Anatomie der Buchstaben

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Die Anatomie der Buchstaben („Schrift-Anatomie“) ist ein Teil der Mikrotypografie („Detailtypografie“) und beschreibt die Feinheiten bei der Gestaltung von Buchstaben. Wenn es um die Grundstruktur (dem „Körper“) eines Buchstabens geht, dann greifen Typografen auch auf das „Bild“ der Anatomie zurück.

Mikrotypografie und Schriftgestalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Mikrotypografie gibt es rund hundert Fachbegriffe, um die Formmerkmale („Einzelteile“) eines Buchstabens zu beschreiben:[1]

Linien geben dem Buchstaben wie ein „Skelett“ seine grundlegende Form:[2]

  • Grundstriche und Haarstriche: senkrechte, diagonale und waagerechte Strichelemente von Buchstaben können bei Schriften stark variieren. Dies trifft insbesondere für Antiqua-Schriften zu. Bei Grotesk-Schriften variieren sie meist nur minimal. Der aus unterschiedlichen Strichstärken resultierende „Charakterzug“ wird auch als Strichkontrast bezeichnet. In der Mikrotypografie spricht man bei den dünnsten Linien von einem Haarstrich und bei den dicksten Linien von einem Schattenstrich.
    • Ein vertikaler Schaft wird auch Stamm, Standstrich, Vertikalstrich oder Grundstrich genannt.
    • Für diagonale Schäfte wird auch der Begriff Diagonale verwendet.
    • Zwischen verschiedenen Schäften kann die Strichstärke variieren – auch innerhalb des gleichen Buchstabens (Glyphen), etwa bei den vier Schäften des Buchstabens W in einer Antiqua-Schrift.
  • Gerade horizontale Linien werden Balken, Querbalken, Querstriche oder Arme genannt, ein im Inneren des Schriftzeichens liegender Balken auch Innenbalken und der obere Balken beim T und Z auch Deckstrich.
  • Gerundete Linien werden je nach Art und Lage Bäuche, Bögen, Kurven, Kurvenbalken oder Schultern genannt.

„Dekorative“ Linienabschlüsse:[3]

  • An den Schaftansätzen und Schaftfüßen können je nach Schriftart Zierabschlüsse sein.
    • Bei Antiqua-Schriften sind die Zierabschlüsse Serifen. Als Serifen werden die Linien bezeichnet, welche einen Grundstrich als Ausläufer am Ende quer zu seinem Richtungsverlauf abschließen. Die abgerundete Ecke zwischen dem angrenzenden Strich und der Serife nennt man Kehlung.
    • In gebrochenen Schriften gibt es an den Schaftansätzen und Schaftfüßen Quadrangel (wörtlich „Vierecke“).
  • Der Anstrich ist ein verjüngter Strichansatz vor dem Grundstrich.
  • Der Endstrich ist ein verjüngtes Strichende, verbunden mit einer leichten Bogen nach oben (besonders bei kursiven Schriftarten).
  • Ein Tropfen oder ein Kugelende ist eine punktförmige Verdickung. Er bildet sich häufig im Bogen des r, f oder j. Beim 𝗴 heißt es Ohr.

Typometrie und Anatomie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Typometrie der römischen Versalien (im „Zweiliniensystem“ mit Grund- und Oberlinie) besteht aus Geraden und Rundungen, bzw. den Grundformen Quadrat, Dreieck und Kreis bzw. Halbkreis. Um heute digitale Buchstaben (Fonts) herzustellen, sind keine kalligrafischen Fähigkeiten mehr nötig, aber „anatomische“ Kenntnisse des einzelnen Buchstabens mit seinem „Grundgerüst und Extremitäten“.[4]

Die Großbuchstaben (Majuskeln) und die Kleinbuchstaben (Minuskeln) kann man in drei Gruppen einteilen:

  • Buchstaben mit senkrechten Schäften (Grundstrichen) und waagrechten Querstrichen („Balken“ / Bögen): E, F, H, I, L, T / f, h, i, j, l, m, n, r, t, u.
  • Buchstaben mit schrägen Schäften („Diagonalen“): A, K, M, N, V, W, X, Y, Z / k, v, w, x, y, z.
  • „Runde“ Buchstaben (oder mit Bögen / Kurven): B, C, D, G, J, O, P, Q, R, S, U / a, b, c, d, e, g, o, p, q, s.

