Das Elend der kritischen Theorie

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Das Elend der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas ist eine Forschungsarbeit Günter Rohrmosers, die 1970 im Rombach Verlag in Freiburg veröffentlicht wurde. In seiner Metakritik reflektiert er die philosophischen Voraussetzungen und praktisch-politischen Konsequenzen der Kritischen Theorie in der außerparlamentarischen Opposition.

Im Zentrum steht der Begriff der Negativen Dialektik Adornos und der Vergleich mit seinen marxistischen Wurzeln. Während nach Marx’ historischer Dialektik die Negativität durch das Proletariat als revolutionäres Subjekt am Ende der Geschichte der Klassenkämpfe aufgehoben wird, endet für Adorno der Prozess der Emanzipation von der Natur in der totalen Herrschaft des Identitätsprinzips der Vernunft über das Individuum,[1] das seiner Objektivierung nur im Wahn, der Triebabfuhr, dem Anarchismus oder der Kunst tentativ entrinnen kann. Die Herrschaft über die Natur kulminiert in der Herrschaft über den Menschen, deren Charakter in Auschwitz am deutlichsten sichtbar wird.

Das „Elend“ der kritischen Theorie sieht Rohrmoser darin, dass sie selbst lediglich die bürgerliche gedankliche Reproduktion der von ihr verurteilten Herrschaftsordnung sei. Rohrmoser sieht dabei in Adornos Theorie eine innere Verwandtschaft mit dem Faschismus, nämlich hinsichtlich seiner Vernunftfeindlichkeit, der Verherrlichung der Tat und der biologistischen Konzeption eines „neuen Menschen“.[2]

Die Publikation entstand laut Vorbemerkungen aus einer Vorlesung im Sommersemester 1969 an der Universität Köln zur gleichen Zeit wie die Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaft durch Mitglieder der APO.

Die Abhandlung hat 5 Abschnitte und eine Vorbemerkung. Der erste Abschnitt befasst sich mit dem kritischen Ziel der Untersuchung, der zweite mit Adornos Dialektik. Der dritte Abschnitt führt auf Karl Marx zurück, die letzten beiden Abschnitte beziehen Marcuse und Habermas in die Betrachtung ein.

In der Vorbemerkung (7) weist der Autor darauf hin, dass es sich bei seiner Kritik zuletzt um die Frage der öffentlichen Moral und den wenig erkannten Konsequenzen ihrer „Verwüstungen“ durch den Nationalsozialismus handelt.

Kapitel 1 (8–10) charakterisiert die negative Dialektik als „prägnanteste philosophisch-praktischer Gestalt“ der von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas „in Gang gebrachte(n) Bewegung“. An ihr könne die Zukunft von Demokratie und Humanität abgelesen werden. Rohrmoser sieht den Wert seiner Untersuchung vor allem in der Herausarbeitung der objektiven praktisch-politischen Folgen der negativen Dialektik. Zum Vergleich verweist er auf die Folgen des mangelnden Widerstands der Universität, besonders der Philosophie, gegen den „Verfall der Vernunft“ in der Weimarer Republik und beklagt das Schweigen der „etablierten Philosophie“ der Gegenwart beklagt, die er in einer praxisfremden Akademisierung erstarrt sieht.

