Volkskanzler

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Begriff Volkskanzler ist eine politische Bezeichnung, die im Ausklang des Ersten Weltkriegs eine Forderung nach demokratisch-sozialistischen Politikern artikulierte. Ab 1933 wurde er für ein Jahr monopolartig von der NS-Propaganda instrumentalisiert. Nach Ende der Diktatur wird die ursprüngliche Bedeutung sowohl direkt als auch indirekt auf namhafte demokratische Staatspolitiker wie Ludwig Erhard, Bruno Kreisky übertragen. Der Parteiobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs Herbert Kickl bezeichnete sich selbst so.

Ursprüngliche Bedeutung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff ist erstmals in der literarischen Zeitschrift Echo im Mailand der 1830er-Jahre belegbar und wird im Hinblick auf die Schöne Literatur verwendet.[1] Als älteste politische Adaption gilt ein am 11. Oktober 1917 publizierter Artikel im Arbeiterwille, einer steirischen sozialdemokratischen Parteizeitung, worin die Forderung nach einem „Volkskanzler“ zum Ausdruck kommt. Seine Politik solle sich nach „parlamentarischen Grundsätzen“ orientieren.[2] Im November 1918 thematisierte eine Kolumne im Berliner Tageblatt den Friedensappell von Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, im Kontext der politisch hochexplosiven Übergangszeit zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Der namentlich nicht genannte Autor charakterisiert den Sozialdemokraten und späteren ersten Reichspräsidenten Ebert als „Volkskanzler“.[3][4]

Verwendung während der NS-Zeit

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der Volkskanzler (Hitler-Biographie)

Ab 1933 verdichteten sich die Versuche, den Begriff monopolartig für die NS-Propaganda in Beschlag zu nehmen. Anfänglich benutzte die NS-Propaganda diese Bezeichnung im Zuge der Machtergreifung 1933 stets im Zusammenhang mit Adolf Hitler. Der Beiname wurde auf Plakaten, im Völkischen Beobachter, aber auch in den Reden des Propagandaministers Joseph Goebbels verwendet.[5]

1934 wurde die inoffizielle Bezeichnung Hitlers als „Volkskanzler“ aufgrund des Gesetzes über das „Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ durch den offiziellen Titel „Führer und Reichskanzler“ verdrängt.[6] Im Duden des Jahres 1941 war unter „Volkskanzler“ zu lesen: Bezeichnung für Hitler zum Ausdruck der Verbundenheit zwischen Volk und Führer, wenngleich die Regierung ab 1939 der Presse geboten hatte, Hitler nur noch als Führer zu titulieren. Danach ist der Terminus aus dem Sprachgebrauch der NS-Propaganda weitgehend verschwunden.[7]

Verwendung in Österreichs Zweiter Republik

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auch in der Zweiten Republik wurden Politiker als Volkskanzler bezeichnet, beispielsweise Leopold Figl[8] und Bruno Kreisky[9] oder nannten sich selbst als solcher, wie Alfred Gusenbauer[10][11] oder Herbert Kickl.[5][12][13][14] Kickl benutzt den Begriff umfangreich in der FPÖ-Kampagne für die Nationalratswahl in Österreich 2024.

Der Tiroler Aktionist David Prieth kritisierte diese Verwendung und klärt über die frühere Nutzung des Begriffs durch Hitler auf.[15] Dazu ließ er den Begriff in Österreich bis 2034 als Marke eintragen.[16] Prieths Intention ist die Umcodierung des Begriffs und die „Deutungshoheit über Sprache, Begriffe und Medienöffentlichkeit zurückzuerlangen“.[17]

Verwendung in der Bundesrepublik Deutschland

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Kurt Michael Caro: Erhard, der Volkskanzler

Im Anschluss an die politisch strenge Ausrichtung Konrad Adenauers positionierte sich sein Nachfolger Ludwig Erhard als überparteilicher, liberaler und kooperativer „Volkskanzler“.[18][19][20][21][22][23]

Helmut Schmidt wurde wegen seiner stringenten Haltung, besonders in Krisenzeiten wie der Ölkrise und dem Terror der RAF im Deutschen Herbst, wiederholt als „Volkskanzler“ bezeichnet.[24]

