Benutzer Diskussion:Martin Wolfangel/Toleranz in der Geschichte des Christentums

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Letzter Kommentar: vor 10 Jahren von Martin Wolfangel in Abschnitt Tendenziöser Artikel
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Tendenziöser Artikel

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Hallo, durch die Diskussion im Christentumsportal bin ich hierauf gestoßen. Dieser Artikel ist in der vorliegenden Form sehr einseitig und liest sich streckenweise wie kontroverstheologisches Pamphlet. Kein Wort von der Verfolgung der Katholiken im reformatorischen Großbritannien, kein Wort von den Diskriminierungen im nordeuropäischen Staatskirchenwesen. Der Kulturkampf wird als Überwindung anti-liberaler Tendenzen des Katholizismus dargestellt, was komplett falsch ist. Die wichtigste neuere Literatur zu dem Thema, allen voran Angenendts Toleranz und Gewalt wurde nicht zu Rate gezogen, stattdessen wird ältere Literatur verwendet, die noch in der kontroverstheologischen Tradition steht. In der Form ist das leider nicht reif für den Artikelnamensraum. --(Saint)-Louis (Diskussion) 12:58, 27. Feb. 2014 (CET)Beantworten

Hallo, Saint Louis, obwohl du mich im Ton und in der Sache scharf angreifst, will ich doch versuchen herauszufinden, ob du zu einem vernünftigen, sachlichen Gespräch mit mir bereit bist. Eigentlich müsste das bei Wikipedia eine Selbstverständlichkeit sein. Allerdings kann ich mich als Außenstehender nicht wie du auf ein paar rasch hingeworfene Sätze beschränken. Ich muss schon weiter ausholen.

Zunächst noch einmal in aller Kürze, weshalb ich mich entschloss, meinen Text zu schreiben. Das Ringen um Toleranz ist bis heute eines der zentralen Probleme der Menschheit. Man muss nur die Nachrichten in den Medien ansehen. Doch der bestehende Artikel über Toleranz enthält in seinem historischen Teil mehr Lücken als Information. Nur ein Beispiel: Mit zwei oder drei Sätzen wird auf das Mittelalter eingegangen. Ungläubige seien toleriert worden. Nur Häretiker seien zu verfolgen gewesen. Dann kommt ein Satz über den Islam, gefolgt von einer kurzen Notiz über Religionsfreiheit, Differenzierung von Kirche und Staat, die erst in der Neuzeit möglich gewesen sei. Darauf folgt eine Information über die Konföderation von Warschau, den Schmalkaldischen Krieg und den Passauer Religionsfrieden. Die entscheidend wichtigen Entwicklungen in Nordamerika fehlen völlig.

Schon die Informationen über das Mittelalter sind oberflächlich und lückenhaft. So simpel war das nicht. Der Satz über Toleranz im Islam ist fehl am Platz, weil der Text anschließend mit dem Abendland fortfährt. Dem Islam müsste ein eigener, viel ausführlicherer Abschnitt gewidmet sein. Die Konföderation von Warschau und das Folgende hängen in der Luft. Warum kam es zum Schmalkaldischen Krieg? Warum war der Passauer Frieden nötig? Wie kam Locke zu seiner Einstellung zur Toleranz? Und so weiter und so fort. Man kann 2000 Jahre Theologie-, Kirchen-, Philosophie- und politische Geschichte des Abendlands unmöglich auf einer halben Seite abhandeln. Allein der Inquisitionsartikel in wi:de ist mindestens zwölfmal so lang.

Jetzt zu deiner Kritik. Die drei konkreten Punkte, die du nennst - Kulturkampf, Diskriminierung der Katholiken in Großbritannien und Nordeuropa -, können leicht korrigiert werden. Dann aber wirst du diffus. Ich lasse den giftigen, beleidigenden Ausdruck "Pamphlet" einmal auf sich beruhen. Was du aber unter "kontroverstheologisch" verstehst, kann ich nur erahnen. Wahrscheinlich sind damit Sachverhalte gemeint, die zwischen den Konfessionen strittig sind. Wahrscheinlich auch dunkle Kapitel in der Geschichte einer Kirche, die dieser im Rückblick peinlich sind und die man deshalb am liebsten totschweigen würde. Bei der evangelischen Kirche wäre das vor allem das Verhalten von Lutheranern und Reformierten gegenüber den Täufern im 16. Jahrhundert. In der Geschichte der katholischen Kirche wären solche Tabuthemen zum Beispiel die Inquisition und das Leiden der Hugenotten in Frankreich.

