996 (Arbeitswoche)

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996 (chinesisch 996工作制, Pinyin 996gōngzuòzhì) heißt in vielen chinesischen Firmen der Alltag, von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche zu arbeiten.[1] Dies entspricht einer Arbeitszeit von 72 Stunden pro Woche.[2]

Beschreibung und Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Reihe chinesischer Internetunternehmen hat dieses System als offiziellen Arbeitsplan übernommen. Kritiker argumentieren, dass das System 996 ein eklatanter Verstoß gegen das chinesische Recht ist.[3][4] Es wurde als „moderne Sklaverei“ bezeichnet.[5]

Der Kampf für den Achtstundentag der Arbeiterbewegung, die schon im 19. Jahrhundert Erfolge zeigte, wird von der kommunistischen Partei Chinas offiziell anerkannt. Im Arbeitsgesetzbuch Chinas heißt es, dass die Arbeitszeit täglich nicht mehr als acht Stunden betragen soll, und im Durchschnitt nicht mehr als 44 Stunden pro Woche. Maximal 36 Überstunden pro Monat sind erlaubt, und die Abstimmung mit einer Gewerkschaft ist erforderlich. Schon im System der Wanderarbeiter hatte sich jedoch gezeigt, dass diese Regelungen praktisch nicht greifen. Da Überstunden besser entlohnt werden, haben viele Arbeiter freiwillig täglich 3–4 Stunden mehr gearbeitet.[6] In den Internetfirmen werden zusätzlich Taxigutscheine an die Angestellten vergeben, die bis abends im Büro geblieben sind.

Was vor dem Gesetz freiwillig erscheinen will, zeigt sich in der Praxis verpflichtend. Alibaba-Group-Gründer Jack Ma gilt als Fan der 996-Arbeitswoche.[7] Er drückte aus, dass in Einstellungsgesprächen für Alibaba schon die Erwartung für 12-Stunden-Tage vermittelt wird. Er möchte karriereorientierte junge Leute haben, und auch Richard Liu vom Konkurrenten JD bezeichnet weniger hart arbeitende Angestellte als Faulpelze.[8] Sie verweisen darauf, dass der Westen zuerst durch die protestantische Arbeitsethik reich geworden ist.

Um sich von China weniger abhängig zu machen, hat Apple mit Foxconn begonnen, einige Werke in Indien zu errichten. Die dort bis dahin geltenden Arbeitsschutzvorschriften, die etwa Schichten auf 9 Stunden begrenzten, wurden in diesem Zusammenhang in Karnataka im März 2023 flexibilisiert, und erlauben nun ebenfalls bis zu 12 Stunden pro Tag. Auch das Maximum von 48 Stunden pro Woche wurde aufgehoben, und die erlaubten Überstunden je Drei-Monats-Perioden wurden von maximal 75 auf 145 Stunden angehoben.[9]

996.icu[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im März 2019 wurde über GitHub ein „Anti-996“-Protest gestartet.[5][10][11] Chinesische Programmierer propagierten dies unter der ironischen Abkürzung "996.icu", wobei ICU meint, dass man solange arbeitet, bis man auf der Intensivstation endet (englisch intensive care unit).[11][12] Im Jahr 2021 erkannte erstmals eine akademische Studie chinesischer Institutionen die Existenz von „exzessiven Arbeitskulturen wie 996“ an.[13]

Das Oberste Volksgericht und das Ministerium für Personalwesen und soziale Sicherheit erklärten im August 2021, dass Arbeitnehmer ein Recht auf „Ruhe und Urlaub“ haben. Die 996-Arbeitswoche „verstößt in schwerwiegender Weise gegen das Gesetz zur Verlängerung der Höchstarbeitszeit und sollte als ungültig betrachtet werden“. Die behördliche Stellungnahme steht im Kontext eines vermehrten Durchgreifens der Regierung bei Privatunternehmen. So starben im Januar 2021 zwei Mitarbeiter des E-Commerce-Unternehmens Pinduoduo (PDD) an den Folgen von Überarbeitung, was zu einem Reagieren der chinesischen Behörden führte.[14]

Closed-loop[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Ausbeutung der langen Arbeitswochen wurde unter den Bedingungen der Coronakrise verschärft. Die chinesische Regierung wendete hierbei eine strenge Null-Covid-Strategie mit Lockdown und Quarantäne an. Um die Produktion dennoch aufrechtzuerhalten, wurde ein closed loop-System (englisch für ‚geschlossenes System‘) ermöglicht, bei dem Arbeiter zwischen Wohnheim und Arbeitsplatz pendeln dürfen. Wer keinen Platz in der Fabriksiedlung hatte, konnte auch Matratzen im Werk zur Übernachtung nutzen. Als Ausgleich wurden die Bonuszahlungen für Überstunden deutlich erhöht.

