Charlotte Steurer

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Charlotte Ilona Steurer, o. J. Original im Besitz der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin.

Charlotte Ilona Steurer (* 4. Januar 1921 in Schweidnitz; † 23. August 1986 in Wiener Neustadt) war eine deutsch-österreichische Aktivistin der Homophilenbewegung.

Leben und Wirken

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Charlotte Steurer wurde unter ihrem Geburtsnamen Eckstein am 4. Januar 1921 im schlesischen Schweidnitz (heute Świdnica, Polen) geboren. Ihre Eltern waren der Kachelglasierer Fritz Eckstein (1894–1945) und dessen Frau Emma Emilie (geb. Zimbal, 1893–1967). Sie hatte einen jüngeren Bruder, Gerhard Eckstein (1923–2003).

Charlotte Eckstein wurde evangelisch erzogen, besuchte aber als Heranwachsende das Lyzeum des katholischen Ursulinenklosters in ihrer Heimatstadt. Ursprünglich wollte sie Lehrerin werden, doch auf Drängen ihrer Eltern ließ sie sich zur medizinischen Assistentin ausbilden. Ab 1940 wohnte und arbeitete sie für einige Jahre in Berlin.

Nach eigenen Angaben entwickelte Charlotte Eckstein früh eine widerständige Haltung gegen die Nationalsozialisten, die jedoch nicht in organisierte illegale Tätigkeiten gegen das NS-Regime mündete. Erste Erkenntnisse über den Charakter des „Dritten Reichs“ erfuhr sie als 17-Jährige, als sie Zeugin der Folgen der Reichspogromnacht im schlesischen Liegnitz (Legnica) wurde. Von den systematischen Morden an Juden erfuhr sie nach eigenen Angaben zum ersten Mal 1943.[1]

Mit dem Thema Homosexualität hatte sich Charlotte Eckstein bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht auseinandergesetzt. Doch lernte sie um diese Zeit erstmals Männer kennen, die nach Aussagen von gemeinsamen Freundinnen einem „Himmelfahrtskommando“ zugeteilt worden waren, weil sie „unnormal“ waren.[2] Ungefähr gleichzeitig wurde sie von ihrer Mutter über die Homosexualität deren einzigen Bruders, Erich Zimbal (?–1916), aufgeklärt, der im Ersten Weltkrieg gefallen war.

Im Februar 1945 flüchtete Charlotte Eckstein zusammen mit ihrer Mutter vor dem Einmarsch der Roten Armee aus Schlesien über Krumau (Český Krumlov) nach Österreich. Während sich die Mutter in der Nähe ihres Sohnes in Nürnberg niederließ, heiratete Charlotte Eckstein 1946 den Österreicher Michael Steurer (1916–2007), einen Bruder des später bekannten Weinexperten Rudolf Steurer (1924–2013), und zog mit ihm nach Wiener Neustadt. Michael Steurer wurde hier als Handelsangestellter tätig, und seine Frau Charlotte kümmerte sich um den Haushalt und die Pflege der Schwiegermutter. Die Ehe blieb kinderlos. Charlotte Steurers einzige selbstständige Publikation, der Gedichtband Gedämpfte Akkorde, erschien 1956.[3]

Ab 1971 hielt sich Charlotte Steurer jeden Sommer für mehrere Wochen im hessischen Kronberg auf, wo sie das Haus des Arztes und Konstitutionsbiologen Willhart S. Schlegel (1912–2001) hütete, während die anderen Bewohner – Schlegel, der Journalist Johannes Werres (1923–1990) und dessen Lebensgefährte Heinz Liehr (1917–1990) – in Urlaub waren. Charlotte Steurer starb nach längerer Krankheit am 23. August 1986 in Wiener Neustadt. Ihr umfangreicher Nachlass wurde nach ihrem Tod von ihrem Mann vernichtet.[4]