Außerdem kommt für dich zu dem Kriterium "Keine Kontroverstheologie!" ein weiteres hinzu: die Wissenschaftlichkeit eines Artikels. Denn du wirfst mir vor, dass es damit in meinem Entwurf hapere. Doch deine Behauptung, ich würde nur ältere, also wohl angeblich überholte Literatur verwenden, ist größtenteils falsch: Habermas (2001), Waldron (2002), Weinstein/Rubel (2002), Ohst (2005), Middlekauff (2005) und Kidd (2010). Zudem zeigt ein Vergleich dieser Literatur, die den gegenwärtigen Forschungsstand wiedergibt, mit den Veröffentlichungen um 1960 zu denselben Themen, dass Letztere in keiner Weise überholt sind. Damals war die Geschichte des Abendlands bereits gründlich erforscht. Beispielsweise schrieb Heussi 1957, Locke habe eine sehr konservative protestantische Theologie mit rationalistischer Philosophie verknüpft. Genau dasselbe sagt jetzt Waldron: Lockes gesamtes politisches Denken beruhte auf einer "Reihe protestantisch-christlicher Annahmen" ("a particular set of Protestant Christian assumptions"). Und: "As a philosopher, Locke was intensely interested in theology." Zweites Beispiel: Ohst (2005) und Bornkamm (1962) beziehen sich, wenn sie von Luthers Überwindung des mittelalterlich-katholischen Ketzerstrafrechts reden, auf dasselbe Zitat und ziehen daraus dieselben Schlüsse: "Man sollte die Ketzer mit Schriften, nicht mit Feuer überwinden." Luther, sagen sie, sei fest überzeugt gewesen, dass die Predigt des Evangeliums, wie er es der Bibel entnahm, nicht alle, aber sehr viele Menschen im Gewissen treffen werde. Deshalb vertraute er auf ein freies Werben der unterschiedlichen religiösen Kräfte um die Menschen. Dazu kam es aber nicht, weil Papst und katholischer Kaiser Luther mit Acht und Bann belegten, so dass er unter falscher Identität auf der Wartburg in Sicherheit gebracht werden musste. Das gewaltsame Vorgehen der katholischen Mächte gegen die Reformation hatte begonnen. Aber nur rund hundert Jahre später setzten die Protestanten Roger Williams, Thomas Hooker und William Penn Luthers Vorstellungen im fernen Nordamerika in die Praxis um (siehe unten).

Zurück zu dem schwammigen Kriterium "Verbot von Kontroverstheologie". Zum Glück bietet Wikipedia einen Ausweg, nämlich eine Klärung und Definition dieser Begriffs, auch wenn sie nur indirekt zu erschließen sind. Alle Artikel in wi:de und wi:en müssen die Kriterien Wissenschaftlichkeit und Anti-Kontroverstheologie erfüllen, andernfalls wären sie revertiert worden. Das gesamte Geschichtsmaterial, das mein Artikelentwurf enthält, abgesehen vielleicht von ein paar Kleinigkeiten, steht jedoch bereits seit langem in einer Reihe von Artikeln in wi:de und wi:en. Allerdings ist dieses Material auf schätzungsweise zwei Dutzend Artikel verteilt. Das ist für einen Nutzer, der sich rasch über Toleranz in der Geschichte des Christentums informieren will oder muss, lästig und zeitraubend. Deshalb wird er vermutlich schnell die Suche aufgeben. Außerdem sind manche wichtige Personen wie etwa Thomas Helwys, Roger Williams und Thomas Hooker in Deutschland so gut wie unbekannt. Der Nutzer wird sie nicht finden. Der bestehende Toleranz-Artikel enthält, wie gesagt, mehr Lücken als Infomartionen. Er ist irreparabel. Dagegen fasst mein Text das auf eine Vielzahl von wi:de- und wi:en-Artikel verteilte relevante geschichtliche Material zum Thema Toleranz/Intoleranz zusammen und macht damit den roten Faden, der die Geschichte des Christentums durchzieht, sichtbar. Der Nutzer hat ein Recht auf eine solche komprimierende Zusammenfassung.

