesse an freudomarxistischer Theorie transformiert: Jacques Lacans „neue Lesart“ Freuds und Louis Althussers „neue Lesart“ Marx' gewannen großen Einfluß, indem sie den freudomarxistischen Diskurs unbeachtet hinter sich ließen. Michel Foucaults neuartige Sicht gewann schnell viele Anhänger. Dies und zahlreiche andere Entwicklungen in der politischen Philosophie nach 1945, die im Resultat zu einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) geführt haben, ließen Laska vermuten, dass durch diesen komplexen und chaotischen Prozess der große aufklärerische Impetus des ursprünglichen Freudomarxismus verschüttet, ja „verdrängt“ worden sei.
„Verdrängung“ ist ein zentraler Begriff in den bisher grossteils rezeptionsgeschichtlichen Studien im Rahmen des LSR-Projekts. Zunächst geht es darin um den Nachweis, dass verdrängt wurde, anschliessend um die Erschliessung der Idee, die verdrängt wurde. Den Untersuchungen zu Wilhelm Reich folgten später weitere zu Max Stirner (1806-1856) und schliesslich zu Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) und ihren jeweiligen Umfeldern. Als Akronym der Namen der (chronologisch geordneten) Protagonisten wurde der Name LSR-Projekt gebildet.
Im LSR-Projekt soll gezeigt werden, dass zu den jeweiligen Höhepunkten der neuzeitlichen Aufklärung ein radikal materialistisch-atheistischer Denker auftrat, dessen Ideen von seinen Zeitgenossen – insbesondere von den aufklärerischen Denkern, die für sie empfänglich gewesen sein müssten – „verdrängt“ wurden, d. h. ohne die sonst von ihnen geforderte öffentliche Diskussion übergangen und damit sozusagen totgeschwiegen wurden. Weiterhin soll gezeigt werden, dass nach der Durchsetzung aufklärerischer Ideen und der Aufarbeitung der Ideengeschichte der Aufklärung diese stillschweigende Ächtung – obwohl gut belegt – wiederum übergangen wurde, also „Sekundärverdrängungen“ vorliegen. Die geistesgeschichtliche Relevanz dieser Vorgänge soll dadurch nahegelegt werden, dass in den drei jeweils fast ein Jahrhundert auseinanderliegenden Fällen trotz sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher und philosophischer Kontexte ein in seiner Grundstruktur sehr ähnliches Rezeptionsmuster herauspräparierbar ist – „Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte“ – , das durch eine im Grunde gleiche Idee provoziert wurde.
In dem bisher offenbar weitgehend ausserakademisch durchgeführten LSR-Projekt – im Internet firmiert es seit 1998 als „paraphilosophisches Projekt“ [2] – wird nicht angestrebt, die drei in der Philosophiegeschichte marginalen Autoren La Mettrie, Stirner und Reich zu rehabilitieren. Die Fallstudien zu diesen „Parias des Geistes“ [3] und eine konsequent gegen den Strich gelesene Geschichte der aufklärerischen Philosophie sollen vielmehr einen Impuls „für die Reanimation der paralysierten Aufklärung“ [4] geben. Rezensenten von LSR-Publikationen haben sich sowohl positiv [5] als auch negativ [6] geäussert.
