Ballet mécanique

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Film
Titel Ballet mécanique
Produktionsland Frankreich
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 1924
Länge 365 Meter, bei 20 BpS 16 Minuten
Stab
Regie Fernand Léger
Produktion André Charlot
Musik George Antheil
Kamera Dudley Murphy, Man Ray
Besetzung

Ballet mécanique (französisch für ‚Mechanisches Ballet‘) ist der Titel eines dadaistischen Stummfilms, den Fernand Léger mit dem amerikanischen Kameramann Dudley Murphy 1924 in Frankreich drehte.[1] Auch Man Ray war an dem Projekt beteiligt, zu dem George Antheil eigens eine Begleitmusik komponierte.

Gleichwohl wurde der Film stumm uraufgeführt, da Regisseur und Komponist sich nicht über die unterschiedlich langen Aufführungszeiten von Film und Filmmusik einigen konnten.[2] Er wurde auf der „Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik“ in Wien am 24. September 1924 von Friedrich Kiesler präsentiert und gilt heute als eines der Meisterwerke früher experimenteller Filmkunst.

Handlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu Beginn und am Ende des Films tanzt spielerisch ein kubistisch ausgeführter Charlot durchs Bild, sieht man Murphy’s Frau Katherine in ländlicher Umgebung auf einer Schaukel. Zwischen diesen wenigen Augenblicken der Ruhe hastet der Film in heftiger Bewegung von Bild zu Bild: Mit maschinenhafter Regelmäßigkeit tauchen Industriebilder von stoßenden Kolben, sich drehenden Cylindern und Turbinen auf; Küchengeräte, Flaschen, Uhrpendel, Beinprothesen und rein abstrakte Figuren wie Dreiecke und Kreise erscheinen und verschwinden wieder. Großaufnahmen der Augen von Man Rays Freundin Kiki de Montparnasse wechseln mit solchen von einem Frauenmund, der die Zähne zu einem Lächeln entblößt. In einer Sequenz steigt eine Waschfrau mit einem schweren Korb eine Treppe hinauf, um nie oben anzukommen: wie Sisyphus.

Der Entwurf für den sich wirbelartig drehenden Titel Synchro-Ciné présente, der den Film einleitet, entstammt einem 1917 entstandenen Bild von Francis Picabia, einem Freunde von Man Ray.[3]

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fernand Léger war im Ersten Weltkrieg Frontsoldat gewesen und hatte bereits im Feld Skizzen von Geschützen, Flugzeugen und von seinen Kameraden gezeichnet. Bei einem Urlaub entstand 1916 das Gemälde »Soldat mit Pfeife«. 1917 wurde er bei einem Gasangriff so schwer verwundet, dass er ein Jahr lang im Lazarett liegen musste. In dieser Zeit wurden die erschreckenden Wirkungen mechanischer Technologie zum Generalthema seiner Kunst.

Hier malte er das Ölbild »Die Kartenspieler«, dessen roboterhaft monströse Gestalten die Ambivalenz seiner Erfahrungen im Kriege widerspiegelten. Mit ihm begann seine „Mechanische Phase“, zu der auch “Ballet mécanique” gehört: sie kennzeichnet eine künstlerische Technik, die Dynamik und Abstraktion des Konstruktivismus mit dem Absurden und Regellosen des Dadaismus verbindet. Dieser Zug haftet “Ballet mécanique” von Anfang bis Ende an. Es ist der erste 'Film ohne Drehbuch’.[4]

Die Uraufführung wurde – auch im Vorspann des Films[5] – mit „Charlot présente le ballet mécanique“ eingeleitet; das spielt auf Charlie Chaplins Tramp-Figur an, die man in Frankreich als Charlot kannte. Eine in kubistischem Stil ausgeführte Charlot-Figur erscheint mehrmals im Film.[6] Außerdem hieß der Produzent André Charlot.[7]

Nach Erkenntnissen der Filmhistoriker war es Dudley Murphy, der die Herstellung des Filmes vorantrieb, während Léger sich lediglich als geschickter darin erwies, ihn als seine Leistung hinzustellen. Er ließ Murphys Namen sogar aus den credits des Vorspanns streichen.[8]

Soweit bekannt lief der Film nie in Paris.[9] In Deutschland wurde er 1925 in Berlin anlässlich der von der Künstler-Vereinigung Novembergruppe und der Filmfirma Universum Film AG UFA ausgerichteten Matinee »Der absolute Film« zusammen mit anderen Avantgardefilmen von René Clair, Hans Richter und Viking Eggeling unter dem Titel Images Mobiles aufgeführt.[10]