Mein Text ist gespickt mit Links zu wi:de-Artikeln, die sich mit der jeweils betreffenden Thematik befassen. Diese Links haben für den Nutzer einen doppelten Vorteil: Er kann sich weitere Informationen besorgen, und er hat die Möglichkeit zu überprüfen, ob das in meinem Artikel Gesagte korrekt ist. Ich will hier einige der wichtigtsen Links, soweit sie die katholische Kirche betreffen, noch einmal aufführen. Auf die protestantische Seite komme ich weiter unten zu sprechen. Augustin, Thomas von Aquin, Inquisition, Peinliche Befragung, Folter, Folterinstrumente, Katharer, Albigenserkriege, Conversos, Moriscos, Hugenotten, Waldenser, Johannes Hus, Giordano Bruno, Galileo Galilei, Enzyklika Mirari vos, Syllabus, Zweites Vatikanisches Konzil.

Ein weiterer Punkt zum Stichwort "Kontroverstheologie". Selbst wenn man unterstellen würde, dass der evangelische Kirchenhistoriker Martin Ohst "kontroverstheologisch" orientiert wäre, was er nicht ist, wäre bei meinen übrigen Gewährsleuten, die in diesem Jahrhundert publizierten, dieser Vorwurf absurd. Welches Interesse sollten sie haben, in ihrer Geschichtsdarstellung eine bestimmte Konfession zu bevorzugen und eine andere zu benachteiligen? Weinstein, Rubel, Middlekauff und Kidd sind anerkannte, unabhängige Profanhistoriker, Habermas und Waldron Philosophen, die sich vor keinen Wagen spannen lassen, sondern ausschließlich der historischen Quellenlage verpflichtet sind.

Ich habe das Werk "Toleranz und Gewalt" des katholischen Kirchenhistorikers Arnold Angenendt nicht gelesen. Jedoch geben die drei im Internet zugänglichen ausführlichen Rezensionen von Michael Pawlik (FAZ), Eckhard Nordhofen (ZEIT) und Robert Misik (taz) ohne Zweifel die zentralen Thesen Angenendts korrekt wieder. Insbesondere Pawliks Text ist sehr breit angelegt. Angenendts Zielsetzung war, die von Herbert Schnädelbach in einem Zeitungsartikel "Der Fluch des Christentums" (2000) aufgestellte Behauptung, die Monotheismus, besonders das Christentum, sei unauflöslich mit Gewalt und Intoleranz verbunden, zu widerlegen. Angenendt weist unter anderem darauf hin, dass es im ersten Jahrtausend keine physische Gewalt gegen Häretiker und Gotteslästerer gegeben habe. Ich kann diese und ähnliche Informationen in meinen Text einarbeiten. Ab etwa dem Jahr 1000 sei es aber zu Verfolgungen von Häretikern mit Feuer und Schwert gekommen, und die meisten Theologen hätten sich dieser Entwicklung angepasst. Auch Thomas von Aquin habe die Hinrichtung von Häretikern befürwortet. An diesem Punkt besteht kein Widerspruch zwischen Angenendt und Ohst. Der frühneuzeitliche Staat, angetrieben vor allem von Juristen in städtischen und landesherrlichen Diensten, so Angenendt weiter, habe den Vernichtungskampf gegen Gottesfeinde sogar noch verschärft, während die Inquisition und die Päpste Hexentötungen ausdrücklich abgelehnt hätten. Auch das kann ich in meinen Text einfügen.

