Iudex non calculat

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Iudex non calculat, auch Judex non calculat, deutsch „Der Richter rechnet nicht“, ist ein Rechtsspruch des Juristenlateins. Ihm zufolge können Rechenfehler in Urteilen einfach korrigiert werden. Im modernen Rechtsverständnis besagt er auch, dass ein Richter nicht nach der Zahl der Argumente urteilt, sondern nach ihrem Gewicht. Er dient ferner als scherzhafte Anspielung auf eine Zahlenscheu von Juristen. Die Herkunft der Sentenz ist unklar.

In ursprünglicher Bedeutung geht der Satz auf den römischen Juristen Aemilius Macer zurück, der im 3. Jahrhundert lebte. Macer schrieb, dass Rechenfehler in einem Urteil ohne weiteres nachgebessert werden können und kein Grund sind, in Berufung zu gehen. Als Beispiel nennt er eine irrtümliche Addition von 50 und 25 zu 100 als Bestandteil eines Urteils. Quelle ist Macers zwischen 230 und 235 n. Chr. entstandene Schrift De appelationibis libri II („Zwei Bücher über Berufungen“). Sie wird in den 533 n. Chr. erschienenen Digesten von Justinian I., einer von diesem römischen Kaiser veranlassten Rechtssammlung, zitiert: „Item si calculi error in sententia esse dicatur, appellare necesse non est“, „Ebenso ist es nicht notwendig, Berufung einzulegen, wenn gesagt wird, dass in der Berechnung des Urteils ein Fehler vorliegt“.[1]

Ähnlich gemeint und ebenfalls auf Justinians Rechtssammlungen zurückgehend sind die Sprüche „Error calculi non nocet“, „Ein Rechenfehler schadet nicht“,[2] und „Falsa demonstratio non nocet“, „Eine falsche Bezeichnung schadet nicht“. Mit „Iudex non calculat“ verdeutlichen alle drei, dass solche Fehler im Rechtsverkehr unaufwändig beseitigt werden können.[3]

Die Verkürzungen „Iudex non calculat“ und „Error calculi non nocet“ sind für die Zeit Justinians nicht belegt. „Error calculi non nocet“ kommt im Spätmittelalter auf, etwa in einem Kommentar des aphorismenfreudigen Rechtsgelehrten Baldus de Ubaldis (1327–1400).[4] „Iudex non calculat“ ist erst im 19. Jahrhundert nachweisbar.

Neben der ursprünglichen Aussage, dass Rechenfehler ein Urteil nicht beeinträchtigen und reine Rechenarbeit im Urteil keine Rechtskraft erlangt,[5] haben sich weitere Bedeutungen von Iudex non calculat entwickelt: Allgemein, dass sich Gerechtigkeit nicht durch Rechnen ermitteln lässt, sondern durch Wertung,[6] und konkret, dass der Richter nicht die Argumente zählt, sondern sie gewichtet und abwägt.[7] Gelegentlich wird die Parömie so verstanden, als habe ein Gericht nicht auch noch die wirtschaftlichen Folgen eines Urteils zu bedenken.[8] Auch eine „mathematisierte Strafzumessung“ wurde diskutiert.[9] Im Sinne von „Wer Jurist ist, kann nicht rechnen“ dient die Wendung als ernst gemeinte[10] oder kalauerhafte[11] Anspielung auf eine Zahlenscheu von Juristen; von ihnen dürften keine mathematischen Interessen oder Fähigkeiten erwartet werden.

Richten und Rechnen

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Tatsächlich verhalten sich Jura und Mathematik nicht, wie der Rechtsspruch suggeriert, antagonistisch zueinander, sondern weisen Ähnlichkeiten und Überschneidungen auf.[12] Die „quantitative Rechtswissenschaft“ fasst juristische Sachverhalte in Zahlen und ist damit Teil der empirischen Rechtswissenschaft, dem Gegenstück der in Deutschland dominierenden normativen Rechtswissenschaft.[13] In den USA, wo ein Grundsatz „Iudex non calculat“ nicht beachtet wird, ziehen Richter zur Entscheidungsfindung auch mathematische Theorien und Methoden heran. Sie haben damit das Fachgebiet der Rechtsökonomik begründet.[14] Die Sentenz dient auch der verhaltenstheoretischen Erörterung von Massenklagen und deren Vertretung vor Gericht.[15]

Unklare Herkunft

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Obwohl behauptet wird, „schon die alten Römer“ hätten den Satz benutzt,[16] sind Herkunft und Auftauchen von „Iudex non calculat“ bisher unbekannt. Auf einem Symposion 2017 trug der Jurist Uwe Wesel vor, in lateinischen, deutschen und englischen juristischen Zitatsammlungen und Quellenregistern noch bis ins frühe 20. Jahrhundert keine Belege gefunden zu haben. Nach seinem Vortrag erhielt er Hinweise auf Funde in einem juristischen Kommentar von 1894 und in einer medizinischen Veröffentlichung von 1852, die Wesel in den 2019 erschienen Tagungsband aufnahm.[17]

