Atmosphärischer Fluss

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Atmosphärischer Fluss am 20. Dez. 2010 vom Pazifik nach Kalifornien – Satellitenaufnahme von GEOS 11

Atmosphärische Flüsse (engl. atmospheric river, AR) ist die Bezeichnung für 400 bis 600 km breite und bis zu mehrere tausend km lange Bänder feuchtigkeitsgesättigter Luft aus den Äquatorialregionen in ca. 1 bis 2,5 km Höhe.[1][2] In ihnen findet der größte Teil des Feuchtigkeitstransports in der Atmosphäre außerhalb der Tropen statt.[3]

An der Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika sind solche Strömungen schon länger aufgrund ihrer Herkunft aus der tropischen Meeresregion beispielsweise im mittleren Pazifik und damit aus Hawaii als „Ananas-Express“ (engl. Pineapple Express)[4][2] bekannt.[1][5] Ein solcher „atmosphärischer Fluss“ bringt normalerweise drei bis fünf Tage heftigen Regens bzw. Schnees.[1]

In extremen Fällen können diese Bänder viel länger sein und sich über einen ganzen Ozean erstrecken.[1] Die Wassertransportrate eines solchen Bands kann nach Angaben der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) das 7,5- bis 15fache der durchschnittlichen Durchflussmenge des Mississippi River an seiner Mündung betragen;[4] die United States Geological Survey (USGA) hat 2010 hierfür das „Arkstorm“-Szenario modelliert.

Entdeckungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In den 1970ern wurden „Förderbänder von Feuchtigkeit“ in der Atmosphäre entdeckt.[6] Erst 1998 entdeckten Yong Zhu und Reginald E. Newell vom Massachusetts Institute of Technology durch die Auswertung von Daten des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersagen in Reading viel schmalere Bänder mit äußerst hohem Feuchtigkeitsgehalt.[7] Sie benannten[7] das Phänomen atmosphärische Flüsse.[4][8]

Zu jeder Zeit sind ungefähr fünf solcher atmosphärischen Flüsse in der Atmosphäre und transportieren dabei ca. 90 % der Luftfeuchtigkeit aus der Äquatorregion in die mittleren Breiten.[7] Jährlich treffen mindestens neun solcher Flüsse die kalifornische Küste[1] und transportieren dabei 30 bis 50 Prozent des Niederschlags, der insgesamt an der amerikanischen Westküste fällt.[4] Atmosphärische Flüsse entstehen auch über anderen Meeren als dem Pazifik.[1]

Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Seit der Entdeckung der atmosphärischen Flüsse werden sie durch Radar und Wettersatelliten überwacht. Modelle zum Feuchtigkeitstransport in der Atmosphäre enthalten nun ihre Daten und modellieren dementsprechend.

Großbritannien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Großbritannien war zwischen 1983 und 2013 im Durchschnitt von 9 bis 11 atmosphärischen Flüssen pro Jahr betroffen.[6]

2013 meldete das englische Institute of Physics basierend auf Forschungen der University of Reading und der University of Iowa die Untersuchung von Starkregen infolge von atmosphärischen Flüssen.[9][10] Hierzu wurden atmosphärische Flüsse zwischen 1980 und 2005 in fünf verschiedenen Klimamodellen nachgerechnet, um zu ermitteln, inwieweit diese Modelle dem Verlauf der tatsächlichen Ereignisse entsprachen.[9] Nachdem sich alle Modelle als geeignet erwiesen hatten, wurden zukünftige Ereignisse auf der Basis von zwei Szenarien berechnet. Alle fünf Modelle zeigten unter den Grundannahmen zwischen 2074 und 2099 ungefähr eine Verdopplung von atmosphärischen Flüssen mit Einfluss auf Großbritannien im Vergleich zur Periode von 1980 bis 2005.[9]

Nach neueren Untersuchungen konnten zwischen 1979 und 2011 acht von zehn Extremniederschlagvorfällen in Europa auf atmosphärische Flüsse zurückgeführt werden.[2]

Wirkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die meisten atmosphärischen Flüsse sind für den normalen, saisonal typischen Regenfall in verschiedenen Regionen verantwortlich. So tragen sie beispielsweise zu 30 bis 50 % zu den normalen Regenfällen an der US-Westküste bei.[3] Nur sehr starke und andauernde Flüsse führen zu Überschwemmungsereignissen.[3]

Durch atmosphärische Flüsse hervorgerufene Extremereignisse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Atmosphärische Flüsse gelten als Ursachen für verschiedene Extremereignisse. Das Earth System Research Laboratory der NOAA beschränkt sich auf Vorfälle, zu denen in rezipierten Fachmagazinenen Veröffentlichungen vorliegen, darunter:

11.–24. Februar 1986[11] Nord- und Zentralkalifornien Schwere Niederschläge mit Überflutungen, 13 Todesfälle, 50.000 Menschen mussten evakuiert werden. Ca. 400 Mio. USD Schaden.
29. Dezember 1996 – 4. Januar 1997[11] Nordkalifornien und westliches Nevada Schwere Niederschläge, die stellenweise ein Jahrhunderthochwasser verursachten, 2 Todesfälle und 120.000 Menschen evakuiert; 1,6 Mrd. USD Schaden
2.–3. Februar 1998[11] Küste von Zentralkalifornien und Santa Cruz Mountains Schwere regionale Niederschläge mit Überflutungen; die 6 Stunden vor dem Vorfall gegebene Wetterwarnung rettete vermutlich Menschenleben.
16. bis 18. Februar 2004[11] Nordkalifornien und das Becken des Russian River Schwere Niederschläge im Becken des Russian Rivers, der dadurch über mehrere Tage Rekordhochwasser führte.
7.–11. Januar 2005[11] Südkalifornien Schwere Regenfälle nördlich und östlich von Los Angeles, 14 Todesfälle und hunderte von Evakuierten; 200–300 Mio. USD Schaden
25.–27. März 2005[11] Westliches Oregon und westliches Washington State Schwere Regenfälle, die durch die vorhergegangene Dürreperiode nicht zu Überschwemmungen führte.
13.–14. September 2005[11] Westliches Norwegen Höchste jemals gemessene Niederschlagsmenge an einem Tage der Bergen-Florida-Wetterstation, Murenabgänge und 3 Todesfälle.
29. Dezember 2005 – 2. Januar 2006[11] Nordkalifornien Schwere Niederschläge am Russian River und im Napa Valley; Schäden in Höhe von 300 Mio. USD.
6.–7. November 2006[11] Westliches Washington und nördliches Oregon Schwere Niederschläge resultieren in Schäden, die auf 50 Mio. USD beziffert werden.
6.–8. Januar 2009[11] Westliches Washington Starkregen verursacht Schäden in Höhe von 125 Mio. USD, 30.000 Menschen zur Evakuierung aufgefordert.
13.–14. Oktober 2009[11] Nordkalifornien und Zentralkalifornien Schwere Regenfälle, die aufgrund der zuvor herrschenden Wetterbedingungen nicht zu Überflutungen führten; Schadenshöhe 10 Mio. USD.
17.–19. November 2009[12] Nördliches Großbritannien Schwere Regenfälle führen zu Überschwemmungen und fordern ein Menschenleben.[6]
5.–6. Februar 2010[11] Mittlere Atlantikküste der Vereinigten Staaten Der als Snowmageddon bezeichnete Wettervorfall, in dem über mehrere Staaten bis zu 1 m Schnee fiel, an vielen Orten auch in Rekordmengen, und Behörden zur Schließung zwang, zu großflächigen Stromausfällen und erheblichen Störungen im Verkehr führte.
Januar 2013 Schwere Überschwemmungen in Australien infolge des Zyklons Oswald