Angenendt untersuchte eine große Materialmenge aus der Alten Kirche und dem Mittelalter. Die Tendenz seiner Ausführungen ist zu zeigen, dass Gewaltanwendung in der Geschichte der Kirche wesentlich geringer war, als allgemein angenommen wird und als Schnädelbach behauptete. Einzelne Päpste und Theologen hätten sich immer wieder gegen die Anwendung von Gewalt ausgesprochen. Beispielsweise sagt Angenendt, dass in Rom kein einziger Häretiker hingerichtet worden sei. Die Spanische Inquisition habe rund 50.000 Prozesse durchgeführt, davon hätten nur 1,8 Prozent zu Hinrichtungen geführt. Der sehr ausführliche wi:de-Artikel "Inquisition", in den Angenendts Forschungsergebnisse eingearbeitet sind, nennt die genaue Zahl: Zwischen 1540 und 1700 führten von 44.647 bekannten Prozessen 826 (1,8 Prozent) zu einem Todesurteil, das vollstreckt wurde. Weitere 778 Verurteilte wurden in in effigie verbrannt, weil ihnen die Flucht gelungen war. Für den Zeitraum von 1481 bis 1530 gehen die Schätzungen von 1500 bis 12.000 Todesopfern aus. Angenendt zufolge ist die Folter zum Erlangen von Geständnissen eingesetzt worden, aber ihre Wirksamkeit sei bald in Zweifel gezogen worden.

An dieser Stelle sind einige Anmerkungen zu machen. Die Folter wurde im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu zwei unterschiedlichen Zwecken eingesetzt. Erstens sollten durch sie Geständnisse erzwungen werden, z.B. in Hexenprozessen. Der lutherische Arzt Johannes Weyer stellte sich Ende des 16. Jahrhunderts gegen die Folter jeder Art. Der Jesuit Friedrich von Spee lehnte zwar nicht die Hexenprozesse als solche ab, aber die Anwendung der Folter, da er als Beichtvater von "Hexen" wusste, dass sie ihre "Geständnisse" nur unter der Folter abgelegt hatten. In Preußen wurde die Folter 1740 abgeschafft, die anderen deutschen Gebiete folgten diesem Beispiel. Das war vor allem dem Engagement des Juristen und Philosophen Christian Thomasius zu verdanken. Der letzte "Hexenbrand" im Deutschen Reich war 1775 in Kempten, einem geistlichen Territorium.

Der zweite Zweck der Folter war das Erzwingen von Widerrufen in Häresieprozessen. Die beiden bekanntesten dieser Art waren die Verfahren gegen Giordano Bruno und Galilei. Die Einzelheiten der beiden Prozesse sind gut dokumentiert und schon seit längerem bekannt. Man kann davon ausgehen, dass die Inquisition überall nach etwa demselben Schema verfuhr. Bruno wurde nach seiner Verhaftung mehrere Jahre lang in Kerkerhaft gehalten, mehrmals verhört und gefoltert. Zunächst leugnete er, die Bücher, die man ihm vorlegte, geschrieben zu haben. Insofern glich diese Phase des Prozesses dem Verfahren gegen eine "Hexe" oder einen Verdächtigen in einem normalen Kriminalfall. Nachdem Bruno unter Folter gestanden hatte, die Bücher verfasst zu haben, ging es den Inquisitoren darum, ihn zum Widerruf seiner Thesen zu zwingen. Doch trotz weiterer Folterung blieb Bruno standhaft. Er wurde verurteilt und verbrannt (1600). Obwohl Galilei eine starke, selbstbewusste Persönlichkeit war, reichte ihm schon der Anblick der Folterinstrumente, um zu widerrufen (1633).