1894 führte Kammergerichtsrat Willibald Evers in der Beschreibung einer preußischen „Kalkulatur“, einer Rechnungsstelle, aus: „Die wesentlich altpreußische Einrichtung der ‚Kalkulatur‘ ist Ausfluß des – in seiner Allgemeinheit übrigens nicht zutreffenden – Satzes: ‚Iudex non calculat‘.“[18] Kurz darauf wies auch ein weiterer preußischer Jurist den Satz zurück. Oberlandesgerichtsrat Hermann Meyer stellte 1898 in einer Buchbesprechung fest: „Woher eigentlich der sonderbare Satz kommt: Judex non calculat, ist mir nicht bekannt.“[19]

1852 begann der Mediziner Joseph Hermann Schmidt eine Abhandlung über die Messung der Länge von Nabelschnüren mit der Bemerkung: „Iudex non calculat – vom Arzte möchte man dasselbe sagen“,[20] die bereits eine Bekanntheit der Sentenz aufzeigt. Um Belege für eine Verwendung vor 1850 zu finden, rief der Rechtswissenschaftler Hanjo Hamann 2024 einen bis zum 30. Juni 2024 laufenden Wettbewerb aus.[21] Einen Aufsatz über eigene Funde, 2023 veröffentlicht, zog er zurück.[22]

Moderne Rechtslage

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Im deutschen Recht ist der „korrigible Urteilsmangel“[23] in § 319 ZPO enthalten. Satz 1 lautet: „Schreibfehler, Rechnungsfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die in dem Urteil vorkommen, sind jederzeit von dem Gericht auch von Amts wegen zu berichtigen.“[24] Er beruht auf dem fast gleich lautenden § 290 der Civilprocessordnung des Deutschen Reichs von 1877.[25] Im österreichischen Recht lautet § 419 ZPO ähnlich,[26] in der Schweiz Artikel 334 ZPO.[27]

  • Falk Hess: Judex non calculat. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2012, Band 2, s. v.
  • Uwe Wesel: Iudex non calculat. In: Susanne Hähnchen (Herausgeberin): Methodenlehre zwischen Wissenschaft und Handwerk. Erstes Bielefelder Kolloquium. Mohr Siebeck, Tübingen 2019, S. 57–61, ISBN 978-3-16-156892-3