Geschichte des LSR-Projekts
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die bisher in Zeitschriften und Büchern veröffentlichten Arbeiten Laskas sind vorwiegend rezeptionsgeschichtliche Studien, die, oft mit großer Akribie, Zusammenhänge näher erforschen, die in der etablierten Philosophiegeschichte - das zeigen schon die Namen der drei Protagonisten - normalerweise kaum Beachtung finden. Es geht dabei aber offenbar auch, wahrscheinlich sogar in erster Linie, um Inhaltliches, denn über die Gründe, die den Konflikt zwischen Freud und Reich provozierten, führte der Weg zu den beiden anderen Konflikten, die im LSR-Projekt thematisiert werden und deren Analyse laut Laska geeignet sein soll, "die seit Mitte des 20. Jh. paralysierte europäische Aufklärung neu zu beleben." Um den Vorwurf des ahistorischen Vorgehens zu konterkarieren, betont Laska die strukturellen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten der drei Konflikte, die jeweils durch ein Jahrhundert getrennt stattfanden. Strukturell seien die Konflikte durch den Vorgang der "Verdrängung" gekennzeichnet, der sowohl psychologisch (bei den Protagonisten) als auch ideenpolitisch (bei deren Theorieproduktion) zu fassen sei – was an den unten dargestellten Beispielen klarer wird. Worum es in den drei Konflikten inhaltlich ging, erscheint nur im Ansatz ausgearbeitet und kann nur nach dem gegenwärtigen Stand des LSR-Projekts darzustellen versucht werden.
Sigmund Freud vs. Wilhelm Reich
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Als Keimzelle des LSR-Projekt erscheint der weithin wenig bekannte Konflikt zwischen Freud und seinem vierzig Jahre jüngeren Schüler Reich. Schon 1981, also vor Initiierung des LSR-Projekts, hat Laska in seiner Rowohlt-Monographie über Reich diesen Konflikt und seine Besonderheiten hervorgehoben. Während sonstige Konflikte zwischen Freud und seinen Schülern, die zur Trennung führten (Jung, Adler, Rank, Ferenczi u.a.), stets von diesen ausgegangen seien, sei Reich auf Freuds Drängen aus den Organisationen der Psychoanalyse ausgeschlossen worden. Während Freud sonst die Differenzen zu seinen Dissidenten zwecks Klarstellung der eigenen Position öffentlich erörtert habe, sei er im Falle Reich stumm geblieben. Reichs Ausschluss, der in der offiziösen Geschichtsschreibung der Psychoanalyse nur beiläufig und als Austritt erwähnt wurde, erfolgte in politisch turbulenter Zeit (1934) und blieb lange Zeit unbeachtet. Auch als man "1968" Reich wiederentdeckte, problematisierte man seinen Konflikt mit Freud nicht. Erst nachdem in den späten 1980er Jahren die Politik der Psychoanalyse gegenüber dem Nationalsozialismus aufgearbeitet wurde, erschien der "Fall Wilhelm Reich" in neuem Licht. Reich wurde nun von einigen "Linksfreudianern" als derjenige unter den Psychoanalytikern gesehen, der die Gefährdung der Psychoanalyse durch den NS am frühesten erkannt habe und, indem er eine aktive marxistische Position bezog, am konsequentesten gegen den NS aufgetreten sei. Die organisierte Psychoanalyse hingegen, mit Freud an der Spitze, habe eine Politik des appeasement betrieben. Reichs Ausschluss sei ein "Bauernopfer" gewesen, das der Psychoanalyse in Deutschland letztlich nicht genutzt habe. Reich verdiene eine Rehabilitation, so lautete ein Minderheitsvotum innerhalb der Psychoanalyse. Eine andere Minderheit meinte, es gäbe gute Gründe, die den damaligen Ausschluss Reichs auch sachlich rechtfertigten. Die ganz große Mehrheit der heutigen Psychoanalytiker jedoch kann für diese historische Frage überhaupt kein Interesse aufbringen, und außerhalb der Psychoanalyse schon gar niemand.
Laska nun, selbst kein Psychoanalytiker, plädiert nicht für eine Rehabilitation Reichs im Sinne einer Anerkennung als Freudianer, sondern versucht, den nach wie vor schwelenden Ideenkonflikt zwischen Freud und Reich gleichsam auflodern zu lassen, um so Licht auf das Schicksal der europäischen Aufklärung im 20. Jh. zu werfen.