Ein Volkskanzler, 2019

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Maximilian Steinbeis, Jurist und Schriftsteller, veröffentlichte im September 2019 einen Essay mit dem Titel „Ein Volkskanzler“. Darin zeigte er auf, wie das politische System der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise der Länder durch eine autoritäre, populistische Politik gefährdet werden kann.[25] In der Folge wurde sein Text von mehreren Theatern für die Bühne aufbereitet.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Echo. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Mode in Italien. In: Echo. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Mode in Italien. Mailand November 1833, S. 366.
  2. H.L.: Die Zauderpolitik der Mehrheitsparteien des Deutschen Reichstages. Das System versagt. In: Arbeiterwille. Band 28, Nr. 279, 11. Oktober 1917, S. 2.
  3. Berliner Tageblatt. Band 47, Nr. 590/591, November 1918.
  4. Christoph Hamann: Demokratie in Berlin: Orte, Ereignisse, Wendepunkte ; 1918 - 2000. Hentrich und Hentrich, Teetz 2001, ISBN 978-3-933471-24-6, S. 92.
  5. a b Markus Sulzbacher: Die Geschichte des Begriffs "Volkskanzler": Von Hitler bis Kickl. In: derstandard.at. 30. November 2023, abgerufen am 14. Januar 2024.
  6. Faksimile Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs und Erlaß des Reichskanzlers zum Vollzug des Gesetzes über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs vom 1. August 1934, 1. und 2. August 1934 / Bayerische Staatsbibliothek (BSB, München). Abgerufen am 20. Februar 2024.
  7. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. 2. durchgesehene und überarbeitete Auflage. New York Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-019549-1, S. 666–667.
  8. Friedrich Weissensteiner: An den Hebeln der Macht: die Parteiführer der Zweiten Republik. Ed. Atelier, Wien 2005, ISBN 978-3-902498-02-1, S. 11.
  9. Bernd Marin: Klassekanzler Kreisky. In: derstandard.at. 17. Januar 2011, abgerufen am 14. Januar 2024.
  10. Redaktion: Porträt: Zum Volkskanzler schaffte es Gusenbauer nie. In: derstandard.at. 8. Juli 2008, abgerufen am 14. Januar 2024.
  11. Robert Kriechbaumer: "Es reicht!": Die Regierung Gusenbauer-Molterer. Österreich 2007/2008. In: Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg. 1. Auflage. Band 55. Böhlau Verlag, Wien / Köln / Weimar 2016, ISBN 978-3-205-20252-3, S. 358.
  12. Bundesrat billigt Zweier-Vorstand und neue Aufgaben für Nationalfonds (PK1370/07.12.2023). "Parlamentskorrespondenz Nr. 1370 vom 07.12.2023". In: Parlament Österreich. Abgerufen am 14. Januar 2024.
  13. David Wineroither: Kanzlermacht - Machtkanzler? die Regierung Schüssel im historischen und internationalen Vergleich. Gesamttitel: Politikwissenschaft 165. LIT, Wien / Berlin / Münster 2009, ISBN 978-3-643-50051-9, S. 266.
  14. https://www.derstandard.at/story/3000000197679/die-geschichte-des-begriffs-volkskanzler-von-hitler-bis-kickl
  15. Anti-"Volkskanzler"-Kampagne ärgert die FPÖ. Abgerufen am 5. September 2024 (österreichisches Deutsch).
  16. Judith Belfkih: Der patentierte Volkskanzler. In: profil.at. 4. September 2024, abgerufen am 4. September 2024.
  17. Hellin Jankowski: Darf Kickl sich auf Plakaten „Volkskanzler“ nennen? In: Die Presse. 5. September 2024, abgerufen am 5. September 2024.
  18. Erhard, Ludwig Wilhelm. In: Deutsche Biographie. Abgerufen am 25. Januar 2024.
  19. Lydia Harder: Deutscher Bundestag - Ost-West-Konflikt und Ende einer Ära (1961 bis 1965). Abgerufen am 25. Januar 2024.
  20. Klaus Hildebrand: Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969. Stuttgart 1984, ISBN 978-3-7653-0328-9, S. 30–35.
  21. Katharina Schmidt: Der Wundermann Ludwig Erhard. Mythos, Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit. Herbert von Halem Verlag, 2024, ISBN 978-3-86962-706-9, S. 311.
  22. Henrik Gast: Bundeskanzler und Parteiführer – zwei Rollen im Konflikt? Parteiendemokratie, Parteivorsitz und politische Führung. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen. Band 39, Nr. 1, 2008, S. 50–51 (42-60 S.).
  23. Guido Knopp, Alexander Berkel: Kanzler: die Mächtigen der Republik. Überarb. und erw. Ausg Auflage. C. Bertelsmann, München 2002, ISBN 978-3-570-00645-0, S. 9, 118.
  24. Doris Gerstl: Wahlplakate der Spitzenkandidaten der Parteien: Die Bundestagswahlen von 1949 bis 1987. Böhlau, Köln 2020, ISBN 978-3-412-51896-7, S. 491.
  25. Maximilian Steinbeis: Ein Volkskanzler. In: Verfassungsblog. 9. September 2019, abgerufen am 18. Januar 2024.