Diversitätspädagogik

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Dieser Artikel wurde am 7. Juni 2024 auf den Seiten der Qualitätssicherung eingetragen. Bitte hilf mit, ihn zu verbessern, und beteilige dich bitte an der Diskussion!
Folgendes muss noch verbessert werden: Wikifizieren Lutheraner (Diskussion) 23:31, 7. Jun. 2024 (CEST)

Diversitätspädagogik oder Diversitätsbewusste Bildung ist ein Ansatz der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, der Wertschätzung, Anerkennung und kritische Reflexion von Diversität (= Unterschiedlichkeit) in den Mittelpunkt ihrer Theorie und Praxis stellt.

Diversitätspädagogik bewegt sich in diesem Spannungsfeld zwischen Diversität als Ressource, als Problemfall und Diskriminierungsanlass[1] und versucht für unterschiedliche pädagogische Felder – Schule, Gemeinden, Institutionen, Vereine, Zivilgesellschaft – theoretische Grundlagen und Handlungsoptionen zu entwickeln und zu vermitteln. Damit reagieren die Erziehungswissenschaft sowie die Bildungswissenschaften auf eine veränderte Wahrnehmung von Diversität, die von der grundsätzlichen Bejahung von Vielfalt als Bereicherung bis hin zu ihrer Thematisierung als „Herausforderung“[2] reicht und in politischen und medialen Diskursen als „Überforderung“ problematisiert wird.[3]

Neben den Phänomenen wie Globalisierung und Migration geht es um vielfältige Aspekte von Diversität wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Ethnie, Sprache, Begabung/Behinderung/Beeinträchtigung, soziale Herkunft, sozioökonomischer Status, religiöse Zugehörigkeit und weltanschauliche Orientierung.[4]

Definition und Begriffsgeschichte

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Auseinandersetzung mit Diversität (im wissenschaftlichen Diskurs auch Heterogenität) ist in der pädagogischen Ideengeschichte und Praxis nicht neu, hat aber in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, vor allem in der Auseinandersetzung mit Diskriminierung[5] und Rassismus. Schon für Adorno war die einzig mögliche Antwort auf den Rassenwahn des Nationalsozialismus die Forderung nach einer Gesellschaft, in der „man ohne Angst verschieden sein kann“.[6] In den 1990er Jahren haben im deutschen Sprachraum vor allem Georg Auernheimer mit seiner Grundlegung einer Interkulturellen Pädagogik[7] und Annedore Prengel mit ihrem Buch Pädagogik der Vielfalt[8] einen starken Einfluss auf die erziehungswissenschaftlichen Diskurse zu Diversität und Heterogenität ausgeübt. Diese entwickelten sich, ungeachtet auch integrierender Ansätze, zunächst vor allem nach Zielgruppen in unterschiedlichen Verästelungen aus.

Eine Akzentuierung der Diversitätsdebatte zugunsten der Inklusion von Menschen mit Behinderung und Lernschwierigkeiten erfolgte durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-Behindertenrechtskonvention). Mit Bezug auf die Frauenrechtsbewegung entwickelten sich unterschiedliche pädagogische Ansätze einer feministischen Pädagogik[9] wie die geschlechtersensible Bildung, die Gender-Pädagogik und die geschlechtersensensible Pädagogik bis hin zu jüngeren Ansätzen einer Queer-Pädagogik.[10]

Durch die jüngeren Migrationsbewegungen nahm die Auseinandersetzung mit Diversität auch innerhalb der Erziehungs- und Bildungswissenschaft zu. In Abgrenzung zur „Ausländerpädogik“, die gutmeinend Fremdheitskonstrukte teilweise tradierte und verstärkte, wurden Konzepte einer inter- und transkulturellen Verwobenheit für das Verständnis von Diversität entwickelt.[11] Für die pädagogische Einlassung auf migrationsbedingte Wahrnehmung von Diversität im Sinne einer diskriminierenden „Besonderung“ steht das von Paul Mecheril herausgegebene Handbuch für „Migrationspädagogik“[12]. In Gebieten mit autochthonen Minderheiten wie in Südtirol/Italien und den auch slowenischsprachigen Gebieten Österreichs entwickelten sich Ausprägungen einer Mehrsprachigkeits- und Minderheitenforschung.[13] Theoretisch grundlegend dafür waren im deutschen Sprachraum u. a. die Forschungen von Ingrid Gogolin mit ihrem Konzept des „monolingualen Habitus“[14] und Marianne Krüger-Potratz[15].