Ausgangspunkt ist die Situation in den 1920er Jahren, als sowohl der Marxismus als auch die Psychoanalyse konkurrierend als fortgeschrittenste Versionen aufklärerischen Denkens auftraten. Da lag es nahe, Versuche zu unternehmen, beide Denksysteme zu integrieren. Ansätze dazu kamen von den Psychoanalytikern Siegfried Bernfeld, Otto Fenichel, Erich Fromm und anderen. Der exponierteste Vertreter dieses sog. Freudomarxismus war Wilhelm Reich, zum einen durch die Schrift Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (1929), zum anderen durch sein Engagement in der SPÖ und später, bis 1933, in der KPD. Ein weiterer Versuch, aufklärerisches Denken mit Marx und Freud auf die Höhe der Zeit zu bringen, war die hauptsächlich von Max Horkheimer in den 1930er Jahren – ohne Bezug auf Reichs Vorarbeit – entwickelte Kritische Theorie. Diese theoretischen Anstrengungen wurden durch die politischen Großereignisse der Jahrhundertmitte zunichte: ihre einstigen Träger resignierten (vgl. dazu das Standardwerk Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno). Nach 1945 gab es ambitionierte Neuanfänge: Herbert Marcuses Schriften (Eros and Civilisation u.a.) fanden bei den 1968ern große Beachtung; neue Lesarten von Freud (durch Jacques Lacan) und Marx (durch Louis Althusser) bestimmten anschliessend in zahlreichen Variationen (am einflussreichsten wohl die Michel Foucaults) den Diskurs.
Vor diesem hier nur in gröbsten Strichen skizzierbaren Hintergrund ist das LSR-Projekt zu sehen. Laska scheint die oben andeutend genannten theoretischen Entwicklungen nach Reich (dessen Entwicklung nach 1934 eingeschlossen), ungeachtet ihrer Erträge, in erster Linie als großes "roll back" zu sehen, als Verschüttung der Ambitionen – nicht des damals Erreichten – des ursprünglichen freudomarxistischen, d.h. nach Freud und Marx die Aufklärung aktualisieren und weiterführen wollenden Projekts der europäischen Aufklärung.
Trotz des großen Geltungsverlusts, den Freud und Marx in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, will Laska freilegen, was damals verschüttet worden sei, zunächst die tatsächlich sehr konspirativ anmutenden Vorgänge um Reichs Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Dazu sind in den letzten Jahren aus lange verschlossenen Archiven aufschlussreiche Materialien bekannt geworden, darunter Freuds Anweisung an Max Eitingon, den Vorsitzenden der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, zum Ausschluss Reichs: "Ich wünsche es aus wissenschaftlichen Gründen, habe nichts dagegen, wenn es aus politischen geschieht." [7] Diese "wissenschaftlichen Gründe", die Freud weder öffentlich noch privat je nannte, nach denen aber bemerkenswerterweise auch nie jemand fragte, sollen im LSR-Projekt erschlossen werden.
Karl Marx / Friedrich Nietzsche vs. Max Stirner
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Fall Stirner liegt etwa ein Jahrhundert vor dem Fall Reich und scheint kaum mit ihm in Verbindung zu stehen. Laska hat jedoch bisher übersehene Parallelen sowohl inhaltlicher als auch rezeptionsgeschichtlicher Natur zwischen beiden Fällen herausgearbeitet. Was Marx' Verhältnis zu Stirner angeht, baut er auf einschlägigen Forschungen auf, die Essbach 1982 zusammengefasst und erweitert hat. [8] Die Forschungen zum Verhältnis Nietzsches zu Stirner, die Anfang des 20. Jahrhunderts ohne klares Resultat abgeschlossen wurden, hat er selbst ausgewertet und aufgrund eines neuen biographischen Fundes weitergeführt. [9]
Voltaire / Denis Diderot vs. Julien Offray de La Mettrie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ziel des LSR-Projekts
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Als „Gründungsdokument“ kann die Skizze gelten, die Laska 1985 in seiner Einleitung zu La Mettries Buch Der Mensch als Maschine, S. xxxiv-xxxvi, gegeben hat. 1985 wurde auch der LSR-Verlag gegründet.