Überlieferung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im November 1975 fand Lillian Kiesler, Friedrich Kieslers zweite Ehefrau, die von Léger geschnittene, 16 Minuten dauernde 35 mm-Originalfassung des Films in einem Schrank ihres Wochenendhauses in den Hamptons auf Long Island unweit von New York City. Diese Fassung wurde von Anthology Film Archives restauriert und ist seither Bestandteil der Dokumentarfilmsammlung Unseen Cinema: Early American Avant-Garde Film 1893–1941, die im Oktober 2005 von Image Entertainment auf sieben DVDs in den Handel gebracht wurde.[11]

Die in der Cinémathèque française aufbewahrte Kopie hat eine Länge von 321 Metern.[12] Auch das Museum of Modern Art und das George Eastman House in Rochester N.Y. besitzen Kopien.

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Während der berliner Matinee wird der Film weniger ernsthaft rezipiert, da er zu den völlig abstrakten Filmen in Kontrast steht. Der große sowjetische Avantgarde-Filmemacher Sergei Eisenstein zeigt sich allerdings beeindruckt.“ (Fuchsgruber und Wissmann)

Légers Film „verbindet die gezeichnete geometrische Form mit fotografierten Fragmenten der Realität. Unter Verzicht auf jede Handlung entsteht ein rhythmisches Spiel der Objekte. Teilansichten von Gegenständen und Menschen werden in Grossaufnahmen zu symbolischen Ganzheiten.“ (Zglinicki S. 601)

Léger filmt alltägliche Gegenstände – Töpfe, Pfannen, Geschirr, Besteck etc. – derart, dass sie wie abstrakte Formen erscheinen und nicht mehr als vertraut empfunden werden. Der Zuschauer soll im Film von der ihn umgebenden Welt überrascht werden. Und tatsächlich sind die Zuschauer bei der Premiere überrascht und interessiert – für ungefähr zwei Minuten… „Nach fünf Minuten jedoch stellten sich ernsthafte Ermüdungserscheinungen ein, nach zehn Minuten versagten die Nerven den Dienst, und nach fünfzehn kam es zu lautem Protest“ (Jerzy Toeplitz: „Geschichte des Films“, Band I, S. 453).

Gegenständlicher, in der Ausarbeitung der wie zufällig wirkenden Collagen aus Fotos, Filmfragmenten und Animationen ähnlich „absolut“ sind René Clairs „Entr’acte“ und „Ballet Mécanique“ von Fernand Léger und Dudley Murphy. In den längsten Arbeiten der Kompilation eröffnet sich eine absurde Spielwiese der technischen Möglichkeiten: Zeitlupen, Überblendungen, rückwärts abgespielte, in extenso gedoppelte und eingefrorene Bilder bar jeglichen Sinnzusammenhangs zelebrieren Dada in Reinkultur. (Jörg Gerle, fd13/2008)

„Seine Logik entwickelt der Film aus der Kommunikation zwischen Natürlichem und Künstlichem, von Mensch und Maschine. Automatisierte Motoren, sich wiederholende Kreise und Dreiecke beginnen genauso zu tanzen wie leblose Beinprothesen. Innovativ ist der Film auch in Hinblick auf die Selbstreflexion des Mediums, wenn beispielsweise Léger und Murphy mit ihrer Kamera als Spiegelbild in einer Kugel zu erahnen sind: Vom Geschehenen wird abgelenkt und die Illusion offen gelegt.“[13]

“One of the most influential experimental works in the history of cinema.” (Circulating Film Library Catalogue at the Museum of Modern Art)