Engagement innerhalb der Homophilenbewegung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In ihrer Freizeit entwickelte Charlotte Steurer eine rege Tätigkeit als Verfasserin von Briefen, Erzählungen und Artikeln. Sie verfügte mit der Zeit über ein sehr großes Kontaktnetz, vor allem außerhalb Österreichs, in dem sie sich mit Gleichgesinnten über das Thema Homosexualität austauschte. Zu ihren Briefpartnern gehörten etwa der Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), die Ärzte Hans Giese (1920–1970) und Rudolf Klimmer (1905–1977), der studentische Homophilen-Aktivist Rainer Plein (1948–1976), der Journalist „Fedor Fackeltantz“ (d. i. Wolf Heribert Flemming, 1932–1995) und andere. Unter den homopolitisch aktiven Organisationen und Zeitschriften, mit denen sie in Verbindung stand, waren der Schweizer Kreis, dessen Nachfolgepublikationen Club 68 und Plädoyer, die Reutlinger Kameradschaft die runde, das niederländische Cultuur- en Ontspanningscentrum (COC), die dänische und später Hamburger Internationale Homophile Welt-Organisation (IHWO), die Homophile Studentengruppe Münster (HSM), der Heidelberger Pan-Verlag und die Zeitschriften Der Weg, Du & Ich, Him, Gay Journal und Revolt Mann.

Um 1964 kam Charlotte Steurer in Kontakt mit dem Wiener Rechtsanwalt Franz Xaver Gugg (1921–2003), der im Jahr zuvor mit einigen Bekannten den österreichischen Verband für freie Mutterschaft und sexuelle Gleichberechtigung gegründet hatte. Dieser Verband war der erste sexualreformatorische Verein Österreichs nach 1945 und sprach sich für die Abschaffung des Abtreibungsverbotes und des Totalverbotes homosexueller Handlungen unter Männern wie Frauen nach § 129 1 b StG aus. 1964 gab er mit der Zeitschrift Aufklärung, als deren verantwortliche Redakteurin Charlotte Steurer auftrat, die erste Homosexuellenzeitschrift Österreichs heraus. Nach deren Einstellung entwickelte Charlotte Steurer ein beachtliches Aktivitätsniveau im Kampf gegen die antihomosexuelle Strafgesetzgebung vor allem im deutschsprachigen Raum. Dem Wiener Wochenblatt gab sie 1966 erstmals ein Interview.[5]

Charlotte Steurer schrieb Briefe unter anderem an den Papst, die österreichische Bundesregierung und den Vorstand der Sozialistischen Partei Österreichs, die österreichische Zeitschrift Menschenrecht, den ORF und den Wiener Erzbischof Kardinal Franz König, aber auch an den deutschen Psychiater Wolfgang Kretschmer (1918–1994), den Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) und bundesdeutsche Zeitschriften und Zeitungen wie Quick, Spiegel, Stern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Welt am Sonntag und Konkret. Als Leserbriefschreiberin wählte sie teilweise die beiden Vornamen ihres Vaters „Fritz Walter“ (bzw. „Walter Friz“) als Absender.[6]

Als heterosexuelle Frau war Charlotte Steurer in gewisser Weise eine Außenseiterin der deutschsprachigen Homophilenbewegung. Sie zeichnete sich durch ein elitäres und teilweise reaktionäres Weltbild aus, das nicht frei von Widersprüchen ist. Zudem neigte sie zu haltlosen Vereinfachungen und brachte manches Un- und Halbwissen zum Ausdruck. Weltanschaulich war sie Apokalyptikerin. Sie warnte vor den Folgen der Überbevölkerung und der Umweltzerstörung, sie lehnte Atomkraftwerke, den zunehmenden Autoverkehr und den ungehinderten Gebrauch von Pestiziden ab. Bereits Anfang der 1970er Jahre lebte sie in einer Art Endzeitstimmung und rechnete mit dem baldigen Zusammenbruch der Zivilisation. Ihrer Gegenwart attestierte sie einen „Wertebankrott“.[7] Vor diesem Hintergrund idealisierte sie homosexuelle Männer und bescheinigte ihnen Selbstlosigkeit, Klarheit, Willensstärke, Genialität und Tapferkeit, und sie gab sich überzeugt, ohne die „gültige Rehabilitierung der Homophilie“ könne diese Welt keine heile mehr werden. Die gleichgeschlechtliche Neigung war ihrer Meinung nach „eine Naturgegebenheit, die weder unter- noch übergeordnet, sondern einzig allein in die Gesellschaft eingeordnet gehört. Jede Liebe ist göttlich und Schöpferkraft.“[8] Lesbische Frauen und lesbische Liebe erwähnte sie in ihren Briefen wie ihren Veröffentlichungen kaum.