- ↑ Dieser Terminus wird im Intro wie folgt erklärt: „Paraphilosophie ist ein Wort, das bisher kaum in Gebrauch war -- zu Recht, denn bisher ist es noch nie gelungen, aus einem originär philosophischen Impetus Gedanken zu entwickeln, die dem üblichen Bereich der Philosophie nicht zuzuordnen sind; sie stehen sozusagen ausserhalb, neben der herkömmlichen Philosophie. ... (Ein Missverständnis wäre es jedenfalls, die Paraphilosophie des LSR-Projekts als analog zu den neueren Parawissenschaften oder der etwas älteren Parapsychologie konzipiert aufzufassen)“
- ↑ So der Name einer 1985 angekündigten Buchreihe des LSR-Verlages
- ↑ Vgl. z.B. Bernd A. Laska: Sigmund Freud contra Wilhelm Reich (Auszug aus Bernd A. Laska: Wilhelm Reich. Reinbek 1981, 5. Aufl. 1999)
- ↑ Dirk van den Boom in: eigentümlich frei. Marktplatz für Liberalismus, Anarchismus und Kapitalismus. Jg. 1, Nr. 3, 3. Quartal 1998, S. 98-99
- ↑ Wolfgang Schuller in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 4. Juli 1997
- ↑ Fallend, Karl; Nitzschke, Bernd: Der 'Fall' Wilhelm Reich. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 81
- ↑ Wolfgang Essbach: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst. Eine Studie über die Kontroverse zwischen Stirner und Marx. Frankfurt/Main: Materialis 1982
- ↑ Bernd A. Laska: Nietzsches initiale Krise. Die Stirner-Nietzsche-Frage in neuem Licht. In: Germanic Notes and Reviews, vol. 33, n. 2, fall/Herbst 2002, pp. 109-133
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Autor der Schriften ist, wenn nicht anders angegeben, Bernd A. Laska
- zu "Freud vs. Reich"
- [Wilhelm Reich:] Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der psychoanalytischen Vereinigung. In: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Band 2 (1935), Heft 1 (5), S. 54-60 (online)
- Zur Bestimmung des Status der Reich'schen Theorie. In: wilhelm-reich-blätter, Jg. 1980, Heft 1 (online)
- Wilhelm Reich - in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1981 (5. Aufl. 1999) (Auszug online)
- Karl Fallend / Bernd Nitzschke (Hg.): Der "Fall" Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997 (Material online)
- zu "Marx / Nietzsche vs. Stirner"
- Ein dauerhafter Dissident. Wirkungsgeschichte von Stirners "Einzigem". Nürnberg: LSR-Verlag 1996 (Inhalt / Einleitung online)
- Dissident geblieben. Wie Marx und Nietzsche ihren Kollegen Max Stirner verdrängten und warum er sie geistig überlebt hat. In: DIE ZEIT, 27. Januar 2000, S. 49 (online)
- Nietzsches initiale Krise. Die Stirner-Nietzsche-Frage in neuem Licht. In: Germanic Notes and Reviews, vol. 33, n. 2, fall / Herbst 2002, pp. 109-133 (online)
- zu "Voltaire / Diderot vs. La Mettrie"
- Einleitender Essay zu Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch als Maschine. Nürnberg: LSR-Verlag 1985 (plus Einleitungen zu den drei weiteren Bänden der Werkausgabe La Mettrie) (zu Band 1 online), (zu Band 2 online), (zu Band 3 online), (zu Band 4 online)
- La Mettrie und die Kunst, Wo(h)llust zu empfinden. Portrait eines verfemten Denkers. In: Der Blaue Reiter. Journal für Philosophie. Heft 16, Juni 2003, S. 98-103 (online)