In Kapitel 2 (11–52) charakterisiert Rohrmoser die negative Dialektik als Theorie der Emanzipation des Menschen. Der Mensch sucht sich von der totalen Abhängigkeit von der Natur zu befreien, indem er die Natur unterwirft. Diese Unterwerfung ist nur durch organisierte Herrschaft möglich. Diese Unterwerfung der Natur setzt voraus, dass das Subjekt ihre lebendige konkrete und besondere Vielfältigkeit unter abstrakt-allgemeine Begriffe subsumiert. Mit den Begriffen vergegenständlicht das Vernunft-Subjekt die Natur auf instrumentelle Weise, zum Zwecke der technologischen Beherrschung. Der Begriff identifiziert die Natur mit sich selbst, dem Begriff von ihr. So ordnet die Vernunft sich die Natur unter, indem sie die Natur ihrem eigenen Prinzip, der Identität, unterwirft, sie mit sich identifiziert. Identitätsstiftung ist das Prinzip des Denkens, das mit der Herrschaft über die Natur und über den Menschen gleichbedeutend ist. Im Laufe des Fortschritts, der immer vom Verfall geschichtlicher Formen der Herrschaft begleitet ist, wird das Subjekt als individuum ineffabile mehr und mehr notwendig selbst zum total beherrschten Objekt innerhalb der von seiner Vernunft begründeten Ordnung, was zugleich Unwahrheit und Verblendung bedeutet, durch die der faktische Verlust der Freiheit als Freiheitsgewinn missverstanden wird. Die kritische Theorie deckt diese dialektische Verkehrung der Freiheit in ihren Gegensatz in ihrer Negativität auf, insofern sie aufzeigt, dass in der Herrschaftsordnung nicht das ursprüngliche Freiheitsmotiv positiv aufscheint, sondern gerade negiert wird. Höhepunkt der Entwicklung und Enthüllung des ursprünglichen Wesens der Vernunft-Herrschaft sehe Adorno in der bürokratischen Austilgung des verdinglichten „Exemplars“ des Menschen in den Konzentrationslagern und in Auschwitz. Der Fluchtpunkt der Freiheitsbewegung ist folglich der Tod aller, die Selbstvernichtung. Die Möglichkeitsbedingung des dialektischen Umschlags fällt mit dem Ursprung der Geschichte selbst zusammen. Rohrmoser sieht hier eine Ähnlichkeit mit Schelling und der Gnosis: Die Katastrophe des Anfangs ist ein kontingentes irrationales Abbrechen des Zusammenhangs mit dem Absoluten aus einem Willen des Menschen zur Bemächtigung. Die Einsicht in diese Katastrophe beruht auf der Erfahrung des Leidens als einer irrationalen vernunftüberschreitenden Größe und auf der Erinnerung an die archaische herrschaftsfreie vor-ichliche spontane Mimesis der amorphen blind-zufälligen Natur, der unbewussten Antriebe und Impulse. Eine Befähigung zur praktischen Aufhebung der Vernunft-Herrschaft ist damit aber nicht gegeben, eine revolutionäres Subjekt gibt es, da Subjektivität sich in Objektivität aufgelöst hat, nicht mehr. Nur durch den Verfall der Vernunft-Ordnung und damit des Identitätszwangs in schizophrener Dissoziation und Depersonalisierung des Ichs kann die ursprüngliche Freiheit sichtbar werden.

Im dritten Kapitel (53–63) zeigt Rohrmoser auf, dass Marx genau wie Hegel die Geschichte formal auf den Begriff gebracht hat: auf das Verständnis der tatsächlichen Bewegung der Geschichte und ihrer Prinzipien. Aus dem Antagonismus der Produktionskräfte und -verhältnisse und der dazu gehörigen Produktionsverhältnisse treibt die Geschichte selbst auf einen Endpunkt zu.

Herbert Marcuse wird im vierten Kapitel (64–88) analysiert. Dabei geht es vor allem um das Verständnis der Psychoanalyse, die nach Rohrmoser ebenso konservativ wie revolutionär verstanden werden kann. Marcuse erklärt die psychologischen Kategorien Freuds soziologisch, die Repression in der Psyche führt er auf gesellschaftliche Repression zurück, nicht auf psychologische Notwendigkeiten. Problem der Menschen ist nicht mehr die relative Armut wie bei Marx, sondern der Überfluss, der dem Menschen prinzipiell ein Leben in Freiheit ermöglichen könnte. Revolution ist durch Aufhebung der Repression innerhalb der Psyche möglich.

Alle metakritischen Einwände gegen die negative Dialektik fassen sich also in der Frage nach der Möglichkeit einer Praxis der Veränderung der totalitär gewordenen Herrschaft zusammen. [...] Wenn das Ganze falsch ist, dann müsste es auch eine Veränderung des total Falschen wenigstens der Möglichkeit nach geben oder zumindest denkbar sein. Doch Adorno sagt, dass es eine solche Möglichkeit in der Gegenwart nicht gibt. Ein verändernder Eingriff am Teil des Ganzen trage indirekt zur Verstärkung und Verlängerung falscher Herrschaft bei. Revolution wie Reform seien beide gleich unmöglich. Entweder zeigt sich, wie es eine Praxis geben kann, durch die das Ganze aufhört, falsch zu sein, oder man kann am Ganzen eben überhaupt nichts ändern, nur durch partielle Eingriffe reformieren und damit zur Verfestigung des Falschen beitragen. Den Horizont einer Vermittlung auf Praxis sieht die Adornosche Theorie also verstellt.[3]

  • Günter Rohrmoser. Das Elend der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas. Rombach, Freiburg 1970.

Einzelnachweise

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  1. Hans Peter Hempel: Günter Rohrmoser: Das Elend der kritischen Theorie, Meisenheim etc., Bd. 27, Ausg. 1, 1. Januar 1973
  2. D. Borries: Das Elend der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas. Sociologia Ruralis, 11(2), S. 219–220
  3. Günter Rohrmoser: Das Elend der kritischen Theorie. Rombach, 1970, ISBN 978-3-7930-0933-7, S. 28 (google.de [abgerufen am 29. Mai 2024]).