Vor diesem Hintergrund erscheint die Zahl von "nur" 826 Hinrichtungen von Menschen in Spanien, die die Kirche zwischen 1540 und 1700 zu Häretikern erklärt hatte, in einem anderen Licht. Ich nehme an, dass du mit mir einer Meinung bist, dass aus heutiger Sicht diese 826 Getöteten 826 zu viel waren. Die Angeklagten in den restlichen knapp 44.000 Fällen wussten, was ihnen bevorstand, wenn sie nicht widerriefen. Selbst wenn sie trotz der durch die Folter verursachten ungeheuren Schmerzen standhaft bleiben und nicht widerrufen würden, würden sie doch anschließend bei lebendigem Leib verbrannt werden. Deshalb widerriefen zweifellos die allermeisten ähnlich wie Galilei, noch bevor sie gefoltert wurden. Trotz ihres Widerrufs wurden nicht wenige von ihnen anschließend zu jahrelanger Kerkerhaft verurteilt. Andere, die freigelassen wurden, mussten für kürzere oder längere Zeit an ihrer Kleidung ein Büßer- oder Ketzerkreuz tragen, das sie als "reuige" Häretiker kenntlich machte und sie der Verhöhnung und diskriminierenden Behandlung durch andere aussetzte. Höchst wahrscheinlich litten die meisten zudem zeitlebens an einem schweren Trauma, verursacht durch die erzwungene Aufgabe ihrer ursprünglichen religiösen Überzeugung.

Ich verweise noch einmal auf den wi:de-Artikel "Inquisition", der noch weitere Zahlen, etwa über hingerichtete Conversos, enthält. Es war demnach viel Gewalt im Spiel, was Angenendt nicht abstreitet. Die Autodafés waren mit großem Pomp gefeierte Volksfeste. Sie bildeten eine wirksame Abschreckung. Unter der Überschrift "Inquisition gegen Protestanten" schreibt der Inquisitions-Artkel, der zweifellos kein "kontroverstheologisches Pamphlet" sein kann: "Die päpstliche Bulle Pauls III. Licet ab initio vom 4. Juli 1542 gilt nicht nur als Gründungsdokument der Römischen Inquisition (siehe oben), sondern stellt auch einen Versuch des Papstes dar, den Protestantismus mit dem im Mittelalter teilweise recht erfolgreichen Instrument der Inquisition zu bekämpfen. Schon Inquisitor Jakob van Hoogstraaten (gest. 1527) verfolgte in Deutschland Protestanten. Sein Amtskollege Peter Titelmans verhandelte in Flandern 1548-1566 gegen Protestanten ca. 1400 Häresiefälle. Doch seit dem Konzil von Trient versuchte die römisch-katholische Kirche verstärkt, die Gegenreformation mit Diplomatie, Missionierung sowie Zuhilfenahme staatlicher Repression voranzutreiben." Letzteres waren beispielsweise Religionskriege und die gefürchtete Dragonade. Zur Spanischen Inquisition wird unter anderem vermerkt: "Zwischen 1721 und 1725 wurden noch 160 Personen als Juden hingerichtet. Die meisten Häretiker waren aber inzwischen Gotteslästerer, Humanisten, Lutheranos und Bigamisten."