Einzelnachweise

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  1. Zitierung: Macer Dig. 49, 8, 1, 1. Die Stelle lautet: Omini nostri sacratissimi princeps Iustiniani iuris enucleati ex omni vetere iure collecti digestorum seu pandectarum, in: The Latin Library, online, abgerufen am 6. Juni 2024
  2. Zitierung: Cod. Just. 2, 5, 1 Diokletian. Dort wird eine Weisung der gemeinsam herrschenden römischen Kaiser Diocletian und Maximian zitiert: „Errorem calculi ... veritati non afferre praeiudicum“, „Rechenfehler ... beeinträchtigen die rechtmäßige Urteilsfindung nicht.“ In: Codex Justinianus. Das Gesetzeswerk des römischen Zivilrechts. Vollständig ins Deutsche übertragen. Die Constitutionen des Corpus Iuris Civilis. Neu übersetzt von Rudolf Haller, Markgröningen 2018, online, abgerufen am 6. Juni 2024
  3. Falk Hess: Judex non calculat. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Auflage 2012, Band 2 s. v.
  4. Baldo degli Ubaldi: In primum, secundum, & tertium codicis libros commentaria, in einer Ausgabe Venedig 1568 S. 129 r., online, abgerufen am 6. Juni 2024
  5. Detlef Liebs: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. C. H. Beck, 7. Auflage München 2007, S. 114, ISBN 978 3406 5629 45, Leseprobe online, abgerufen am 6. Juni 2024. Ebenso Nikolaus Benke, Franz-Stefan Meissel: Juristenlatein, 2. Auflage, Wien u. a. 2002, s. v.
  6. o. Vf.: Judex non calculat – Die Rechtsprechung zu Gegenstandswerten bei Widerruf von Verbraucherdarlehnsverträgen. In: Anwaltsgebühren Spezial. Zeitschrift für das gesamte Gebührenrecht, Heft 8+9/2016, S. 369, Leseprobe online, abgerufen am 6. Juni 2024
  7. so Michael Kleiber: Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, Tübingen 2014, S. 101, ISBN 978-3-16-153051-7
  8. Friedrich Eberhard Schnapp: Juristenlatein – häppchenweise. In: JURA – Juristische Ausbildung, Dokumentenserver, S. 19, online, abgerufen am 6. Juni 2024
  9. Wolfgang Köberer: Iudex non calculat. Über die Unmöglichkeit, Strafzumessung sozialwissenschaftlich-mathematisch zu rationalisieren. Lang, Frankfurt am Main 1996, ISBN 978-3-631-30277-4 (= Diss. Frankfurt am Main 1995; Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 49)
  10. Götz Schulze: Iudex non calculat?. In: Juristische Rundschau Nr. 2 (1996), S. 51 f., über eine Fristberechnung. - Helmut Schulz-Schaeffer: Iudex non calculat, in: JuristenZeitung Nr. 6 (1990) vom 16. März, S. 286 f., über die Berechnung einer Preissteigerung in einem BGH-Urteil von 1963
  11. Hanjo Hamann: Müssen Richter mit allem rechnen? Empirische Realitäten im Rechtssystem. Forschungsbericht 2016 des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, online, abgerufen am 19. Juni 2024. Zur gerichtlichen Überprüfung des Gerrymandering in den USA: Arthur Dyevre u. a.: Iudex calculat. Why constitutional Scholars Should Surmount their Allergy to Numbers. In: Verfassungsblog, 30. Oktober 2018, online, abgerufen am 19. Juni 2024
  12. Tanja Ihden: „Iudex non calculat“. Die Erfordernis „statistischer Belesenheit“ im (scheinbar) zahlen- und formelleeren Raum. In: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv, Heft 3–4 (2019), S. 257–268, online, abgerufen am 19. Juni 2024. – Jörg Risse: Mathematik, Statistik und die Juristerei. In: NJW 2020, S. 2383-87. – Weitere Literatur bei Martin Riemer: Rechtswissenschaften und Mathematik – doch ähnlicher als gedacht? In: dr-riemer.de, Blogeintrag vom 24. Februar 2023, online, abgerufen am 18. Juni 2024
  13. Corinna Coupette, Andreas M. Fleckner: Quantitative Rechtswissenschaft. Forschungsbericht 2017 des Max-Planck-Instituts für Steuerrecht und öffentliche Finanzen, online, abgerufen am 18. Juni 2024
  14. Michael Schleich: Kosteneinsparpotenziale einer effizienteren Landesbauordnung. Springer Vieweg, Wiesbaden 2018, S. 54, ISBN 978-3-658-20865-3 (=Diss. Wuppertal 2017), Leseprobe online, abgerufen am 6. Juni 2018
  15. Alexander Biard: Iudex non calculat? Judges and the Magnitude of Mass Litigation from a Behavioral Perspective. In: European Journal of Risk Regulation Nr. 4 (2015), S. 597–612
  16. so Jörg Risse: Mathematik, Statistik und die Juristerei. In: NJW 2020, S. 2383-87. – Curt Gruneberg: Book Review, in: University of Kansas City Law Review, Band 18 (1949), S. 96, zitiert nach Otto Vervaart: Calculating the verdict or not?, in: Rechtsgeschiedenis Blog, 17. April 2024, online, abgerufen am 23. Juni 2024
  17. Uwe Wesel: Iudex non calculat. In: Susanne Hähnchen (Herausgeberin): Methodenlehre zwischen Wissenschaft und Handwerk. Erstes Bielefelder Kolloquium. Tübingen 2019, S. 57–61, ISBN 978-3-16-156892-3
  18. Willibald Peters: Die Geschäftsordnung für die Gerichtsschreibereien der Preußischen Amtsgerichte, Berlin 1894, S. 45, online, abgerufen am 23. Juni 2024
  19. Hermann Meyer, Besprechung von Hermann Müller: Die preussische Justizverwaltung. Eine systematische Darstelung der die administrativen Geschäfte der Justiz betreffenden Vorschriften, 4. Auflage Berlin 1892, in: Zeitschrift für deutschen Civilprocess, Band 8 (1898), S. 296, online, abgerufen am 14. Juni 2024
  20. Joseph Hermann Schmidt: Zur Lehre von der zu kurzen oder zu langen umschlungenen und vorgefallenen Nabelschnur. In: Annalen des Charité-Krankenhauses in Berlin und der übrigen königlichen medicinisch-chirurgischen Lehr- und Krankenanstalten zu Berlin, Band 2 (1852), S. 216, online
  21. Otto Vervaart: Calculating the verdict or not?, in: Rechtsgeschiedenis Blog, 17. April 2024, online, abgerufen am 23. Juni 2024
  22. Hanjo Hamann: ”iudex non calculat”: A Scavenger Hunt in Legal History, SSRN, online, offline, abgerufen am 24. Juni 2024
  23. Kai Wolter: Die Urteilsberichtigung nach § 319 ZPO, Waxmann, Münster u. a. 1999 (= Diss. Münster 1999; Internationale Hochschulschriften, Band 314)
  24. Zivilprozessordnung, § 319 Berichtigung des Urteils, online, abgerufen am 6. Juni 2024
  25. Lothar von Seuffert, Civilprocessordnung für das Deutsche Reich, S. 250, Nördlingen 1879, online, abgerufen am 6. Juni 2024
  26. § 419 ZPO, online, abgerufen am 6. Juni 2024
  27. Schweizerische Zivilprozessordnung, online, abgerufen am 6. Juni 2024