Diese und weitere diversitätspädagogische Ausdifferenzierungen werden im Konzept der Intersektionalität als einem Analysemodell für sich wechselseitig verstärkende Mehrfachdiskriminierungen zusammengedacht, zugespitzt am Beispiel einer beeinträchtigten afrikanischen Frau aus einer sozial benachteiligten Schicht, die damit unterschiedlichen Diskriminierungen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus und sozialer Ungerechtigkeit ausgesetzt ist.

Ein weiteres theoretisches Analyseinstrumentarium bietet dafür der Postkolonialismus, der zum einen die Dekolonisation und politische Souveränität der ehemaligen Kolonien gegenüber ihren Kolonialmächten wissenschaftlich begründet, zum anderen aber ein Bewusstsein für das Fortbestehen imperialer Strukturen in verschiedenen Lebensbereichen wie z. B. der Politik und Ökonomie schaffen will.[16]

Die Vorstellung, dass Erziehungs- und Bildungsarbeit in homogenen Gruppen leichter falle und erfolgreicher wäre, verhindert in der pädagogischen Praxis wie im politischen und medialen Diskursen das Sich-Einlassen auf die gegebene Vielfalt. Dies führt dann vor allem für die Schule zu Forderungen einer stärkeren Selektion etwa durch die Einführung von Deutschförderklassen für Kinder aus zugewanderten Familien oder durch das Festhalten an sonderpädagogischen Einrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen.[17] Werden solche Maßnahmen einerseits mit dem Ziel einer spezifischeren und besseren Förderung durch getrennte Beschulung begründet[18], stoßen sie andererseits auf die Kritik sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung durch Separation statt Inklusion.[19] An diesen Fragen berühren sich Diversitätspädagogik und Inklusive Pädagogik im Sinne einer nicht ausgrenzenden Haltung.

Umsetzung und Verbreitung im Bildungssystem

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Diversitätspädagogik versucht die verschiedenen Ansätze zu integrieren, indem sie die Unterschiedlichkeit und Kontingenz von Differenzkategorien berücksichtigen, wie Geschlecht, Alter, Sprache, soziale, geographische und kulturelle Herkunft, sexuelle Orientierung, sozioökonomischer Status und weitere Kategorien, die potenziell zu einer Diskriminierung führen können. Diversitätsbewusste Pädagogik bekennt sich zu Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Teilhabe und Freiheit für alle Menschen.[20]