Nach Angenendt war etwa um 1500 in der Kirche eine Situation erreicht, in der der Einzelne zu einer ganz persönlichen Gottesbeziehung in der Lage war. Das sei eine besondere Chance gewesen, die Religiosität auf eine neue, höhere geistige Ebene zu heben. Pawlik über Angenendts Position: "Als es dann so weit war, kam die Reformation. Statt aber die westliche Christenheit in einem neuen Glaubensfrühling zu einen, führte sie tragischerweise zu deren Spaltung und gab Anlaß zu jenen furchtbaren Religionskriegen, aus denen die politische Philosophen schließlich keinen anderen Ausweg als den der Säkularisierung des Staates sahen. Seither entfalten eine säkulare Theorie und Praxis, was das Christentum angebahnt, aber selber nicht zustande gebracht hatte und in der Neuzeit nicht mehr mitzutragen bereit war." Mit anderen Worten, für Angenendt hat die Reformation in dreifacher Weise außerordentlich schwere, unverzeihliche Schuld auf sich geladen: Es wäre erstens ihre Aufgabe gewesen, "das westliche Christentum" zu einem "neuen Glaubensfrühling" zu führen; das tat die Reformation aber nicht. Statt dessen spaltete sie zweitens die Kirche, und sie war drittens schuld an den "furchtbaren Religionskriegen". Demnach ist für Angenendt die Reformation der Inbegriff des Negativen und Zerstörerischen. Sie war ein einziger Fehler und hätte nie stattfinden dürfen. Folglich dürfte es die Kirchen, die aus der Reformation hervorgingen, nicht geben. Das ist "Kontroverstheologie", wie sie schlimmer nicht sein könnte. Angenendts Verurteilung der Reformation ist für jeden Angehörigen einer reformatorischen Kirche ein Schlag ins Gesicht. Und das soll eine unabdingbare Pflichtlektüre sein und den heutigen Forschungsstand repräsentieren?! Ich danke. Angenendt stellt sich das sehr einfach vor. Luther und die anderen Reformatoren hätten nur widerrufen müssen, und alles wäre friedlich geblieben. Möglicherweise hätte man sie sogar am Leben gelassen. Dass in kürzester Zeit Hunderttausende ohne jeden Zwang der Bibelauslegung der Reformatoren folgten, will Angenendt nicht wahrhaben. Er sieht, deutet und wertet Geschichte ab der Reformation von seinem katholisch-konfessionellen Standpunkt aus. Das ist für einen katholischen Theologen nicht verwunderlich. Schließlich brauchte er für sein Buch das Imprimatur. Im Gegensatz dazu hatten die von mir herangezogenen Wissenschaftler keine dogmatischen Vorgaben einzuhalten. Die neuen Forschungsergebnisse, die Angenendt für die Zeit bis etwa 1500 beibringt, sind sicher zutreffend. Wie ich bereits mehrmals erwähnte, werde ich sie an den passenden Stellen in meinen Textentwurf einfügen. Aber was die Zeit nach 1500 angeht, halte ich mich lieber an unabhängige Wissenschaftler.

Stichwort "Kirchenspaltung". Zu einer Spaltung oder Trennung gehören immer zwei. In der Reformationszeit bemühten sich evangelische Theologen, darunter Calvin, um eine Verständigung mit der katholischen Kirche, um die Spaltung zu verhindern bzw. zu überwinden. Aber das Konzil von Trient wies alle Angebote zu Gesprächen schroff zurück und grenzte sich theologisch scharf von den reformatorischen Kirchen ab. Zudem wird katholischerseits, wenn von den Reformatoren als "Kirchenspaltern" die Rede ist, meist verschwiegen, dass die Christenheit schon seit 1054 gespalten war. An diesem Schisma trug die westliche Kirche die größere Schuld, da ein Papst nach dem anderen den Anspruch erhoben hatte, Oberhaupt der ganzen Christenheit zu sein. Das ließen sich die Orthodoxen schließlich nicht länger gefallen. Inzwischen haben das Unfehlbarkeitsdogma und andere Entscheidungen der römischen Kirche den Graben zu den Ostkirchen noch vertieft.

Angenendt stellt die Antwort auf die Frage, wer die Schuld am Ausbrechen der Religionskriege trug, auf den Kopf. Angefangen vom Klevischen Krieg und Schmalkaldischen Krieg waren alle Konfessionskriege Angriffskriege der katholischen Seite oder wurden, wie im Fall des Dreißigjährigen Kriegs, durch rigorose Rekatholisierungsmaßnahmen ausgelöst. Wo, wie etwa in Nordamerika, Katholiken als Minderheit auf die Tolerierung durch Protestanten angewiesen waren, gab es keine Religionskriege. Im Gegenteil, in einigen englischen Kolonien erhielten Katholiken volles Bürgerrecht und freie Religionsausübung (s. unten). Niemand zwang die katholische Kirche, gegen Protestanten Kriege zu beginnen. Niemand zwang sie, die mittelalterliche Praxis der Gewaltanwendung gegen die neuen "Ketzer" weiterzuführen. Es war die freie Entscheidung der Päpste und Konzilien, wie es die freie Entscheidung der Päpste Ende des 19. Jahrhunderts war, die Religionsfreiheit und die anderen Menschenrechte als "Wahn" abzulehnen, was auch Angenendt erwähnt. Und es war schließlich die freie Entscheidung der katholischen Kirchenführer, im Zweiten Vatikanischen Konzil die Religionsfreiheit dann doch zu akzeptieren. Das fiel der katholischen Kirche außerordentlich schwer, denn es war weitaus mehr als eine kleine Kurskorrektur. Es war eine Kehrtwende um 180 Grad. Den großen Spannungsbogen von der Hinrichtung des Johannes Hus und der des Giordano Bruno bis zum Zweiten Vatikanum müssen Historiker nachzeichnen dürfen. Er muss auch bei Wikipedia nachzulesen sein. Du kannst das nicht verhindern, wenn du tatsächlich den wissenschaftlichen Anspruch der Wikipedia-Artikel bejahst.

