Vorwahl (Politik)
In einer Vorwahl wird ein Kandidat, der in der Regel einer politischen Partei angehört, für eine später anstehende reguläre Wahl bestimmt. Unter den verschiedenen Formen der politischen Kandidatenaufstellung unterscheidet sich die Vorwahl von exklusiveren Verfahren wie der Ernennung eines Kandidaten durch die Parteispitze oder der Wahl durch eine Delegiertenversammlung dadurch, dass ein breiterer Personenkreis zur Kandidatenauswahl teilnahmeberechtigt ist.
Vorwahlen in den USA
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Am bekanntesten sind Vorwahlen in den Vereinigten Staaten, wo Vorwahlen zur innerparteilichen Kandidatenfindung für sämtliche wichtigen politischen Ämter und Mandate üblich sind. In einem speziellen Prozess, der Präsidentschaftsvorwahl in den Vereinigten Staaten, nominieren die beiden großen nationalen Parteien des Landes (Demokraten und Republikaner) ihre Präsidentschaftskandidaten, üblicherweise vom Januar bis Juni des Wahljahres jeweils in Abstimmungen in den Bundesstaaten, im District of Columbia und in den Außengebieten, zuletzt 2020 mit diesem Ergebnis. Dabei werden teilweise Wahlen (Primarys) und teilweise Versammlungen (Caucuses) abgehalten.
Vorwahlen in anderen Ländern
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Deutschland
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Deutschland wurde die Option der demokratischen Vorwahl bereits im Kontext des Gründungsprozesses der Bundesrepublik diskutiert. Obwohl sich ein einheitliches Vorwahlsystem bisher nicht durchgesetzt hat, gab es immer wieder Überlegungen, wie die Kandidaten für eine Wahl in hohe politische Ämter (z. B. das des Bundeskanzlers) durch Vorwahlen bestimmt werden könnten. Die Befürworter versprechen sich hiervon eine größere Beteiligung der Bürger am demokratischen Prozess sowie eine höhere Anerkennung des späteren Amtsträgers.
Der ehemalige SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel regte im Sommer 2010 an, den künftigen Spitzenkandidaten seiner Partei durch eine Vorwahl bestimmen zu lassen. Im Jahr darauf veröffentlichte der Parteivorstand einen entsprechenden Entwurf, der jedoch aufgrund interner Widerstande (insbesondere durch den Seeheimer Kreis) nicht weiter verfolgt wurde.[1]
Als erste Partei in Deutschland bestimmte Bündnis 90/Die Grünen ihre Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013 durch eine Urwahl.[2] Hierbei waren alle Parteimitglieder berechtigt ihre Stimme einem Kandidatenduo (zwei Kandidaten aufgrund der geltenden Geschlechterparität) zu geben.[3]
Italien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Eine Vorwahl fand am 16. Oktober 2005 auch in Italien statt, um den Chef des linksgerichteten Bündnisses zu wählen. Die Wahlbeteiligung war unerwartet groß und der Sieger (mit etwa drei Vierteln der Stimmen) war Romano Prodi.
Frankreich
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Frankreich hat die Parti Socialiste mehrmals Vorwahlen zur Bestimmung des Präsidentschaftskandidaten durchgeführt: 1995 und 2006 (für die Wahl 2007) waren dabei nur Parteimitglieder stimmberechtigt. 2011 (für die Wahl 2012) waren bei der Vorwahl (Primaires Citoyennes) alle Bürger stimmberechtigt, sofern sie ein Bekenntnis zu den Werten der Linken ablegten und einen Beitrag von mindestens einem Euro zahlten.
Japan
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Japan waren Vorwahlen unterschiedlicher Form für die Wahl des Vorsitzenden der Liberaldemokratischen Partei (LDP) lange in den Parteistatuten verankert. Wegen der dominanten Position der LDP entschied die Wahl vor 2009 in der Regel über die Besetzung des Premierministeramtes. Allerdings wurden die nominell vorgesehenen Vorwahlen unter Mitgliedern und Anhängern der Partei meist durch nichtöffentliche Verhandlungen der Faktionen oder Abstimmungen unter Abgeordneten ersetzt. Die bis 2016 zweitgrößte Demokratische Partei verwendete nominell ein ähnliches Verfahren, das aber ebenfalls selten angewendet wurde.
Lateinamerika
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In einigen lateinamerikanischen Ländern wie in der Dominikanischen Republik finden Vorwahlen nach US-Muster statt. Seit 1999 gibt es in Uruguay Vorwahlen der Einzelkandidaten für die Präsidentschaftswahl (siehe die Vorwahlen 1999, 2004 und 2014).
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Allgemeines
- Heinrich Neisser (Hrsg.): Vorwahlen und Kandidatennominierung im internationalen Vergleich. Signum, Wien 1992, ISBN 3-85436-129-7.
- Giulia Sandri (Hrsg.): Party primaries in comparative perspective. Ashgate, Farnham u. a. 2015, ISBN 978-1-4724-5038-8.
Länderspezifisches
- Sven T. Siefken: Vorwahlen in Deutschland? Folgen der Kandidatenauswahl nach U.S.-Vorbild. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen. Bd. 33, 2002, H. 3, S. 531–550.
- Marty Cohen: The party decides. Presidential nominations before and after reform (= Chicago studies in American politics.). University of Chicago Press, Chicago 2008, ISBN 0-226-11237-3.
- Elaine C. Kamarck: Primary politics. How presidential candidates have shaped the modern nominating system. Brookings Institution Press, Washington, D. C. 2009, ISBN 978-0-8157-0292-4.
- Robert G. Boatright: Congressional primary elections. Routledge, New York u. a. 2014, ISBN 978-0-415-74199-6.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Andreas Gross: Vorwahlen: Amerikas Demokratie ist viel besser als ihr Ruf. In: Die Welt, 17. April 2016 (über Funktion und Geschichte der Vorwahlen in den USA).
- Thomas Gutschker: Eine neue Art von Wahlkampf: Vorwahlen bald auch in Deutschland? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Dezember 2016 (über die Etablierung von Vorwahlen in Frankreich und mögliche Auswirkungen auf Deutschland).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Teresa Nentwig: Debatte über Vorwahlen: Frischzellenkur für die Demokratie. In: Der Spiegel. 11. März 2012, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 24. Januar 2023]).
- ↑ Florian Gathmann: Grünen-Parteitag beschließt Spitzenkandidaten-Urwahl. In: Der Spiegel. 2. September 2012, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 24. Januar 2023]).
- ↑ Lisa Caspari: Urwahl: Grüne Gruppentherapie. In: Die Zeit. 7. Januar 2017, abgerufen am 24. Januar 2023.