Proportionen

Als erster beschreibt Feliciano (im Alphabetum Romanum) die grundlegende Proportion beim Versal-I: Zeichne die Figur in der Stärke des zehntel Teiles des Quadrates. Die Strichstärke zur Quadrathöhe ist damit 1:10 und ergibt „schlanke“ Buchstaben. Die heute üblichen Schriftarten haben ein Verhältnis von 1:7 bis 1:9. Weicht die Strichstärke weiter ab, ergibt es „magere“ oder fette Schriftschnitte. Der Grundstrich der Minuskeln ist etwas dünner als bei den Versalien.

Die Großbuchstaben „passen“ in der Breite in ein Quadrat oder in Teile davon: [5]

  • in das ganze Quadrat: A, O, Q und V – etwas größer: M und W;
  • in mehr als ein ¾ Quadrat: C, G, H, N, U, X, Y und Z;
  • in ein ¾ Quadrat: D, K und T;
  • in ein ½ Quadrat: B, E, F, J, L, P, R und S.
Proportionen der
Ober- und Unterlängen
bei Kurʃiven

Auf diesen Proportionen beruhen heute noch die geometrischen Groteskschriften wie die Futura. Die meisten Schriftarten gehen nicht von einem Kreis aus, sondern von einer Ellipse. Bei den kurʃiven Schriften haben die runden Kleinbuchstaben eine ovale Form (tropfenförmig).

Das Höhenverhältnis von Majuskeln zu Minuskeln beträgt oft 8:5, bei kurʃiven Schriften auch 10:5 oder mehr. Die Oberlängen von b, d, f, h, k und l sind etwas höher als die Majuskeln. Für einen Kalligrafie-Schreiber bedeutet dies: bei einer Federbreite von 1 mm sind die Kleinbuchstaben 5 mm hoch und die Großbuchstaben 8 mm. Dafür eignet sich ein kariertes Blatt. Die Oberlängen bei den kurʃiven Schriftarten (wie der Cancellaresca) wären dann 1 cm hoch oder höher.

Optischer Ausgleich

Buchstaben, die nur geometrisch-linear konstruiert werden, wirken zu klein. Je nach Strichstärke müssen die Querstriche und Bögen optisch ausgeglichen werden:[6]

  • beim A den Querstrich tiefer zeichnen, beim E , F und H den Mittelstrich etwas höher;
  • beim B , R und S den oberen Bogen etwas kleiner;
  • beim C , G , O , Q und U die Bögen leicht über die Grund- und Oberlinie;
  • beim A , M , V und W die Spitzen etwas über die Grund- oder Oberlinie.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Albert Kapr: Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben. Verlag der Kunst, Dresden 1971, Seite 299–311.
  • Karen Cheng: Anatomie der Buchstaben – Basiswissen für Schriftgestalter. Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2006.
  • Joep Pohlen: Letterfontäne – Anatomie der Buchstaben. Taschen-Verlag, Köln 2011, Seite 90–119.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. W. Beinert: Typolexikon – Buchstabe
  2. Claas Kalwa: Schriftgestaltung – Schrift-Anatomie
  3. Claas Kalwa: Schriftgestaltung – Schrift-Anatomie
  4. Claas Kalwa: Schriftgestaltung – Schrift-Anatomie
  5. Hans Kühne: Schriftschule, Seite 17 und Abb. 21 sowie Jose Parramon: Handbuch der Schriften, Seite 24.
  6. José M. Parramón: Das Handbuch der Schriften, Seite 24–32