Angenendts Bild von den geschichtlichen Abläufen zwischen der Reformation und der angeblich durch die Religionskriege erzwungenen "Säkularisierung des Staates" durch "politische Philosophen" ist sehr schlicht. Viel zu schlicht. In Wirklichkeit war alles weitaus komplizierter. Gewiss, die Religionskriege haben die Säkularisierung des Staates, d.h. die Trennung von Kirche und Staat, befördert. Diese war aber kein Unglück. Vielmehr ist sie die unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen von Religionsfreiheit, und sie hatte ihre Wurzeln in der prinzipiellen Trennung von Geistlichem und Weltlichem durch Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die ihrerseits eine Konsequenz aus seinem Verständnis des Evangeliums war. Habermas hat vollkommen recht. Der "weltweite Prozess der Modernisierung" habe im 15. Jahrhundert eingesetzt. Er sei durch Luther, die Reformation und religiöse Bewegungen wie den Pietismus und das Quäkertum sowie eine Reihe von Denkern, die von Luther beeinflusst waren, vorangetrieben worden.

Es ist das größte Manko von Angenendts Buch, dass er die Entwicklungen, die von Protestanten im angloamerikanischen Raum getragen wurden, offensichtlich nicht berücksichtigt hat. In keiner der drei Rezensionen ist davon die Rede. Doch die Untersuchungen über Gewalt im kirchlichen Bereich und ihre Überwindung auf Kontinentaleuropa einzugrenzen ist unwissenschaftlich. Es waren England und vor allem Nordamerika, wo Protestanten die neuzeitliche Demokratie , Religionsfreiheit und die anderen Menschenrechte schufen. Erst Jahrzehnte später griffen dann die von Angenendt erwähnten "politischen Philosophen" diese Errungenschaften auf, popularisierten sie, und manche dieser Denker gaben ihnen eine neue Begründung, nämlich eine Ableitung nicht mehr aus dem biblischen Schöpfungsglauben, sondern aus der Idee des autonomen Menschen. Am Inhalt der Menschenrechte änderte sich dadurch nichts. Ich brauche die Einzelheiten, die in meinem Entwurf, gestützt auf Weinstein/Rubel, Waldron, Middlekauff und Kidd, nachzulesen sind, nicht zu wiederholen. Sie stehen alle bereits ins diversen wi:de- und wi:en-Artikeln. Auch dazu eine kleine Auswahl: Martin Luther, Johannes Calvin, Calvinismus, Protestantismus, John Milton, John Locke, Pilgerväter, Plymouth Colony, Massachusetts Bay Colony, Roger Williams, Thomas Hooker, William Penn. Eine kleine Kostprobe aus dem wi:en-Artikel "Roger Williams": "Williams wanted his settlement [Providence, Rhode Island] to be a haven for those 'distressed of conscience', and it soon attracted a collection of dissenters and other-minded individuals. From the beginning, a majority vote of the heads of households governed the new settlement, but 'only in civil things'." In "den weltlichen Angelegenheiten" wurde die Siedlung durch Mehrheitsbeschlüsse regiert, also demokratisch. Das hatten die Puritaner (Kongregationalisten) in der Plymouth Colony 1620 und in der Massachusetts Bay Colony 1628 entwickelt. In Rhode Island verknüpften Roger Williams und eine kleine Gruppe Gleichgesinnter diese Demokratie mit religiöser Toleranz. Denn in Gewissensfragen war jeder Siedler frei. Das war 1636. Dieselben Grundsätze führte Thomas Hooker im selben Jahr in Connecticut ein. Pennsylvania folgte 1682. Auch Katholiken und Juden erhielten volles Bürgerrecht und konnten ihre Religion frei ausüben. Das war die Verwirklichung dessen, was Luther gewollt hatte. Williams, Hooker und Penn waren fromme Protestanten, aber zugleich auch politische Philosophen. (Zuvor waren Luther, Calvin und die anderen Reformatoren nicht nur Theologen, sondern auch politische Denker gewesen, insofern sie über das Verhältnis von Kirche und den weltlichen Obrigkeiten Aussagen gemacht hatten.) Aus bescheidenen Anfängen heraus wurde ihre freiheitliche Staatstheorie bestimmend für die weitere Geschichte Nordamerikas. Die Kombination von Demokratie und Religionsfreiheit ließ die Amerikaner nicht mehr los. Sie führte 1776 zur Unabhängigkeitserklärung, die wie Locke hundert Jahre zuvor die Menschenrechte Gleichheit, Freiheit und Recht auf Leben aus dem biblischen Schöpfungsglauben ableitete. Sie waren kein autonomes, sondern theonomes Ideengut, so der Jurist W. Wertenbruch 1961. Dies wurde durch Kidd 2010 bestätigt ("Equality by creation"). "We hold these Truths to be self-evident, that all men are created [sic!] equal, that they are endowed by their Creator [sic!] with certain unalienable rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness." Die Protestanten Williams, Hooker und Penn erbrachten endgültig den Beweis, dass das Christentum nicht notwendigerweise mit Gewalt verbunden ist. Das hätte Angenendt gegen Schnädelbach ins Feld führen müssen. Das wollte und konnte er aber nicht, da er dem Protestantismus die Daseinsberechtigung abspricht. Von den Vereinigten Staaten aus verbreitete sich vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert die Verbindung von Demokratie und Menschenrechten über die gesamte westliche Welt und darüber hinaus. Sie wurde zudem die Grundlage der Charta und der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Beispielsweise übernahm die Französische Revolution zwei ihrer Schlagworte - égalité und liberté - direkt von der Unabhängigkeitserklärung (equality, liberty).