Viele pädagogische Institutionen, Schulen und Hochschulen haben bereits Richtlinien und Strategien zur Anerkennung von Vielfalt erlassen. Diversität bildet einen wichtigen Bestandteil vieler Bildungsangebote. In Österreich wurden mit dem Bundesrahmengesetz über die neue Ausbildung für Pädagoginnen und Pädagogen im Juli 2013 auch Gender- und Diversitätskompetenzen für die Pädagogikausbildung stärker verankert. Fachliche Schwerpunktsetzungen in der Hochschulbildung stellen das von Manfred Oberlechner-Duval 2014 initiierte Kompetenzzentrum Diversitätspädagogik an der PH Salzburg (Pädagogische Hochschule Salzburg) sowie das Masterstudium Diversitätspädagogik in Schule und Gesellschaft an der Universität Klagenfurt dar. Diesem bei seiner Einführung 2019 im deutschen Sprachraum einzigartige Studiengang[21] liegt nach seinem Initiator Hans Karl Peterlini ein pädagogisches Verständnis zugrunde, wonach Differenzen nie neutral sind, sondern sowohl Privilegien sichern als auch Angriffsfläche für Diskriminierung bieten können. So müsse Diversität in der pädagogischen Arbeit differenzsensibel wahrgenommen werden, um darauf eingehen zu können, ohne aber die Betroffenen auf ihre Diversitätsmerkmale zu reduzieren. Differenzen müssten sowohl gewürdigt als auch einer ständigen reflexiven „Verunschärfung“[22] ausgesetzt werden, um sowohl negative als auch positive Diskriminierung möglichst zu vermeiden und hinter den Kategorien die konkrete Person in ihrer Vielfalt an Eigenschaften und Interessen zu erkennen.[21][23]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Hans Karl Peterlini: Learning Diversity, Springer VS 2023, ISBN 978-3-658-40548-9, DOI:10.1007/978-3-658-40548-9, S. 182.
  2. Georg Auernheimer (Hrsg.), Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen. Opladen: Leske+Budrich 2001; Manfred Hohmann,, Interkulturelle Erziehung als Herausforderung für allgemeine Bildung, in: Gogolin, I./Krüger-Potratz, M./Neumann, U./Wittek, F. (Hrsg.), Interkulturelle Bildungsforschung. Migration und sprachliche Bildung, Bd. 15. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann, S. 29–45.
  3. Blume Bob, Migration Populistische Schulpolitik – eine Anleitung in 6 Schritten, Deutsches Schulportal, 8. November 2023, aktualisiert am 5. März 2024 (online, abgerufen am 7. Juni 2024).
  4. Vgl. Karima Benbrahim: Theoretische Grundlagen zum Konzept von Diversität. In: Karima Benbrahim (Hrsg.): Diversität bewusst wahrnehmen und mitdenken, aber wie? IDA-e.V., 2012, ISSN 1616-6027, S. 6–29.
  5. Vgl. Doris Liebscher/Heike Fritzsche: Antidiskriminierungspädagogik: Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen. VS Verlag für Sozialwissenschaften – Springer Fachmedien, 2010, ISBN 978-3-531-16784-8, DOI:10.1007/978-3-531-92011-5
  6. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1944/1997 (23. Aufl.), ISBN 978-3-518-01236-9, S. 114
  7. Georg Auernheimer: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. 8. überarbeitete Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, ISBN 978-3-534-25721-8
  8. Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Leske + Budrich, Opladen 1993, ISBN 3-8100-1163-0
  9. Annedore Prengel, Feministische Pädagogik. In: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 4. überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 95-14.
  10. vgl. Karsten Kenklies/Maximilian Waldmann (Hrsg.) Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2016, ISBN 978-3-7815-2137-7
  11. Mark Terkessidis, Interkultur. Berlin, Suhrkamp, 2010, ISBN 978-3-518-12589-2.
  12. Paul Mecheril, Handbuch: Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz 2016.
  13. vgl. u. a. Hans Karl Peterlini, Wir Kinder der Südtirol-Autonomie. Bozen-Wien: Folio 2003; Georg Gombos, Mit Babylon leben lernen. Aspekte einer interkulturellen Mehrsprachigkeit. Klagenfurt/Celovec: Drava 2007; Vladimir Wakounig, Der heimliche Lehrplan der Minderheitenbildung. Die zweisprachige Schule in Kärnten. Klagenfurt/Celovec: Drava 2008; Lynne Chisholm/Hans Karl Peterlini, Aschenputtels Schuh. Jugend und interkulturelle Kompetenz in Südtirol/Alto Adige. Ein Forschungsbericht. Meran: Edizioni Alpha Beta Verlag 2012.
  14. Ingrid Gogolin, Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster und New York: Waxmann 2008 (1. Auflage 1992)
  15. Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz (Hrsg.), Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich 2010 (2. Auflage)
  16. Robert J. C. Young: Postcolonialism. An Historical Introduction. Oxford, UK 2001, ISBN 0-631-20070-3, S. 57.
  17. Hans Karl Peterlini, Falsche Kinder in der richtigen Schule – oder umgekehrt? Auslotungen eines Perspektivenwechsels von selektiven Normalitätsvorstellungen hin zu einer Phänomenologie des ›So-Seins In: Jasmin Donlic/Elisabeth Jaksche-Hoffman, Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven. Bielefeld: transcript 2019, 41–58.
  18. Deutschförderklassen und Deutschförderkurse. In: bmbwf.gv.at. Abgerufen am 8. Juni 2024.
  19. Deutschförderklassen funktionieren nicht: 80 Prozent der Lehrer sind gegen getrennten Unterricht. In: kontrast.at. 10. Dezember 2020, abgerufen am 8. Juni 2024.
  20. Rudolf Leiprecht (Hrsg.), Diversitätsbewusste soziale Arbeit (= Reihe Politik und Bildung. 62). Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2011, ISBN 978-3-89974-686-0
  21. a b Master Diversitätspädagogik in Schule und Gesellschaft. In: Universität Klagenfurt. 2024, abgerufen am 8. Juni 2024.
  22. Hans Karl Peterlini, Learning Diversity. Wiesbaden: Springer VS 2023, S. 4. ISBN 978-3-658-40547-2 und 978-3-658-40548-9 (eBook). Open Access DOI:10.1007/978-3-658-40548-9.<ref
  23. „Die Bedeutung reflexiver Bildungswissenschaft in der Professionalisierung von Pädagog*innen“. (PDF; 2,15 MB) In: Österreichische Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen. 2023, abgerufen am 8. Juni 2024.