Arkstorm[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In extremen Fällen, wie sie ca. alle 200 Jahre auftreten, sind die Regenfälle aber nicht auf wenige Tage beschränkt, sondern dauern unter Umständen wochenlang an. Durch die Zusammenlegung zweier solcher Ereignisse, der „Ananas-Expresse“ der Jahre 1969 und 1986, erstellte eine Forschergruppe im Auftrag der United States Geological Survey (USGA) das Arkstorm-Szenario, in dem ein atmosphärischer Fluss 23 Tage Regen in Kalifornien bringt und geschätzte Schäden im Bereich von 700 Mrd. USD verursacht.[13][5] Berichte von 1861/62 sprechen von 45 Tagen ununterbrochenen, sintflutartigen Regenfällen.[1]

Wirtschaftliche Folgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Versicherungsindustrie bewertet Risiken, um ihre Aktuare mit den notwendigen Daten ausstatten zu können. 2015 bewertete nach einem Zeitschriftenbericht das Schweizer Versicherungsunternehmen Swiss Re atmosphärische Flüsse als eins der 21 größten Risiken der kommenden Jahre.[14]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Atmosphärische Flüsse – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g Michael D. Dettinger und B. Lynn Ingram (2013) Die nächste Sintflut, Spektrum der Wissenschaft 2013/4 (Memento des Originals vom 2. Februar 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/tenaya.ucsd.edu (PDF; 1,2 MB); Seite 74 ff.
  2. a b c Larry O’Hanlon, Most of Europe’s extreme rains caused by ‘rivers’ in the atmosphere; vom 19. Juli 2013; abgerufen am 16. Mai 2014.
  3. a b c Atmospheric River Information Page des Earth System Research Laboratory (ESRL) der National Oceanic & Atmospheric Administration (NOAA); abgerufen am 30. Januar 2014.
  4. a b c d Webseite des Earth System Research Laboratory der National Oceanic and Atmospheric Administration, abgerufen am 28. September 2013
  5. a b Andreas Frey (2011) Sintflut im Sonnenstaat, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Mai 2011
  6. a b c David Shukman, 'Rivers' in air could boost flooding; BBC News and Science; 25. Juli 2013.
  7. a b c Yong Zhu und Reginald E. Newell (1998) A proposed algorithm for moisture fluxes from atmospheric rivers. Monthly Weather Review, 126, 725–735.
  8. Philip Bethge (4. Februar 2013) Meer aus Schlamm; Der Spiegel 6/2013
  9. a b c Institute of Physics; Atmospheric rivers set to increase UK winter flooding, 24. Juli 2013.
  10. EnvironmentalResearchWeb; Atmospheric rivers set to increase UK winter flooding (Memento vom 1. Februar 2014 im Internet Archive), 1. August 2013.
  11. a b c d e f g h i j k l Liste von Extremereignissen, die durch atmosphärische Flüsse ausgelöst wurden, abgerufen am 29. September 2013
  12. CIMSS Satellite Blog der University of Wisconsin; Atmospheric river of moisture targets Britain and Ireland, abgerufen am 30. Januar 2014.
  13. Zusammenfassung des ArkStorm-Szenarios des U.S. Geological Survey aus: Keith Porter, Anne Wein, Charles Alpers, Allan Baez, Patrick Barnard, James Carter, Alessandra Corsi, James Costner, Dale Cox, Tapash Das, Michael Dettinger, James Done, Charles Eadie, Marcia Eymann, Justin Ferris, Prasad Gunturi, Mimi Hughes, Robert Jarrett, Laurie Johnson, Hanh Dam Le-Griffin, David Mitchell, Suzette Morman, Paul Neiman, Anna Olsen, Suzanne Perry, Geoffrey Plumlee, Martin Ralph, David Reynolds, Adam Rose, Kathleen Schaefer, Julie Serakos, William Siembieda, Jonathan Stock, David Strong, Ian Sue Wing, Alex Tang, Pete Thomas, Ken Topping, unter der Leitung von Chris Wills und Lucile Jones; Projektmanager Dale Cox (201) Overview of the ARkStorm scenario: U.S. Geological Survey Open-File Report 2010-1312, 183 Seiten zuzüglich Anhängen
  14. Die größten künftigen Risiken für die Versicherungsbranche im Versicherungsjournal vom 21. Mai 2015; abgerufen am 26. Mai 2015.