Die These Angenendts, "das Christentum" sei seit Aufklärung und Französischer Revolution nicht mehr bereit gewesen, "Fortschritt" mitzutragen, und verharre stattdessen in einer "Verweigerungshaltung", ist nur für die katholische Kirche und Teile des deutschen Luthertums zutreffend. Letztere konnten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht mit der demokratischen Staatsform anfreunden. Dagegen schufen die Protestanten in der angloamerikanischen Welt - Anglikaner/Episcopalians, Kongregationalisten, Baptisten, Quäker, Presbyterianer, Lutheraner, Methodisten u.a. - die Kombination von Demokratie und Menschenrechten und tragen sie bis heute. Inzwischen haben sie Verstärkung erhalten von Katholiken, Juden, Angehörigen anderer Glaubensrichtungen und Menschen, die keiner Religion angehören.

Noch einmal: Es ist unwissenschaftlich, leugnen zu wollen, dass Katholizismus und Protestantismus ab dem 16. Jahrhundert nicht nur in religiös-theologischer Hinsicht unterschiedliche Wege gingen, sondern auch hinsichtlich ihres jeweiligen Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft, zur Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Diese Unterschiede waren und sind Gegenstand historischer und soziologischer Forschung (Alexis de Tocqueville, Max Weber, Robert K. Merton, Gerhard Lenski, die oben Genannten u.a.). Deren Ergebnisse müssen selbstverständlich in Wikipedia ihren Platz haben. Und tatsächlich haben sie ihren Platz dort bereits, nur eben verteilt auf eine unübersichtliche, größere Anzahl von Artikeln.

Ich bin gern bereit, mit dir zusammen meinen Textentwurf gegebenenfalls Satz für Satz durchzugehen, um Formulierungen zu suchen, die für uns beide akzeptabel sind. Gruß Martin Wolfangel (Diskussion) 21:43, 19. Mär. 2014 (CET)Beantworten