Diese Strategie funktionierte bei kurzen Lockdowns im Frühjahr 2022.[15][16] Im Sommer und Herbst 2022 kam es jedoch zu langen Lockdowns in Chengdu und Shenzhen, die im November in gewalttätigen Protesten mündeten. Arbeiter beklagten das Ausbleiben von Bonuszahlungen, dass sie auf dem Fabrikgelände de facto eingesperrt sind, und die Wohnbedingungen schlecht sind.[17] Betroffen waren insbesondere die Foxconn-Werke, die für Apple arbeiten („iPhone-City“), da es hier einen Covid-Ausbruch gegeben hatte, und man die Produktion dennoch aufrechterhalten wollte, indem man die versprochenen Bonuszahlungen teils vervierfachte.[18] Noch bei den 996.icu-Protesten 2019 hatte Apple hier festgestellt, dass alle Überstunden freiwillig sind und Bonuszahlungen korrekt erfolgen.[19]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Warum Chinas Generation Z mit dem Aussteigertum liebäugelt | heise online, abgerufen am 2. August 2021
  2. China: Wie Mitarbeiter sich gegen die 72-Stunden-Woche wehren | STERN.de, abgerufen am 2. August 2021
  3. Ep. 42: To 996, or Not to 996, That Is the Question – Pandaily, abgerufen am 3. August 2021 (englisch)
  4. China: Widerstand gegen „996“-Arbeitswoche – news.ORF.at, abgerufen am 3. August 2021
  5. a b How managers use culture and controls to impose a ‘996’ work regime in China that constitutes modern slavery – Wiley Online Library, abgerufen am 3. August 2021 (englisch)
  6. Jutta Lietsch: Neues Bewusstsein - Wanderarbeiter in China. TAZ, 5. Juli 2010;.
  7. Alibaba-Chef Jack Ma verteidigt chinesische Überstundenkultur „996“ – spiegel.de, abgerufen am 2. August 2021
  8. Serenitie Wang, Daniel Shane: Jack Ma endorses China’s controversial 12 hours a day, 6 days a week work culture. CNN, 15. April 2019; (englisch).
  9. John Reed, Kathrin Hills: Apple and Foxconn win labour reforms to advance Indian production plans. Financial Times, 10. März 2023;.
  10. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/acfi.12682
  11. a b China Tech Workers Protest Long Work Hours in Online Campaign | Voice of America, abgerufen am 3. August 2021 (englisch)
  12. Das Gegensatzwort 955.wlb war nur kurzlebig, mit wlb auf Work-Life-Balance bei Nine to Five verweisend.
  13. The ‘Dual Circulation’ development model of China: Background and insights | Emerald Insight, abgerufen am 3. August 2021 (englisch)
  14. Jill Disis and CNN's Beijing bureau, CNN Business: China blasts '996' excessive work culture. Abgerufen am 28. August 2021.
  15. Wilfred Chan: Elon Musk praises Chinese workers for ‘burning the 3am oil’ – here’s what that really looks like. Guardian, 22. Mai 2022; (englisch).
  16. Christian Hensen: "Sie verlassen nicht einmal die Fabrik": Tesla-Mitarbeiter in China leiden, der Chef feiert's. Stern, 14. Mai 2022;.
  17. Edward White: China’s closed-loop crisis: ‘I’m human, not a machine’. Financial Times, 2. November 2022; (englisch).
  18. Annabelle Liang: China Covid: Area around world's biggest iPhone plant locked down. BBC, 2. November 2022; (englisch): „Foxconn said it had quadrupled its daily bonuses at the manufacturing hub after a breakout by workers during a Covid lockdown. [..] bonuses for assembly line workers will be raised to 400 yuan [..] a day. [..] people who worked for more than 25 days a month at the factory would be awarded a maximum bonus of 5,000 yuan, up from 1,500 yuan. [..] those who put in their "full effort" in November - without taking any leave - could be paid a total bonus of more than 15,000 yuan for the month.“
  19. Apple responds to iPhone factory criticism. BBC, 9. September 2019; (englisch).