Charlotte Steurer lehnte das Wort „schwul“ entschieden ab und wandte sich vehement gegen eine Fernseh-Ausstrahlung des Rosa von Praunheim-Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971).[9] Homosexuelle, deren Beziehungen nicht auf Nachkommenschaft ausgerichtet waren, umschrieb sie meist mit den Worten „wertvolle Menschen“.[10] Zu der in den 1970er Jahren erstarkenden deutschen wie österreichischen Schwulen- und Lesbenbewegung fand sie keinen Anschluss, und fortan erlangte sie für ihre Positionen nur noch wenig Gehör. In publizistischer Hinsicht verstummte sie um 1978.

Veröffentlichungen (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • Gedämpfte Akkorde (Gedichte). Wien: Europäischer Verlag, 1956 (31 Seiten).
  • [Leserbrief], in: Quick. Die große Illustrierte 1965 (Jg. 19), Nr. 3, S. 32.
  • Him-Korrespondentin in Wien, in: Him 1970 (Jg. 1), Nr. 5, S. 212.
  • [Unter dem Pseudonym Fritz Walter:] Für Kontakte und gute Gespräche. Zu „Eine Reaktion in Windeln“ [Leserbrief], in: Club 68. Das Organ für die Homophilen der Schweiz 1970 (Jg. 3), Nr. 10, S. 12.
  • Wir müssen etwas tun!, in: Club 68. Das Organ für die Homophilen der Schweiz 1970 (Jg. 3), Nr. 11, S. 12.
  • [Zusammen mit Urs Frank, d. i. Peter Lerch:] Der Fall Österreich, in: Club 68. Das Organ für die Homophilen der Schweiz 1971 (Jg. 4), Nr. 9, S. 11.
  • Mehr Verständnis [Leserbrief], in: Anstoss + Argumente 1971, Nr. 5, S. 9–10.
  • Inquisition 1972, in: Plädoyer: Die Zeitung der Minderheiten 1972 (Jg. 1), Nr. 3, S. 3.
  • Der Hausfreund, in: Plädoyer. Die Zeitung der Minderheiten 1972 (Jg. 1), Nr. 8, S. 6.
  • Homosex – oder wie sonst?, in: Revolt Mann 1977 (Jg. 1), Nr. 8, S. 44–45.
  • Es lohnt sich zu kämpfen, in: Revolt Mann 1977 (Jg. 1), Nr. 10, S. 9.

Quellen und weiterführende Literatur

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  • Anonym [1969]: Mutige Kämpferin in Österreich, in: UNI, Nr. 7, S. 3.
  • Anonym (1970): Kämpft für Toleranz: Korrespondentin in Wien [sic] Charlotte Ilona Steurer, in: Du & Ich. Das Nachseptembermagazin (Jg. 2), Nr. 1, S. 47 [siehe hier auch S. 1].
  • Urs Frank [d. i. Peter Lerch] (1970): Ein Brief nach der Wiener Neustadt, in: Club 68. Das Organ für die Homophilen der Schweiz (Jg. 3), Nr. 8, S. 8.
  • Raimund Wolfert (2007): Charlotte Steurer (1921–1986): „Jede Liebe ist göttlich und Schöpferkraft“, in: Lambda-Nachrichten (Jg. 29), Nr. 5, S. 26–29.
  • Raimund Wolfert (2009): „Gegen Einsamkeit und ‚Einsiedelei‘“. Die Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation. Hamburg: Männerschwarm Verlag.
  • Raimund Wolfert (2016): Charlotte Ilona Steurer (1921–1986): Gut vernetzt, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 55/56, S. 66–86.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Vgl. Wolfert 2016, S. 70.
  2. Vgl. Wolfert 2016, S. 66.
  3. Charlotte Steurer: Gedämpfte Akkorde. Europäischer Verlag, Wien 1956.
  4. Vgl. Wolfert 2007, S. 29.
  5. Anonym (1966): ‚Sexpartei‘ muß zusperren … Mitglieder verliefen sich, in: Wiener Wochenblatt vom 14. Mai 1966, S. 10.
  6. Vgl. Wolfert 2016, S. 66.
  7. Vgl. Wolfert 2016, S. 80.
  8. Vgl. Wolfert 2007.
  9. Vgl. Wolfert 2009, S. 175–176.
  10. Vgl. Wolfert 2007, S. 28–29.