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Susan Delson: Dudley Murphy – Hollywood Wild Card. Univ. Of Minnesota Press 2006, ISBN 0-8166-4654-6.
  • Kate Fortmueller: Ballet Méchanique and film as art. online bei criticalcommons.org
  • Heinrich Fraenkel: Unsterblicher Film. Die grosse Chronik. Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm. Bildteil von Wilhelm Winckel. Kindler, München 1956.
  • Lukas Fuchsgruber, Theresa Wissmann: Das Ballet Mécanique von Fernand Léger und Dudley Murphy. online bei kunstwissenschaft.tu-berlin.de
  • Jörg Gerle: Der absolute Film. In: film-dienst. 13/2008. On line. bei unseen.cinema
  • Jan-Christopher Horak (Hrsg.): Lovers of Cinema. The First American Film Avant-garde, 1919–1945. (= Wisconsin studies in film). überarbeitete Ausgabe. Univ. of Wisconsin Press, 1995, ISBN 0-299-14684-7, S. 119–120, 122, 127–130, 133, 135, 215, 297, 332.
  • Mike Springer: Le Ballet Mécanique: The Historic Cinematic Collaboration Between Fernand Legér and George Antheil. In: Art, Film, Music. 4. September 2012. online bei openculture.com
  • Malcolm Turvey: The Filming of Modern Life: European Avant-Garde Film of the 1920s. Edition Kindle. The MIT Press, 28. Januar 2011.
  • Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films. Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer. Rembrandt Verlag, Berlin 1956.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. die Wortschöpfung Ballet mécanique kam bereits 1917 in der siebenten Ausgabe von Francis Picabias Zeitschrift „391“ vor, deren Titelblatt mit dem Wort ist abgebildet bei kunstwissenschaft.tu-berlin.de auf S. 1)
  2. Antheils Komposition dauert nahezu eine halbe Stunde, während der Film nur etwa 16 Minuten läuft; angeblich erklärt sich diese Differenz dadurch, dass auf Légers Betreiben aus dem Film Nacktszenen (Vgl. Horak S. 129 u. 135, Anm. 28) entfernt wurden. Antheil machte daraufhin aus seiner Filmmusik ein Konzertstück, das er im Juni 1926 in Paris vorstellte. Er gab ihm den Titel “Ballet Mécanique (Ballet pour Instruments Mécaniques et Percussion)”.
  3. vgl. Springer (2012): „The title of the film was actually taken from a 1917 piece by Man Ray’s friend, the Dadaist painter Francis Picabia.“
  4. „C’est le premier film sans scénario“ verkündet der Titelvorspann. Léger soll programmatisch geäußert haben: „l’erreur de la peinture c’est le sujet, l’erreur du cinéma c’est le scénario“, vgl. cineclubdecaen.com
  5. vgl. Fortmueller: „The next image is a title card proclaiming “Charlot présente le Ballet Méchanique.” While this card literally refers to producer André Charlot, “Charlot” is also the word for Chaplin’s character “the Tramp” in French“
  6. vgl. livekritik.de (Memento des Originals vom 28. Mai 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.livekritik.de: „Fernand Léger war zeitlebens ein großer Bewunderer Charlie Chaplins. „Im Gegensatz zu Douglas Fairbanks, bei dem man immer weiß, was er als nächstes tut, kann man bei Chaplin nur raten!“, äußert sich Léger begeistert über die amüsanten Volten des Tramps. In seinem Film „Ballet Mécanique“ – einem der Meilensteine des Experimentalfilms – setzt Léger Chaplin durch die Kreation einer tanzenden Holzpuppe, die er auf den Namen „Charlot cubiste“, also „kubistischer Tramp“ taufte, ein avantgardistisches Denkmal.“ (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster) 18. Juli 2015.
  7. 1882–1956, französischer Impresario, Schauspieler und Regisseur, vgl. IMDb.com
  8. vgl. Susan Delson: Dudley Murphy – Hollywood Wild Card. 2006, S. 188 f., und Mike Springer: Le Ballet Mécanique. 2012: „…when the film was released the autocratic Léger arranged to have Murphy edited out of the credits, despite the fact that Murphy was the one who basically made the film–much of it before Léger was even involved. All surviving versions of the film, including the one above, say simply ‚un film de Fernand Léger‘.“
  9. „…apparemment n'a jamais été projeté à Paris.“ (cineclubdecaen.com) – das meint wohl: zur Entstehungszeit 1924/25; laut Fuchsgruber und Wissmann wurde er nach 1926 auch in kleinen Pariser Filmkunstkinos gezeigt, z. B. im Studio Ursulines, dessen logo Léger entworfen hatte.
  10. „Le ballet mécanique fut présenté à Berlin en mai 1925 par les artistes expressionnistes du Groupe de Novembre organisant une matinée intitulée „le film absolu“. Outre le film de Léger, on y trouvait Entr'acte de René Clair, Rhythmus 21 et 23 de Hans Richter et Symphonie diagonale de Viking Eggeling.“, vgl. cineclubdecaen.com
  11. vgl. unseen-cinema.com, auch Horak S. 135 Anm. 26
  12. vgl. catalogue © La Cinémathèque française 2013; Fraenkel (S. 414) gibt eine Originallänge von 240 Metern an.
  13. moviepilot.com Rezension des Films bei moviepilot